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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Über Legendenbildung in der Geschichte

Legendengestalten vor allem ethische, ästhetische, pädagogische Interessen mit,
aber man ist sich deren nicht bewußt, man hält sie auch für "wahr". Dem¬
gegenüber erhebt sich nun die kritische Wissenschaft und zerstört nur allzuoft
den heroischen Nimbus, der jene Legendengestalten umgibt, indem sie in An¬
spruch nimmt, ihrerseits die reine ungetrübte "Wahrheit" zu geben. Besteht
nun dieser Anspruch zu recht? Geht es wirklich an, jene Legendenhelden in
den Orkus zu verweisen im Namen der reinen historischen Wahrheit?

Nein, wir müssen feststellen, daß die historische Wirklichkeit ein "Grenz¬
begriff" ist, wie ihn die Mathematik verwendet, das heißt etwas, dem man
zwar näherkommen, das man aber nie erreichen kann. Auch das "kritische"
Bild Napoleons. gibt ihn nicht ganz, sondern liefert uns nur eine Hilfs¬
konstruktion, um die Gesamtheit der mit jenem Namen verknüpften Fakta zu
ordnen und zu vereinheitlichen. Im Grunde also ist das kritisch geläuterte Bild
einer historischen Person nur gradweise, nicht wesentlich verschieden von der
Legendengestalt, wie sie im Volke lebt und unkritisch von Generation zu
Generation sich weiter vererbt. Die kritische Darstellung ist weniger schematisiert,
aber schematisiert ist sie auch noch und eine vollständige Kopie der Wirklichkeit
kann sie niemals werden. Sie ist eine Konstruktion, die dazu dient, die
verschiedenen historischen Tatsachen in möglichst unanfechtbaren, ursächlichen
Zusammenhang zu bringen. Das ist alles.

Nun aber besteht die eigentümliche Tatsache, daß für die meisten Zwecke
des Lebens eine genau in allen Einzelheiten ausgeführte Charakteristik weniger
brauchbar ist als eine völlig idealisierte, schematische Darstellung, so etwa wie
es unsere Legendenbilder sind. Mancher, der Kosers dicke Bände über Friedrich
den Großen gelesen hat, wird vielleicht finden, daß die Einheitlichkeit seines
Bildes eher abgenommen als zugenommen hat, daß als historische Erklärung
für Laienzwecke jenes Legendenbild viel bessere Dienste tat. Für den Laien
ist jener große König, den er aus Anekdoten kennt, viel verständlicher und
brauchbarer als der komplizierte, durchaus nicht in jedem Augenblick heroische und
oft sogar moralisch angreifbare Monarch, als der Friedrich sich dem genaueren
Hinsehen darstellt. Man hat darum ausgesprochen, jener "Anekdotenkönig"
sei ebenfalls von einer zwar unhistorischen, aber im gewissen Sinne "höheren"
Wahrheit, was vielleicht nicht einmal ganz abzuweisen ist. Er ist so wahr,
wie eine idealisierte Büste "wahr" ist, die auf historische Exaktheit verzichtet,
um gewisse große Züge herauszuarbeiten, die dem nur von weitem schauenden
Auge sich deutlich darstellen.

Der geistreiche A. Hildebrand hat die Theorie aufgestellt, die wahre
Anschauung für die Kunst sei das "Fernbild", bei der sich erst das Wesen des
Gegenstandes ganz enthülle. Es ist etwas Richtiges daran, und als Fernbilder
in diesem Sinne gesehen sind jene Legendenhelden.

Es kommt also für die historische "Wahrheit" auch gar nicht daraus an,
daß sie in allen Einzelheiten verbürgt ist, nur das ist wichtig, daß die Gesäme-


Über Legendenbildung in der Geschichte

Legendengestalten vor allem ethische, ästhetische, pädagogische Interessen mit,
aber man ist sich deren nicht bewußt, man hält sie auch für „wahr". Dem¬
gegenüber erhebt sich nun die kritische Wissenschaft und zerstört nur allzuoft
den heroischen Nimbus, der jene Legendengestalten umgibt, indem sie in An¬
spruch nimmt, ihrerseits die reine ungetrübte „Wahrheit" zu geben. Besteht
nun dieser Anspruch zu recht? Geht es wirklich an, jene Legendenhelden in
den Orkus zu verweisen im Namen der reinen historischen Wahrheit?

Nein, wir müssen feststellen, daß die historische Wirklichkeit ein „Grenz¬
begriff" ist, wie ihn die Mathematik verwendet, das heißt etwas, dem man
zwar näherkommen, das man aber nie erreichen kann. Auch das „kritische"
Bild Napoleons. gibt ihn nicht ganz, sondern liefert uns nur eine Hilfs¬
konstruktion, um die Gesamtheit der mit jenem Namen verknüpften Fakta zu
ordnen und zu vereinheitlichen. Im Grunde also ist das kritisch geläuterte Bild
einer historischen Person nur gradweise, nicht wesentlich verschieden von der
Legendengestalt, wie sie im Volke lebt und unkritisch von Generation zu
Generation sich weiter vererbt. Die kritische Darstellung ist weniger schematisiert,
aber schematisiert ist sie auch noch und eine vollständige Kopie der Wirklichkeit
kann sie niemals werden. Sie ist eine Konstruktion, die dazu dient, die
verschiedenen historischen Tatsachen in möglichst unanfechtbaren, ursächlichen
Zusammenhang zu bringen. Das ist alles.

