Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Hexe von Mayen

Denn der gute Heilige, dem ein halbes Dutzend Schwerter im Leibe steckten,
hatte anderes ausgehalten, als ein wenig Hunger. Ein Handwagen kam um
die Ecke und stieß Sebastian unsanft zur Seite. Er war mit Gerät und
Packeten vollgepackt und eine starke Frau schob ihn. Das war die Grill, die
in der Stadt Botengänge besorgte und die sich auch noch manchmal nach
Koblenz wagte, um Waren und Fleisch sür die einzukaufen, die es noch be¬
zahlen konnten. Sebastian hatte ihr noch nie einen Aufnag gegeben und sie
beachtete ihn nicht, bat auch nicht um Entschuldigung, als sie ihn jetzt an die
Wand drückte. Gleichgültig schob sie ihren Wagen weiter und war verschwunden.
Sebastian ärgerte sich wieder und merkte nicht, daß sein Hund am Riemen
zerrte, einen großen Satz machte und dann wieder neben ihm herlief. Er wußte
nicht mehr, daß er einen häßlichen Köter führte; er dachte an die Schlechtigkeit
der Welt und daran, daß es keinen Respekt mehr in der Welt gab. Daher
kam auch der Feind, der Krieg und die Pestilenz, und daher flog eine Hexe
nach Mauen und spannte ihre Netze aus, um arme Unschuldige darin zu
fangen.

Verdrießlich betrat Sebastian sein Häuschen, dessen Tür wie immer weit
offen stand. Es war nichts zu stehlen bei ihm: höchstens Papier und Tinte;
davon aber wurde kein Mensch satt und niemand verlangte danach. Jetzt sah
der junge Mann auch wieder den Hund, den er gedankenlos mit sich zog, und
der an einem Packen schleppte, der größer war als er selbst. Es war mit
starkem Band verschnürt, und der Hund zitterte vor Aufregung, während seine
Augen wild glühten. Mit Gewalt riß Sebastian ihm den schweren Packen aus
dem Maul, bei welcher Anstrengung sich die Schnur löste und einige Würste,
ein Glück geräuchertes Fleisch und eine dickbäuchige Flasche auf die Erde rollten.
Wie ein Raubtier stürzte sich der Hund auf eine Wurst, aber Sebastian war
schneller als er. Er faßte ihn an die Schnur, band ihn an der Türklinke fest
und sammelte seine Schätze zusammen. Das war der heilige Sebastian, der ihm
Speis und Trank schickte, als ers grade bitterlich nötig hatte. Grade wollte
er in eine Wurst beißen, als er den Hund jämmerlich heulen hörte. Und da
fiel ihm die Grill mit ihrem Wagen und der Umstand ein, daß der Heilige
ganz gewiß die Hand im Spiel hatte, daß aber der Köter den Packen gefunden
und getragen hatte. Also warf er die größte Wurst der armen Kreatur
hin, die doch so bald ins Wasser geworfen werden sollte, stärkte sich selbst
mit einer andern, tat einen Schluck aus der dunklen Flasche, deren Inhalt
ihm wie Feuer durch die Adern rann, und schob den Rest der Speisen in einen
Wandschrank.

Ihm war viel heiterer zu Mute geworden: grade auch wie der Hund, nachdem
er seine Wurst in ungebührlicher Eile verschlungen hatte, still wurde, sich aus¬
streckte und den Kopf auf die Pfoten legte.

Es war kein so übles Tier: nur schmutzig und verwahrlost. Der Herr
Büttel hatte ihn wohl niemals gekämmt oder gewaschen. AIs Sebastian noch


Die Hexe von Mayen

Denn der gute Heilige, dem ein halbes Dutzend Schwerter im Leibe steckten,
hatte anderes ausgehalten, als ein wenig Hunger. Ein Handwagen kam um
die Ecke und stieß Sebastian unsanft zur Seite. Er war mit Gerät und
Packeten vollgepackt und eine starke Frau schob ihn. Das war die Grill, die
in der Stadt Botengänge besorgte und die sich auch noch manchmal nach
Koblenz wagte, um Waren und Fleisch sür die einzukaufen, die es noch be¬
zahlen konnten. Sebastian hatte ihr noch nie einen Aufnag gegeben und sie
beachtete ihn nicht, bat auch nicht um Entschuldigung, als sie ihn jetzt an die
Wand drückte. Gleichgültig schob sie ihren Wagen weiter und war verschwunden.
Sebastian ärgerte sich wieder und merkte nicht, daß sein Hund am Riemen
zerrte, einen großen Satz machte und dann wieder neben ihm herlief. Er wußte
nicht mehr, daß er einen häßlichen Köter führte; er dachte an die Schlechtigkeit
der Welt und daran, daß es keinen Respekt mehr in der Welt gab. Daher
kam auch der Feind, der Krieg und die Pestilenz, und daher flog eine Hexe
nach Mauen und spannte ihre Netze aus, um arme Unschuldige darin zu
fangen.

