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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Über Legendcnbildung in der Geschichte

unabhängig voneinander emporgewachsen sind und immer stärker die Köpfe
erobern. Diese Gedanken formuliert in Amerika und England der Pragma¬
tismus, sie kehren in Frankreich bei Bergson und anderen wieder, sie wurden in
Deutschland gelehrt von Nietzsche und zahlreichen Neueren und sind in besonders
eindringlicher Weise dargelegt in Vaihingers bedeutendem Werk von der "Philo¬
sophie des Als-Ob". Das aber heißt: wahr ist nicht das, was irgendeiner,
uns niemals ganz zugänglichen, bloß gedachten "Wirklichkeit" entspricht; es
genügt, daß eine Theorie so gestaltet ist, "als ob" sie einer Wirklichkeit entspräche,
wenn sie nur geeignet ist, unserem Handeln und unserem Leben zu dienen.

Wenden wir nun diese Anschauungen auf unser Thema an! Was ist die
"Wahrheit" über eine historische Persönlichkeit? Nur sehr naive Menschen
können glauben, daß es möglich sei, in einer kurzen Formel, auf ein paar
Seiten, selbst in einem dicken Buche wirklich ein Bild zu geben, das
dem ganzen Manne entspräche. Ein unmögliches Unterfangen! Selbst wenn
wir alles auszeichneten, was wir erlangen könnten, gäbe das ein Gesamt¬
bild? Wer bürgt uns, daß ein paar Tatsachen, die wir zufällig nicht
wissen, nicht das ganze Bild verschoben hätten? Und müssen wir nicht überall
ergänzen, Schlüsse ziehen, Hypothesen aufstellen, um nur ein einigermaßen
rundes Bild zu erhalten? Das aber soll nun der Wirklichkeit genau entsprechen ?
Diese starre Sammlung von Tatsachen, die, soweit sie fest sind, meist aus
ganz äußeren Daten bestehen, deren innere Verknüpfung wir nur erraten können,
soll ein exaktes Bild sein eines so unendlich komplizierten, in jedem
Augenblick von tausend Gedanken und Wünschen getriebenen, zwischen Wider¬
sprüchen hin- und hergeworfenen und sich beständig ändernden Organismus,
wie es ein menschlicher Charakter ist? Eine einfache Überlegung muß zeigen,
wie töricht ein solcher Gedanke wäre. Das, was wir Wahrheit über eine Per¬
sönlichkeit nennen, ist in Wirklichkeit nur ein größerer oder geringerer Komplex von
Wissen, der es uns ermöglicht, die mannigfaltigen Tatsachen in einer gewissen Ein¬
heitlichkeit zu erklären. Unser "Bild" von Napoleon ist im Grunde nur eine Kon¬
struktion, die uns ermöglicht, einen Zusammenhang in all die Fülle von Ereignissen
zu bringen, die sich an jenen Namen knüpfen. Aber wer könnte behaupten, daß
auch das geistreichste Schema alle Wandlungen, Widersprüche. Überraschungen zu
umfassen vermöchte, die die Wirklichkeit ausgemacht haben? Nun, diese Wirklichkeit
ist von unserem Denken niemals ganz zu erschöpfen, und das Gedankenschema,
das wir unsere "Erkenntnis" oder unsere "Wahrheit" nennen, kann dieser
Wirklichkeit wohl etwas näherkommen, niemals aber sie ganz erreichen.

