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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Realpolitik im Mittelmeer

Mittelmeer eine Politik des Gleichgewichts verfolgte, so war dies Gleichgewicht
im wesentlichen immer gegen Frankreich gerichtet. Dies hat sich auch in der
Zeit der Entente cordiale nie geändert. England hat nie, wie uns die
französische Presse so gern glauben machen mochte, im Mittelmeer eine Entente¬
politik verfolgt, die vor allem den französischen Interessen zum Vorteil gereicht
hätte. Als im Sommer 1912 die französische Presse davon fabelte, daß England
der französischen Flotte die Wahrung seiner Mittelmeerinteressen übertrüge,
sagte der englische Minister L. Harcourt in einer politischen Versammlung:
England würde seine Stellung im Mittelmeer zu Lande und zur See in genau
derselben Ausdehnung wie in der Vergangenheit aufrecht erhalte", soweit es seinen
eigenen -- und lediglich seinen eigenen -- Bedürfnissen und den taktischen Erforder¬
nissen seiner eigenen unabhängigen Politik entspräche; und England würde sich bei
Verfolgung dieser Politik auf kein Bündnis un d auf keine Verständigung direkter oder
indirekter Natur verlassen. Diese Äußerung verdient namentlich deshalb Er¬
wähnung, weil später der Premierminister auf eine Anfrage im Parlament ant¬
wortete, daß sie die dauernden Grundlagen der Regierungspolitik genau wiedergebe.

Die englische Mittelmeerpolitik offenbarte sich sehr deutlich bei der
französisch-spanischen Auseinandersetzung über Marokko. Bei den Verhandlungen
in Madrid hat England die spanische Politik auf das nachdrücklichste unterstützt,
und wenn Spanien schließlich den Franzosen sehr viel geringere Zugeständnisse
gemacht hat, als man in Paris erwartet hatte, so ist das nur auf die diplo¬
matische Einwirkung Englands zurückzuführen. Als später im Frühjahr 1913
der italienische Minister San Giulio.no die Absicht einer engeren Annäherung
an Spanien aussprach, -- einer Annäherung, die eine zwar ganz defensive,
aber doch unverkennbare Richtung gegen Frankreich hatte, -- fand diese Politik
in England Beifall und Unterstützung. Allerdings sand auch die fanzöstsch-
spanische Annäherung, die durch den Besuch des Präsidenten Poincarö avisiert
wurde, die Billigung Englands, vor allem aber im Interesse Spaniens, dessen
Aufgaben in Marokko durch eineBesserung der Beziehungen zu Frankreich naturgemäß
erleichtert werden mußten. Die Times versagte es sich bei dieser Gelegenheit nicht,
auf die vielen trennenden Momente zwischen den beiden Nachbarländern hinzuweisen,
als ob sie die Spanier vor einer allzu großen Intimität mit der sranözsischen
Republik warnen wollte. Nach alledem kann man sich vorstellen, welche Aufnahme
in England die Verwirklichung des französischen Projekts einer Fährverbindung
über die Straße von Gibraltar finden würde, die das spanische Eisenbahnsnstem
dem französischen Truppentransport aus Nordafrika dienstbar machen und
Spanien zu einem Vasallenstaat Frankreichs erniedrigen würde.

Während die Beziehungen Englands zu Frankreich im Mittelmeer stets von
einer natürlichen und durch die Geschichte begründeten Rivalität beherrscht wurden,
werden die Beziehungen Englands zu Italien durch eine ausgesprochene Interessen¬
gemeinschaft charakterisiert. Die Engländer sind von Anfang an warme Freunde
der Einheitsbestrebungen der Italiener gewesen und ihre gefühlsmäßige Sympathie


Realpolitik im Mittelmeer

Mittelmeer eine Politik des Gleichgewichts verfolgte, so war dies Gleichgewicht
im wesentlichen immer gegen Frankreich gerichtet. Dies hat sich auch in der
Zeit der Entente cordiale nie geändert. England hat nie, wie uns die
französische Presse so gern glauben machen mochte, im Mittelmeer eine Entente¬
politik verfolgt, die vor allem den französischen Interessen zum Vorteil gereicht
hätte. Als im Sommer 1912 die französische Presse davon fabelte, daß England
der französischen Flotte die Wahrung seiner Mittelmeerinteressen übertrüge,
sagte der englische Minister L. Harcourt in einer politischen Versammlung:
England würde seine Stellung im Mittelmeer zu Lande und zur See in genau
derselben Ausdehnung wie in der Vergangenheit aufrecht erhalte«, soweit es seinen
eigenen — und lediglich seinen eigenen — Bedürfnissen und den taktischen Erforder¬
nissen seiner eigenen unabhängigen Politik entspräche; und England würde sich bei
Verfolgung dieser Politik auf kein Bündnis un d auf keine Verständigung direkter oder
indirekter Natur verlassen. Diese Äußerung verdient namentlich deshalb Er¬
wähnung, weil später der Premierminister auf eine Anfrage im Parlament ant¬
wortete, daß sie die dauernden Grundlagen der Regierungspolitik genau wiedergebe.

