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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Über Legendenbildung in der Geschichte

Vorstellung etwa einer historischen Persönlichkeit sich so darstellt, "als ob" sie
wahr wäre.

Nun aber hat, wie ich schon oben zeigte, die historische Legende ganz
andere Zwecke als rein wissenschaftliche, auf Erkenntnis gerichtete. Man verlangt
von den historischen Darstellungen auch ästhetische, ethische, pädagogische Wir¬
kungen und diese haben denn auch bei der Ausgestaltung jener Legende genügend
sich geltend gemacht, und wer weiß, ob sie vom allgemeinen Standpunkte
aus nicht wertvoller sind als jene rein wissenschaftlichen. Vielleicht führen wir
sogar heutzutage zuviel kritische Wissenschaft in unsere Schulen ein, wenn man
die Geschichte als pädagogisches Mittel betrachtet. In einem glühenden Jugend¬
werk hat Friedrich Nietzsche einmal die allzugroße "Wissenschaftlichkeit" der Ge¬
schichte bekämpft und in der Tat liegt hier ein großes Problem.

Dieses Problem aber heißt: soll man die historische Legendenbildung
fördern oder hemmen? Man wird leicht einsehen, daß mit wenigen Worten
hier eine Entscheidung nicht getroffen werden kann. Beide Bestrebungen be¬
stehen nebeneinander in der Gegenwart. Einerseits haben wir die von der
Wissenschaft ausgehende Zersetzung der Legende, die kritische Haltung, die oft
bedenklich an jenen Kammerdienerstandpunkt erinnert, von dem aus gesehen
bekanntlich niemand ein Held ist. Anderseits gibt es auch andere Be¬
strebungen; nicht nur die naive unkritische Bewunderung der Masse, auch nicht
bloß die von oben her im dynastischen Interesse betriebene Färbung, sondern
eine bewußte Idealisierung, die jenen Kammerdienerstandpunkt bewußt ablehnt,
mit der Begründung, die schon Hegel gefunden und die Goethe später
wiederholt hat: Nur darum sei der Held in den Augen seines Kammerdieners
kein Held, weil eben der Kammerdiener ein Kammerdiener, nicht aber, weil der
Held kein Held ist.

Man wird durch eine Entscheidung pro oder contra hier nichts erreichen.
Beide Bestrebungen, die zur kritischen "Wahrheit" und die zur idealisierenden
Legende, entspringen tieferen Bedürfnissen der Menschennatur und werden
darum immer von neuem aufkommen, wie oft man sie auch totschlägt. Es
kommt nur darauf an, an richtiger Stelle beide Arten von "Wahrheit" zu
verwenden.




Will man den Wert der verschiedenen historischen Wahrheiten, der kritischen
einerseits und der summarischen, von ästhetischen, ethischen und pädagogischen
Gesichtspunkten beeinflußten "legendarischen" Anschauung anderseits, gegenein¬
ander abschätzen, so wird man wohl zu dem Schlüsse kommen, daß an Lebens¬
werten vielleicht doch die legendarische reicher ist, und daß diese sich immer auch
halten wird, trotz aller Wissenschaft. Und trotzdem kann auch diese ihren Lebens¬
wert haben und zwar vor allem als Korrektur der Legende an solchen Stellen,
wo diese zum Schaden wird. Denn ist die Legende von größtem Nutzen,


Über Legendenbildung in der Geschichte

Vorstellung etwa einer historischen Persönlichkeit sich so darstellt, „als ob" sie
wahr wäre.

Nun aber hat, wie ich schon oben zeigte, die historische Legende ganz
andere Zwecke als rein wissenschaftliche, auf Erkenntnis gerichtete. Man verlangt
von den historischen Darstellungen auch ästhetische, ethische, pädagogische Wir¬
kungen und diese haben denn auch bei der Ausgestaltung jener Legende genügend
sich geltend gemacht, und wer weiß, ob sie vom allgemeinen Standpunkte
aus nicht wertvoller sind als jene rein wissenschaftlichen. Vielleicht führen wir
sogar heutzutage zuviel kritische Wissenschaft in unsere Schulen ein, wenn man
die Geschichte als pädagogisches Mittel betrachtet. In einem glühenden Jugend¬
werk hat Friedrich Nietzsche einmal die allzugroße „Wissenschaftlichkeit" der Ge¬
schichte bekämpft und in der Tat liegt hier ein großes Problem.

Dieses Problem aber heißt: soll man die historische Legendenbildung
fördern oder hemmen? Man wird leicht einsehen, daß mit wenigen Worten
hier eine Entscheidung nicht getroffen werden kann. Beide Bestrebungen be¬
stehen nebeneinander in der Gegenwart. Einerseits haben wir die von der
Wissenschaft ausgehende Zersetzung der Legende, die kritische Haltung, die oft
bedenklich an jenen Kammerdienerstandpunkt erinnert, von dem aus gesehen
bekanntlich niemand ein Held ist. Anderseits gibt es auch andere Be¬
strebungen; nicht nur die naive unkritische Bewunderung der Masse, auch nicht
bloß die von oben her im dynastischen Interesse betriebene Färbung, sondern
eine bewußte Idealisierung, die jenen Kammerdienerstandpunkt bewußt ablehnt,
mit der Begründung, die schon Hegel gefunden und die Goethe später
wiederholt hat: Nur darum sei der Held in den Augen seines Kammerdieners
kein Held, weil eben der Kammerdiener ein Kammerdiener, nicht aber, weil der
Held kein Held ist.