Nun besteht aber die Tatsache, daß das Volk in seinen weiteren Kreisen,
das keine Akten und Archive durchstöbert, sich unbekümmert um die historische
Wissenschaft ebenfalls solche Gedankenschemata fand, die geeignet sind, ihm die
historischen Ereignisse zu erklären. Es schafft sich seinen Friedrich, seine Königin
Luise, seinen Richard Wagner, Gestalten von Überlebensgröße, die für seine
Auffassung die Geschichte machen. Gewiß wirken bei der Schöpfung solcher


Über Legendcnbildung in der Geschichte

unabhängig voneinander emporgewachsen sind und immer stärker die Köpfe
erobern. Diese Gedanken formuliert in Amerika und England der Pragma¬
tismus, sie kehren in Frankreich bei Bergson und anderen wieder, sie wurden in
Deutschland gelehrt von Nietzsche und zahlreichen Neueren und sind in besonders
eindringlicher Weise dargelegt in Vaihingers bedeutendem Werk von der „Philo¬
sophie des Als-Ob". Das aber heißt: wahr ist nicht das, was irgendeiner,
uns niemals ganz zugänglichen, bloß gedachten „Wirklichkeit" entspricht; es
genügt, daß eine Theorie so gestaltet ist, „als ob" sie einer Wirklichkeit entspräche,
wenn sie nur geeignet ist, unserem Handeln und unserem Leben zu dienen.

Wenden wir nun diese Anschauungen auf unser Thema an! Was ist die
„Wahrheit" über eine historische Persönlichkeit? Nur sehr naive Menschen
können glauben, daß es möglich sei, in einer kurzen Formel, auf ein paar
Seiten, selbst in einem dicken Buche wirklich ein Bild zu geben, das
dem ganzen Manne entspräche. Ein unmögliches Unterfangen! Selbst wenn
wir alles auszeichneten, was wir erlangen könnten, gäbe das ein Gesamt¬
bild? Wer bürgt uns, daß ein paar Tatsachen, die wir zufällig nicht
wissen, nicht das ganze Bild verschoben hätten? Und müssen wir nicht überall
ergänzen, Schlüsse ziehen, Hypothesen aufstellen, um nur ein einigermaßen
rundes Bild zu erhalten? Das aber soll nun der Wirklichkeit genau entsprechen ?
Diese starre Sammlung von Tatsachen, die, soweit sie fest sind, meist aus
ganz äußeren Daten bestehen, deren innere Verknüpfung wir nur erraten können,
soll ein exaktes Bild sein eines so unendlich komplizierten, in jedem
Augenblick von tausend Gedanken und Wünschen getriebenen, zwischen Wider¬
sprüchen hin- und hergeworfenen und sich beständig ändernden Organismus,
wie es ein menschlicher Charakter ist? Eine einfache Überlegung muß zeigen,
wie töricht ein solcher Gedanke wäre. Das, was wir Wahrheit über eine Per¬
sönlichkeit nennen, ist in Wirklichkeit nur ein größerer oder geringerer Komplex von
Wissen, der es uns ermöglicht, die mannigfaltigen Tatsachen in einer gewissen Ein¬
heitlichkeit zu erklären. Unser „Bild" von Napoleon ist im Grunde nur eine Kon¬
struktion, die uns ermöglicht, einen Zusammenhang in all die Fülle von Ereignissen
zu bringen, die sich an jenen Namen knüpfen. Aber wer könnte behaupten, daß
auch das geistreichste Schema alle Wandlungen, Widersprüche. Überraschungen zu
umfassen vermöchte, die die Wirklichkeit ausgemacht haben? Nun, diese Wirklichkeit
ist von unserem Denken niemals ganz zu erschöpfen, und das Gedankenschema,
das wir unsere „Erkenntnis" oder unsere „Wahrheit" nennen, kann dieser
Wirklichkeit wohl etwas näherkommen, niemals aber sie ganz erreichen.

Nun besteht aber die Tatsache, daß das Volk in seinen weiteren Kreisen,
das keine Akten und Archive durchstöbert, sich unbekümmert um die historische
Wissenschaft ebenfalls solche Gedankenschemata fand, die geeignet sind, ihm die
historischen Ereignisse zu erklären. Es schafft sich seinen Friedrich, seine Königin
Luise, seinen Richard Wagner, Gestalten von Überlebensgröße, die für seine
Auffassung die Geschichte machen. Gewiß wirken bei der Schöpfung solcher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/176>, abgerufen am 24.07.2024.