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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Zeitgenossen gestaltet sich das Bild des früh¬
verstorbenen Spätromantikers und Übersetzers
Ernst Otto von der Malsburg. In seinem
Geist führte der Bruder Karl von der Mals¬
burg, der als Husarenoffizier im Dienste
Napoleons einst den Feldzug gegen Rußland
glücklich überstanden hatte und von den
Jugenderinnerungen an König Jörümes Präch¬
tigen Kasseler Hof Zeit seines Lebens zehrte,
früh verwitwet die Wirtschaft auf Schloß und
Gut Escheberg weiter und sah zahlreiche
Künstler und Literaten als freigebiger MKcen
in seinen Mauern um sich. Die Poetenstubo
unter dem Dache des Herrenhauses beher¬
bergte Dichter wie Emanuel Geibel und Fried¬
rich Bodeiistedt, Musiker wie Heinrich Marschner
oder Schauspieler wie Ludwig Gabillon, und
eine auserlesene, die Schätze der gesamten
Weltliteratur in schönen Einbänden vereini¬
gende Bibliothek fesselte auch die Forscher und
Gelehrten. Besonders wichtig sind die Nach¬
richten über Emanuel Geibels Aufenthalt, die
aus dem ergiebigen Familicnarchiv Heidelbach
uns beschert. Seine zarte, innige Liebe zu
der Tochter des Hauses Henriette wird durch
manche Briefe des Dichters willkommen er¬
läutert, und für die Chronologie einiger Ge¬
dichte ergeben sich bestimmte Anhaltspunkte.
In diesem Kapitel erblicke ich den wissen¬
schaftlichen Hauptwert des Buches. Doch vor
allem wohl außerhalb der Zunflkreise dürfte
es seine Leser finden, da auch der Humor in
der Gestalt des teutonisch-riesenhaften Bild¬
hauers Müller, des "Ur-Müllers", zu seinem
Rechte kommt. Ein von künstlerischem und
wissenschaftlichem Hauche durchwehter Land-
edelsitz, wie es ihn heute leider scheinbar nicht
mehr gibt!

In einem reizenden Bande sind die
"ErzKhlun"er und Märchen" von Eduard
Mörike erschienen (München 1913, Martin
Mörike. 267 Seiten 4°. Preis 3 M.). Wir
finden hier vereinigt das Versmärchen "Vom
sicheren Mann", die beiden Novellen "Der
Schatz" und "Mozart auf der Reise nach Prag",
sowie die drei Märchen "Der Bauer und sein
Sohn", "Die Hand der Jezerte" und "Das
Stuttgarter Hutzelmännlein" mit der einge¬
wobenen "Historie von der schönen Lau".
Robert Goeppinger hat siebenundachtzig fein
empfundene Zeichnungen beigesteuert, die

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liebevoll sich der traulichen Erzählungsart des
schwäbischen Meisters anschmiegen und be¬
sonders in der Novelle "Mozart auf der Reise
nach Prag" in intimer Stimmung kongenial
mitempfinden.

"Das Pathologische bei Otto Ludwig"
sucht Ernst Jentsch in einer medizinischen,
doch allgemein - verständlich geschriebenen
Studie festzustellen ("Grenzfragen des Nerven-
und Seelenlebens", herausgegeben von Dr.
L. Loewenfeld in München. Heft 9V. Wies¬
baden 1913, I. F. Bergmann. VI, 72 S.
gr. 8°). Er verfällt nicht, wie manche
Verfasser ähnlicher Arbeiten, in den Fehler,
alles Dichterische pathologisch zu nehmen;
vielmehr geht er feinfühlend auf die Art
des ohne Zweifel neuropathisch veran¬
lagten Dichters ein, und besonders die Ana¬
lyse des Romans "Zwischen Himmel und
Erde" ist vorzüglich gelungen. Doch krankt
die ganze Untersuchung, wie der Verfasser
selbst zugeben muß, an einem methodischen
Fehlerz eine genaue Begriffsbestimmung:
Was ist pathologisch? Wo hört der normale
Mensch auf, und wo fängt das abnorme
Denken und Fühlen an? kann Jentsch auch
nicht geben und sucht darüber mit meines
Erachtens zu großer Leichtigkeit hinwegzu¬
gehen. Denn so fehlen vollkommen die
Grundlagen für seine Darlegung des "Patho¬
logischen" in Ludwigs Werken, und eine
Diskussion über strittige Punkte ist unmöglich,
da ein einheitlicher Boden nicht da ist, von
dem man ausgehen könnte.