Verdrießlich betrat Sebastian sein Häuschen, dessen Tür wie immer weit
offen stand. Es war nichts zu stehlen bei ihm: höchstens Papier und Tinte;
davon aber wurde kein Mensch satt und niemand verlangte danach. Jetzt sah
der junge Mann auch wieder den Hund, den er gedankenlos mit sich zog, und
der an einem Packen schleppte, der größer war als er selbst. Es war mit
starkem Band verschnürt, und der Hund zitterte vor Aufregung, während seine
Augen wild glühten. Mit Gewalt riß Sebastian ihm den schweren Packen aus
dem Maul, bei welcher Anstrengung sich die Schnur löste und einige Würste,
ein Glück geräuchertes Fleisch und eine dickbäuchige Flasche auf die Erde rollten.
Wie ein Raubtier stürzte sich der Hund auf eine Wurst, aber Sebastian war
schneller als er. Er faßte ihn an die Schnur, band ihn an der Türklinke fest
und sammelte seine Schätze zusammen. Das war der heilige Sebastian, der ihm
Speis und Trank schickte, als ers grade bitterlich nötig hatte. Grade wollte
er in eine Wurst beißen, als er den Hund jämmerlich heulen hörte. Und da
fiel ihm die Grill mit ihrem Wagen und der Umstand ein, daß der Heilige
ganz gewiß die Hand im Spiel hatte, daß aber der Köter den Packen gefunden
und getragen hatte. Also warf er die größte Wurst der armen Kreatur
hin, die doch so bald ins Wasser geworfen werden sollte, stärkte sich selbst
mit einer andern, tat einen Schluck aus der dunklen Flasche, deren Inhalt
ihm wie Feuer durch die Adern rann, und schob den Rest der Speisen in einen
Wandschrank.

Ihm war viel heiterer zu Mute geworden: grade auch wie der Hund, nachdem
er seine Wurst in ungebührlicher Eile verschlungen hatte, still wurde, sich aus¬
streckte und den Kopf auf die Pfoten legte.