Nun aber besteht die eigentümliche Tatsache, daß für die meisten Zwecke
des Lebens eine genau in allen Einzelheiten ausgeführte Charakteristik weniger
brauchbar ist als eine völlig idealisierte, schematische Darstellung, so etwa wie
es unsere Legendenbilder sind. Mancher, der Kosers dicke Bände über Friedrich
den Großen gelesen hat, wird vielleicht finden, daß die Einheitlichkeit seines
Bildes eher abgenommen als zugenommen hat, daß als historische Erklärung
für Laienzwecke jenes Legendenbild viel bessere Dienste tat. Für den Laien
ist jener große König, den er aus Anekdoten kennt, viel verständlicher und
brauchbarer als der komplizierte, durchaus nicht in jedem Augenblick heroische und
oft sogar moralisch angreifbare Monarch, als der Friedrich sich dem genaueren
Hinsehen darstellt. Man hat darum ausgesprochen, jener „Anekdotenkönig"
sei ebenfalls von einer zwar unhistorischen, aber im gewissen Sinne „höheren"
Wahrheit, was vielleicht nicht einmal ganz abzuweisen ist. Er ist so wahr,
wie eine idealisierte Büste „wahr" ist, die auf historische Exaktheit verzichtet,
um gewisse große Züge herauszuarbeiten, die dem nur von weitem schauenden
Auge sich deutlich darstellen.

Der geistreiche A. Hildebrand hat die Theorie aufgestellt, die wahre
Anschauung für die Kunst sei das „Fernbild", bei der sich erst das Wesen des
Gegenstandes ganz enthülle. Es ist etwas Richtiges daran, und als Fernbilder
in diesem Sinne gesehen sind jene Legendenhelden.

Es kommt also für die historische „Wahrheit" auch gar nicht daraus an,
daß sie in allen Einzelheiten verbürgt ist, nur das ist wichtig, daß die Gesäme-


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[0177] Über Legendenbildung in der Geschichte Legendengestalten vor allem ethische, ästhetische, pädagogische Interessen mit, aber man ist sich deren nicht bewußt, man hält sie auch für „wahr". Dem¬ gegenüber erhebt sich nun die kritische Wissenschaft und zerstört nur allzuoft den heroischen Nimbus, der jene Legendengestalten umgibt, indem sie in An¬ spruch nimmt, ihrerseits die reine ungetrübte „Wahrheit" zu geben. Besteht nun dieser Anspruch zu recht? Geht es wirklich an, jene Legendenhelden in den Orkus zu verweisen im Namen der reinen historischen Wahrheit? Nein, wir müssen feststellen, daß die historische Wirklichkeit ein „Grenz¬ begriff" ist, wie ihn die Mathematik verwendet, das heißt etwas, dem man zwar näherkommen, das man aber nie erreichen kann. Auch das „kritische" Bild Napoleons. gibt ihn nicht ganz, sondern liefert uns nur eine Hilfs¬ konstruktion, um die Gesamtheit der mit jenem Namen verknüpften Fakta zu ordnen und zu vereinheitlichen. Im Grunde also ist das kritisch geläuterte Bild einer historischen Person nur gradweise, nicht wesentlich verschieden von der Legendengestalt, wie sie im Volke lebt und unkritisch von Generation zu Generation sich weiter vererbt. Die kritische Darstellung ist weniger schematisiert, aber schematisiert ist sie auch noch und eine vollständige Kopie der Wirklichkeit kann sie niemals werden. Sie ist eine Konstruktion, die dazu dient, die verschiedenen historischen Tatsachen in möglichst unanfechtbaren, ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Das ist alles. Nun aber besteht die eigentümliche Tatsache, daß für die meisten Zwecke des Lebens eine genau in allen Einzelheiten ausgeführte Charakteristik weniger brauchbar ist als eine völlig idealisierte, schematische Darstellung, so etwa wie es unsere Legendenbilder sind. Mancher, der Kosers dicke Bände über Friedrich den Großen gelesen hat, wird vielleicht finden, daß die Einheitlichkeit seines Bildes eher abgenommen als zugenommen hat, daß als historische Erklärung für Laienzwecke jenes Legendenbild viel bessere Dienste tat. Für den Laien ist jener große König, den er aus Anekdoten kennt, viel verständlicher und brauchbarer als der komplizierte, durchaus nicht in jedem Augenblick heroische und oft sogar moralisch angreifbare Monarch, als der Friedrich sich dem genaueren Hinsehen darstellt. Man hat darum ausgesprochen, jener „Anekdotenkönig" sei ebenfalls von einer zwar unhistorischen, aber im gewissen Sinne „höheren" Wahrheit, was vielleicht nicht einmal ganz abzuweisen ist. Er ist so wahr, wie eine idealisierte Büste „wahr" ist, die auf historische Exaktheit verzichtet, um gewisse große Züge herauszuarbeiten, die dem nur von weitem schauenden Auge sich deutlich darstellen. Der geistreiche A. Hildebrand hat die Theorie aufgestellt, die wahre Anschauung für die Kunst sei das „Fernbild", bei der sich erst das Wesen des Gegenstandes ganz enthülle. Es ist etwas Richtiges daran, und als Fernbilder in diesem Sinne gesehen sind jene Legendenhelden. Es kommt also für die historische „Wahrheit" auch gar nicht daraus an, daß sie in allen Einzelheiten verbürgt ist, nur das ist wichtig, daß die Gesäme-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/177>, abgerufen am 25.07.2024.