Wohl die wertvollste Bereicherung der
literaturwissenschaftlichen Literatur dieses Be¬
richtes ist die Publikation von Friedrich Hirth,,
"Ans Friedrich Helibels Korrespondenz"
(Ungedruckte Briefe von und an den Dich¬
ter nebst Beiträgen zur Textkritik einzelner
Werke. München und Leipzig 1913, Georg
Müller. 180 S. 8°). Über das Verhältnis
dieser Schrift zu dem Aufsatz von A. M.
Wagner, "Friedrich Hebbel und sein Verleger".
in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift
1913, Heft 4 (S. 177--193), der dasselbe
Material verwendet, aber nichts über dessen
Herkunft mitteilt, bin ich mir nicht klar.
Dem Herausgeber ist es geglückt, in einer
wertvollen Privaten Autographen-Sammlung
wichtige Briefe Hebbels an seinen Verleger

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Zeitgenossen gestaltet sich das Bild des früh¬
verstorbenen Spätromantikers und Übersetzers
Ernst Otto von der Malsburg. In seinem
Geist führte der Bruder Karl von der Mals¬
burg, der als Husarenoffizier im Dienste
Napoleons einst den Feldzug gegen Rußland
glücklich überstanden hatte und von den
Jugenderinnerungen an König Jörümes Präch¬
tigen Kasseler Hof Zeit seines Lebens zehrte,
früh verwitwet die Wirtschaft auf Schloß und
Gut Escheberg weiter und sah zahlreiche
Künstler und Literaten als freigebiger MKcen
in seinen Mauern um sich. Die Poetenstubo
unter dem Dache des Herrenhauses beher¬
bergte Dichter wie Emanuel Geibel und Fried¬
rich Bodeiistedt, Musiker wie Heinrich Marschner
oder Schauspieler wie Ludwig Gabillon, und
eine auserlesene, die Schätze der gesamten
Weltliteratur in schönen Einbänden vereini¬
gende Bibliothek fesselte auch die Forscher und
Gelehrten. Besonders wichtig sind die Nach¬
richten über Emanuel Geibels Aufenthalt, die
aus dem ergiebigen Familicnarchiv Heidelbach
uns beschert. Seine zarte, innige Liebe zu
der Tochter des Hauses Henriette wird durch
manche Briefe des Dichters willkommen er¬
läutert, und für die Chronologie einiger Ge¬
dichte ergeben sich bestimmte Anhaltspunkte.
In diesem Kapitel erblicke ich den wissen¬
schaftlichen Hauptwert des Buches. Doch vor
allem wohl außerhalb der Zunflkreise dürfte
es seine Leser finden, da auch der Humor in
der Gestalt des teutonisch-riesenhaften Bild¬
hauers Müller, des „Ur-Müllers", zu seinem
Rechte kommt. Ein von künstlerischem und
wissenschaftlichem Hauche durchwehter Land-
edelsitz, wie es ihn heute leider scheinbar nicht
mehr gibt!

In einem reizenden Bande sind die
„ErzKhlun»er und Märchen" von Eduard
Mörike erschienen (München 1913, Martin
Mörike. 267 Seiten 4°. Preis 3 M.). Wir
finden hier vereinigt das Versmärchen „Vom
sicheren Mann", die beiden Novellen „Der
Schatz" und „Mozart auf der Reise nach Prag",
sowie die drei Märchen „Der Bauer und sein
Sohn", „Die Hand der Jezerte" und „Das
Stuttgarter Hutzelmännlein" mit der einge¬
wobenen „Historie von der schönen Lau".
Robert Goeppinger hat siebenundachtzig fein
empfundene Zeichnungen beigesteuert, die

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liebevoll sich der traulichen Erzählungsart des
schwäbischen Meisters anschmiegen und be¬
sonders in der Novelle „Mozart auf der Reise
nach Prag" in intimer Stimmung kongenial
mitempfinden.