Es war kein so übles Tier: nur schmutzig und verwahrlost. Der Herr
Büttel hatte ihn wohl niemals gekämmt oder gewaschen. AIs Sebastian noch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327554"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Hexe von Mayen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_289" prev="#ID_288"> Denn der gute Heilige, dem ein halbes Dutzend Schwerter im Leibe steckten,<lb/>
hatte anderes ausgehalten, als ein wenig Hunger. Ein Handwagen kam um<lb/>
die Ecke und stieß Sebastian unsanft zur Seite. Er war mit Gerät und<lb/>
Packeten vollgepackt und eine starke Frau schob ihn. Das war die Grill, die<lb/>
in der Stadt Botengänge besorgte und die sich auch noch manchmal nach<lb/>
Koblenz wagte, um Waren und Fleisch sür die einzukaufen, die es noch be¬<lb/>
zahlen konnten. Sebastian hatte ihr noch nie einen Aufnag gegeben und sie<lb/>
beachtete ihn nicht, bat auch nicht um Entschuldigung, als sie ihn jetzt an die<lb/>
Wand drückte. Gleichgültig schob sie ihren Wagen weiter und war verschwunden.<lb/>
Sebastian ärgerte sich wieder und merkte nicht, daß sein Hund am Riemen<lb/>
zerrte, einen großen Satz machte und dann wieder neben ihm herlief. Er wußte<lb/>
nicht mehr, daß er einen häßlichen Köter führte; er dachte an die Schlechtigkeit<lb/>
der Welt und daran, daß es keinen Respekt mehr in der Welt gab. Daher<lb/>
kam auch der Feind, der Krieg und die Pestilenz, und daher flog eine Hexe<lb/>
nach Mauen und spannte ihre Netze aus, um arme Unschuldige darin zu<lb/>
fangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_290"> Verdrießlich betrat Sebastian sein Häuschen, dessen Tür wie immer weit<lb/>
offen stand. Es war nichts zu stehlen bei ihm: höchstens Papier und Tinte;<lb/>
davon aber wurde kein Mensch satt und niemand verlangte danach. Jetzt sah<lb/>
der junge Mann auch wieder den Hund, den er gedankenlos mit sich zog, und<lb/>
der an einem Packen schleppte, der größer war als er selbst. Es war mit<lb/>
starkem Band verschnürt, und der Hund zitterte vor Aufregung, während seine<lb/>
Augen wild glühten. Mit Gewalt riß Sebastian ihm den schweren Packen aus<lb/>
dem Maul, bei welcher Anstrengung sich die Schnur löste und einige Würste,<lb/>
ein Glück geräuchertes Fleisch und eine dickbäuchige Flasche auf die Erde rollten.<lb/>
Wie ein Raubtier stürzte sich der Hund auf eine Wurst, aber Sebastian war<lb/>
schneller als er. Er faßte ihn an die Schnur, band ihn an der Türklinke fest<lb/>
und sammelte seine Schätze zusammen. Das war der heilige Sebastian, der ihm<lb/>
Speis und Trank schickte, als ers grade bitterlich nötig hatte. Grade wollte<lb/>
er in eine Wurst beißen, als er den Hund jämmerlich heulen hörte. Und da<lb/>
fiel ihm die Grill mit ihrem Wagen und der Umstand ein, daß der Heilige<lb/>
ganz gewiß die Hand im Spiel hatte, daß aber der Köter den Packen gefunden<lb/>
und getragen hatte. Also warf er die größte Wurst der armen Kreatur<lb/>
hin, die doch so bald ins Wasser geworfen werden sollte, stärkte sich selbst<lb/>
mit einer andern, tat einen Schluck aus der dunklen Flasche, deren Inhalt<lb/>
ihm wie Feuer durch die Adern rann, und schob den Rest der Speisen in einen<lb/>
Wandschrank.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_291"> Ihm war viel heiterer zu Mute geworden: grade auch wie der Hund, nachdem<lb/>
er seine Wurst in ungebührlicher Eile verschlungen hatte, still wurde, sich aus¬<lb/>
streckte und den Kopf auf die Pfoten legte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_292" next="#ID_293"> Es war kein so übles Tier: nur schmutzig und verwahrlost. Der Herr<lb/>
Büttel hatte ihn wohl niemals gekämmt oder gewaschen.  AIs Sebastian noch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0088] Die Hexe von Mayen Denn der gute Heilige, dem ein halbes Dutzend Schwerter im Leibe steckten, hatte anderes ausgehalten, als ein wenig Hunger. Ein Handwagen kam um die Ecke und stieß Sebastian unsanft zur Seite. Er war mit Gerät und Packeten vollgepackt und eine starke Frau schob ihn. Das war die Grill, die in der Stadt Botengänge besorgte und die sich auch noch manchmal nach Koblenz wagte, um Waren und Fleisch sür die einzukaufen, die es noch be¬ zahlen konnten. Sebastian hatte ihr noch nie einen Aufnag gegeben und sie beachtete ihn nicht, bat auch nicht um Entschuldigung, als sie ihn jetzt an die Wand drückte. Gleichgültig schob sie ihren Wagen weiter und war verschwunden. Sebastian ärgerte sich wieder und merkte nicht, daß sein Hund am Riemen zerrte, einen großen Satz machte und dann wieder neben ihm herlief. Er wußte nicht mehr, daß er einen häßlichen Köter führte; er dachte an die Schlechtigkeit der Welt und daran, daß es keinen Respekt mehr in der Welt gab. Daher kam auch der Feind, der Krieg und die Pestilenz, und daher flog eine Hexe nach Mauen und spannte ihre Netze aus, um arme Unschuldige darin zu fangen. Verdrießlich betrat Sebastian sein Häuschen, dessen Tür wie immer weit offen stand. Es war nichts zu stehlen bei ihm: höchstens Papier und Tinte; davon aber wurde kein Mensch satt und niemand verlangte danach. Jetzt sah der junge Mann auch wieder den Hund, den er gedankenlos mit sich zog, und der an einem Packen schleppte, der größer war als er selbst. Es war mit starkem Band verschnürt, und der Hund zitterte vor Aufregung, während seine Augen wild glühten. Mit Gewalt riß Sebastian ihm den schweren Packen aus dem Maul, bei welcher Anstrengung sich die Schnur löste und einige Würste, ein Glück geräuchertes Fleisch und eine dickbäuchige Flasche auf die Erde rollten. Wie ein Raubtier stürzte sich der Hund auf eine Wurst, aber Sebastian war schneller als er. Er faßte ihn an die Schnur, band ihn an der Türklinke fest und sammelte seine Schätze zusammen. Das war der heilige Sebastian, der ihm Speis und Trank schickte, als ers grade bitterlich nötig hatte. Grade wollte er in eine Wurst beißen, als er den Hund jämmerlich heulen hörte. Und da fiel ihm die Grill mit ihrem Wagen und der Umstand ein, daß der Heilige ganz gewiß die Hand im Spiel hatte, daß aber der Köter den Packen gefunden und getragen hatte. Also warf er die größte Wurst der armen Kreatur hin, die doch so bald ins Wasser geworfen werden sollte, stärkte sich selbst mit einer andern, tat einen Schluck aus der dunklen Flasche, deren Inhalt ihm wie Feuer durch die Adern rann, und schob den Rest der Speisen in einen Wandschrank. Ihm war viel heiterer zu Mute geworden: grade auch wie der Hund, nachdem er seine Wurst in ungebührlicher Eile verschlungen hatte, still wurde, sich aus¬ streckte und den Kopf auf die Pfoten legte. Es war kein so übles Tier: nur schmutzig und verwahrlost. Der Herr Büttel hatte ihn wohl niemals gekämmt oder gewaschen. AIs Sebastian noch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/88
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/88>, abgerufen am 01.01.2025.