Die englische Mittelmeerpolitik offenbarte sich sehr deutlich bei der
französisch-spanischen Auseinandersetzung über Marokko. Bei den Verhandlungen
in Madrid hat England die spanische Politik auf das nachdrücklichste unterstützt,
und wenn Spanien schließlich den Franzosen sehr viel geringere Zugeständnisse
gemacht hat, als man in Paris erwartet hatte, so ist das nur auf die diplo¬
matische Einwirkung Englands zurückzuführen. Als später im Frühjahr 1913
der italienische Minister San Giulio.no die Absicht einer engeren Annäherung
an Spanien aussprach, — einer Annäherung, die eine zwar ganz defensive,
aber doch unverkennbare Richtung gegen Frankreich hatte, — fand diese Politik
in England Beifall und Unterstützung. Allerdings sand auch die fanzöstsch-
spanische Annäherung, die durch den Besuch des Präsidenten Poincarö avisiert
wurde, die Billigung Englands, vor allem aber im Interesse Spaniens, dessen
Aufgaben in Marokko durch eineBesserung der Beziehungen zu Frankreich naturgemäß
erleichtert werden mußten. Die Times versagte es sich bei dieser Gelegenheit nicht,
auf die vielen trennenden Momente zwischen den beiden Nachbarländern hinzuweisen,
als ob sie die Spanier vor einer allzu großen Intimität mit der sranözsischen
Republik warnen wollte. Nach alledem kann man sich vorstellen, welche Aufnahme
in England die Verwirklichung des französischen Projekts einer Fährverbindung
über die Straße von Gibraltar finden würde, die das spanische Eisenbahnsnstem
dem französischen Truppentransport aus Nordafrika dienstbar machen und
Spanien zu einem Vasallenstaat Frankreichs erniedrigen würde.

Während die Beziehungen Englands zu Frankreich im Mittelmeer stets von
einer natürlichen und durch die Geschichte begründeten Rivalität beherrscht wurden,
werden die Beziehungen Englands zu Italien durch eine ausgesprochene Interessen¬
gemeinschaft charakterisiert. Die Engländer sind von Anfang an warme Freunde
der Einheitsbestrebungen der Italiener gewesen und ihre gefühlsmäßige Sympathie


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[0080] Realpolitik im Mittelmeer Mittelmeer eine Politik des Gleichgewichts verfolgte, so war dies Gleichgewicht im wesentlichen immer gegen Frankreich gerichtet. Dies hat sich auch in der Zeit der Entente cordiale nie geändert. England hat nie, wie uns die französische Presse so gern glauben machen mochte, im Mittelmeer eine Entente¬ politik verfolgt, die vor allem den französischen Interessen zum Vorteil gereicht hätte. Als im Sommer 1912 die französische Presse davon fabelte, daß England der französischen Flotte die Wahrung seiner Mittelmeerinteressen übertrüge, sagte der englische Minister L. Harcourt in einer politischen Versammlung: England würde seine Stellung im Mittelmeer zu Lande und zur See in genau derselben Ausdehnung wie in der Vergangenheit aufrecht erhalte«, soweit es seinen eigenen — und lediglich seinen eigenen — Bedürfnissen und den taktischen Erforder¬ nissen seiner eigenen unabhängigen Politik entspräche; und England würde sich bei Verfolgung dieser Politik auf kein Bündnis un d auf keine Verständigung direkter oder indirekter Natur verlassen. Diese Äußerung verdient namentlich deshalb Er¬ wähnung, weil später der Premierminister auf eine Anfrage im Parlament ant¬ wortete, daß sie die dauernden Grundlagen der Regierungspolitik genau wiedergebe. Die englische Mittelmeerpolitik offenbarte sich sehr deutlich bei der französisch-spanischen Auseinandersetzung über Marokko. Bei den Verhandlungen in Madrid hat England die spanische Politik auf das nachdrücklichste unterstützt, und wenn Spanien schließlich den Franzosen sehr viel geringere Zugeständnisse gemacht hat, als man in Paris erwartet hatte, so ist das nur auf die diplo¬ matische Einwirkung Englands zurückzuführen. Als später im Frühjahr 1913 der italienische Minister San Giulio.no die Absicht einer engeren Annäherung an Spanien aussprach, — einer Annäherung, die eine zwar ganz defensive, aber doch unverkennbare Richtung gegen Frankreich hatte, — fand diese Politik in England Beifall und Unterstützung. Allerdings sand auch die fanzöstsch- spanische Annäherung, die durch den Besuch des Präsidenten Poincarö avisiert wurde, die Billigung Englands, vor allem aber im Interesse Spaniens, dessen Aufgaben in Marokko durch eineBesserung der Beziehungen zu Frankreich naturgemäß erleichtert werden mußten. Die Times versagte es sich bei dieser Gelegenheit nicht, auf die vielen trennenden Momente zwischen den beiden Nachbarländern hinzuweisen, als ob sie die Spanier vor einer allzu großen Intimität mit der sranözsischen Republik warnen wollte. Nach alledem kann man sich vorstellen, welche Aufnahme in England die Verwirklichung des französischen Projekts einer Fährverbindung über die Straße von Gibraltar finden würde, die das spanische Eisenbahnsnstem dem französischen Truppentransport aus Nordafrika dienstbar machen und Spanien zu einem Vasallenstaat Frankreichs erniedrigen würde. Während die Beziehungen Englands zu Frankreich im Mittelmeer stets von einer natürlichen und durch die Geschichte begründeten Rivalität beherrscht wurden, werden die Beziehungen Englands zu Italien durch eine ausgesprochene Interessen¬ gemeinschaft charakterisiert. Die Engländer sind von Anfang an warme Freunde der Einheitsbestrebungen der Italiener gewesen und ihre gefühlsmäßige Sympathie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/80>, abgerufen am 01.01.2025.