„Das Pathologische bei Otto Ludwig"
sucht Ernst Jentsch in einer medizinischen,
doch allgemein - verständlich geschriebenen
Studie festzustellen („Grenzfragen des Nerven-
und Seelenlebens", herausgegeben von Dr.
L. Loewenfeld in München. Heft 9V. Wies¬
baden 1913, I. F. Bergmann. VI, 72 S.
gr. 8°). Er verfällt nicht, wie manche
Verfasser ähnlicher Arbeiten, in den Fehler,
alles Dichterische pathologisch zu nehmen;
vielmehr geht er feinfühlend auf die Art
des ohne Zweifel neuropathisch veran¬
lagten Dichters ein, und besonders die Ana¬
lyse des Romans „Zwischen Himmel und
Erde" ist vorzüglich gelungen. Doch krankt
die ganze Untersuchung, wie der Verfasser
selbst zugeben muß, an einem methodischen
Fehlerz eine genaue Begriffsbestimmung:
Was ist pathologisch? Wo hört der normale
Mensch auf, und wo fängt das abnorme
Denken und Fühlen an? kann Jentsch auch
nicht geben und sucht darüber mit meines
Erachtens zu großer Leichtigkeit hinwegzu¬
gehen. Denn so fehlen vollkommen die
Grundlagen für seine Darlegung des „Patho¬
logischen" in Ludwigs Werken, und eine
Diskussion über strittige Punkte ist unmöglich,
da ein einheitlicher Boden nicht da ist, von
dem man ausgehen könnte.

Wohl die wertvollste Bereicherung der
literaturwissenschaftlichen Literatur dieses Be¬
richtes ist die Publikation von Friedrich Hirth,,
„Ans Friedrich Helibels Korrespondenz"
(Ungedruckte Briefe von und an den Dich¬
ter nebst Beiträgen zur Textkritik einzelner
Werke. München und Leipzig 1913, Georg
Müller. 180 S. 8°). Über das Verhältnis
dieser Schrift zu dem Aufsatz von A. M.
Wagner, „Friedrich Hebbel und sein Verleger".
in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift
1913, Heft 4 (S. 177—193), der dasselbe
Material verwendet, aber nichts über dessen
Herkunft mitteilt, bin ich mir nicht klar.
Dem Herausgeber ist es geglückt, in einer
wertvollen Privaten Autographen-Sammlung
wichtige Briefe Hebbels an seinen Verleger