Man wird durch eine Entscheidung pro oder contra hier nichts erreichen.
Beide Bestrebungen, die zur kritischen „Wahrheit" und die zur idealisierenden
Legende, entspringen tieferen Bedürfnissen der Menschennatur und werden
darum immer von neuem aufkommen, wie oft man sie auch totschlägt. Es
kommt nur darauf an, an richtiger Stelle beide Arten von „Wahrheit" zu
verwenden.




Will man den Wert der verschiedenen historischen Wahrheiten, der kritischen
einerseits und der summarischen, von ästhetischen, ethischen und pädagogischen
Gesichtspunkten beeinflußten „legendarischen" Anschauung anderseits, gegenein¬
ander abschätzen, so wird man wohl zu dem Schlüsse kommen, daß an Lebens¬
werten vielleicht doch die legendarische reicher ist, und daß diese sich immer auch
halten wird, trotz aller Wissenschaft. Und trotzdem kann auch diese ihren Lebens¬
wert haben und zwar vor allem als Korrektur der Legende an solchen Stellen,
wo diese zum Schaden wird. Denn ist die Legende von größtem Nutzen,


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[0178] Über Legendenbildung in der Geschichte Vorstellung etwa einer historischen Persönlichkeit sich so darstellt, „als ob" sie wahr wäre. Nun aber hat, wie ich schon oben zeigte, die historische Legende ganz andere Zwecke als rein wissenschaftliche, auf Erkenntnis gerichtete. Man verlangt von den historischen Darstellungen auch ästhetische, ethische, pädagogische Wir¬ kungen und diese haben denn auch bei der Ausgestaltung jener Legende genügend sich geltend gemacht, und wer weiß, ob sie vom allgemeinen Standpunkte aus nicht wertvoller sind als jene rein wissenschaftlichen. Vielleicht führen wir sogar heutzutage zuviel kritische Wissenschaft in unsere Schulen ein, wenn man die Geschichte als pädagogisches Mittel betrachtet. In einem glühenden Jugend¬ werk hat Friedrich Nietzsche einmal die allzugroße „Wissenschaftlichkeit" der Ge¬ schichte bekämpft und in der Tat liegt hier ein großes Problem. Dieses Problem aber heißt: soll man die historische Legendenbildung fördern oder hemmen? Man wird leicht einsehen, daß mit wenigen Worten hier eine Entscheidung nicht getroffen werden kann. Beide Bestrebungen be¬ stehen nebeneinander in der Gegenwart. Einerseits haben wir die von der Wissenschaft ausgehende Zersetzung der Legende, die kritische Haltung, die oft bedenklich an jenen Kammerdienerstandpunkt erinnert, von dem aus gesehen bekanntlich niemand ein Held ist. Anderseits gibt es auch andere Be¬ strebungen; nicht nur die naive unkritische Bewunderung der Masse, auch nicht bloß die von oben her im dynastischen Interesse betriebene Färbung, sondern eine bewußte Idealisierung, die jenen Kammerdienerstandpunkt bewußt ablehnt, mit der Begründung, die schon Hegel gefunden und die Goethe später wiederholt hat: Nur darum sei der Held in den Augen seines Kammerdieners kein Held, weil eben der Kammerdiener ein Kammerdiener, nicht aber, weil der Held kein Held ist. Man wird durch eine Entscheidung pro oder contra hier nichts erreichen. Beide Bestrebungen, die zur kritischen „Wahrheit" und die zur idealisierenden Legende, entspringen tieferen Bedürfnissen der Menschennatur und werden darum immer von neuem aufkommen, wie oft man sie auch totschlägt. Es kommt nur darauf an, an richtiger Stelle beide Arten von „Wahrheit" zu verwenden. Will man den Wert der verschiedenen historischen Wahrheiten, der kritischen einerseits und der summarischen, von ästhetischen, ethischen und pädagogischen Gesichtspunkten beeinflußten „legendarischen" Anschauung anderseits, gegenein¬ ander abschätzen, so wird man wohl zu dem Schlüsse kommen, daß an Lebens¬ werten vielleicht doch die legendarische reicher ist, und daß diese sich immer auch halten wird, trotz aller Wissenschaft. Und trotzdem kann auch diese ihren Lebens¬ wert haben und zwar vor allem als Korrektur der Legende an solchen Stellen, wo diese zum Schaden wird. Denn ist die Legende von größtem Nutzen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/178>, abgerufen am 04.07.2024.