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[0202] Maßgebliches und Unmaßgebliches Zeitgenossen gestaltet sich das Bild des früh¬ verstorbenen Spätromantikers und Übersetzers Ernst Otto von der Malsburg. In seinem Geist führte der Bruder Karl von der Mals¬ burg, der als Husarenoffizier im Dienste Napoleons einst den Feldzug gegen Rußland glücklich überstanden hatte und von den Jugenderinnerungen an König Jörümes Präch¬ tigen Kasseler Hof Zeit seines Lebens zehrte, früh verwitwet die Wirtschaft auf Schloß und Gut Escheberg weiter und sah zahlreiche Künstler und Literaten als freigebiger MKcen in seinen Mauern um sich. Die Poetenstubo unter dem Dache des Herrenhauses beher¬ bergte Dichter wie Emanuel Geibel und Fried¬ rich Bodeiistedt, Musiker wie Heinrich Marschner oder Schauspieler wie Ludwig Gabillon, und eine auserlesene, die Schätze der gesamten Weltliteratur in schönen Einbänden vereini¬ gende Bibliothek fesselte auch die Forscher und Gelehrten. Besonders wichtig sind die Nach¬ richten über Emanuel Geibels Aufenthalt, die aus dem ergiebigen Familicnarchiv Heidelbach uns beschert. Seine zarte, innige Liebe zu der Tochter des Hauses Henriette wird durch manche Briefe des Dichters willkommen er¬ läutert, und für die Chronologie einiger Ge¬ dichte ergeben sich bestimmte Anhaltspunkte. In diesem Kapitel erblicke ich den wissen¬ schaftlichen Hauptwert des Buches. Doch vor allem wohl außerhalb der Zunflkreise dürfte es seine Leser finden, da auch der Humor in der Gestalt des teutonisch-riesenhaften Bild¬ hauers Müller, des „Ur-Müllers", zu seinem Rechte kommt. Ein von künstlerischem und wissenschaftlichem Hauche durchwehter Land- edelsitz, wie es ihn heute leider scheinbar nicht mehr gibt! In einem reizenden Bande sind die „ErzKhlun»er und Märchen" von Eduard Mörike erschienen (München 1913, Martin Mörike. 267 Seiten 4°. Preis 3 M.). Wir finden hier vereinigt das Versmärchen „Vom sicheren Mann", die beiden Novellen „Der Schatz" und „Mozart auf der Reise nach Prag", sowie die drei Märchen „Der Bauer und sein Sohn", „Die Hand der Jezerte" und „Das Stuttgarter Hutzelmännlein" mit der einge¬ wobenen „Historie von der schönen Lau". Robert Goeppinger hat siebenundachtzig fein empfundene Zeichnungen beigesteuert, die liebevoll sich der traulichen Erzählungsart des schwäbischen Meisters anschmiegen und be¬ sonders in der Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag" in intimer Stimmung kongenial mitempfinden. „Das Pathologische bei Otto Ludwig" sucht Ernst Jentsch in einer medizinischen, doch allgemein - verständlich geschriebenen Studie festzustellen („Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens", herausgegeben von Dr. L. Loewenfeld in München. Heft 9V. Wies¬ baden 1913, I. F. Bergmann. VI, 72 S. gr. 8°). Er verfällt nicht, wie manche Verfasser ähnlicher Arbeiten, in den Fehler, alles Dichterische pathologisch zu nehmen; vielmehr geht er feinfühlend auf die Art des ohne Zweifel neuropathisch veran¬ lagten Dichters ein, und besonders die Ana¬ lyse des Romans „Zwischen Himmel und Erde" ist vorzüglich gelungen. Doch krankt die ganze Untersuchung, wie der Verfasser selbst zugeben muß, an einem methodischen Fehlerz eine genaue Begriffsbestimmung: Was ist pathologisch? Wo hört der normale Mensch auf, und wo fängt das abnorme Denken und Fühlen an? kann Jentsch auch nicht geben und sucht darüber mit meines Erachtens zu großer Leichtigkeit hinwegzu¬ gehen. Denn so fehlen vollkommen die Grundlagen für seine Darlegung des „Patho¬ logischen" in Ludwigs Werken, und eine Diskussion über strittige Punkte ist unmöglich, da ein einheitlicher Boden nicht da ist, von dem man ausgehen könnte. Wohl die wertvollste Bereicherung der literaturwissenschaftlichen Literatur dieses Be¬ richtes ist die Publikation von Friedrich Hirth,, „Ans Friedrich Helibels Korrespondenz" (Ungedruckte Briefe von und an den Dich¬ ter nebst Beiträgen zur Textkritik einzelner Werke. München und Leipzig 1913, Georg Müller. 180 S. 8°). Über das Verhältnis dieser Schrift zu dem Aufsatz von A. M. Wagner, „Friedrich Hebbel und sein Verleger". in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift 1913, Heft 4 (S. 177—193), der dasselbe Material verwendet, aber nichts über dessen Herkunft mitteilt, bin ich mir nicht klar. Dem Herausgeber ist es geglückt, in einer wertvollen Privaten Autographen-Sammlung wichtige Briefe Hebbels an seinen Verleger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/202>, abgerufen am 30.06.2024.