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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Realpolitik im Mittelmeer

für deren Unabhängigkeitskämpfe verknüpfte sich mit der politischen Erkenntnis,
daß ein geeintes Italien durch die Gemeinsamkeit seiner Interessen mit England
verbunden sein würde. Eine auf positiven Verabredungen beruhende Entente
zwischen England und Italien trat 1887 ins Leben. England garantierte
gemeinsam mit Österreich-Ungarn den Italienern den 8wen8 quo im Mittelmeer,
um Italien die Erneuerung der Dreibundsverträge zu erleichtern. Die Entente
mit Frankreich, die Italien die französische Zustimmung zu der Erwerbung von
Tripolis einbrachte, wurde anfangs in England mit erheblichem Mißfallen aufge¬
nommen. Als bald darauf England selbst eine Entente mit Frankreich einging, hörte
für einigeZeit jede gegensätzlicheMächtegruppierung im Mittelmeer auf. Aber seitdem
Marokko ein französisches Protektorat und Tripolis italienischer Besitz geworden
ist, hat die italienisch-französische Interessengemeinschaft aufgehört, und es ist
bereits gezeigt worden, in welchem Sinne England unter diesen neuen Verhältnissen
seine alte Politik des Gleichgewichts verfolgt.

Zurzeit besteht allerdings auch zwischen der englischen und italienischen
Mittelmeerpolitik ein Gegensatz. Italien hat in dem Krieg mit der Türkei eine
Anzahl der Ägäischen Inseln, den sogenannten Dodekanesos, okkupiert. Die
italienische Negierung hat wiederholt die bestimmte Zusicherung abgegeben, daß
sie dem Friedensvertrag von Lausanne gemäß die Inseln zurückerstatten würde,
sobald der türkische Widerstand gegen die italienische Herrschaft in Tripolis
aufgehört hätte. Die verlängerte Okkupation der Inseln durch Italien sollte es
offenbar verhindern, daß etwa Griechenland sich während des Balkankrieges
seinerseits in den Besitz dieser Inseln setzte. Aber inzwischen haben Griechenland
und die Türkei Frieden geschlossen, und nach englischer Auffassung ist der Augen¬
blick gekommen, wo Italien die Inseln den Türken zurückgeben sollte. Die Note,
die England Mitte Dezember an die Mächte richtete, dürfte die Fragö zur
Entscheidung bringen. England verfolgt die Politik, im Mittelmeer den swtug
qu", wie er durch den Frieden von Lausanne und die Friedensschlüsse der Türkei
mit den Balkanstaaten geschaffen ist, zu erhalten. England hat sich durchaus
nicht etwa den Vorschlag Frankreichs, der für Italien unannehmbar gewesen
wäre, zu eigen gemacht, daß der Dodekanesos griechisch werden solle. Er sollte
vielmehr türkisch bleiben; die orientalische Frage sollte nicht weiter aufgerollt und
die Türkei in ihrem jetzigen Bestand erhalten werden. Dasselbe hatte der
Marquis ti San Giulicino in seinen letzten Reden betont und es ist nun abzuwarten,
wie die italienische Regierung die englischen Vorschläge aufnehmen wird.

Die Frage der griechischen Inseln ist die einzige Frage, die trennend zwischen
England und Italien steht; und es liegt ebensosehr im allgemeinen Interesse
wie im Interesse Italiens, daß sie eine Lösung findet, die sein natürliches freund¬
schaftliches Verständnis mit England nicht beeinträchtigt.




Realpolitik im Mittelmeer

für deren Unabhängigkeitskämpfe verknüpfte sich mit der politischen Erkenntnis,
daß ein geeintes Italien durch die Gemeinsamkeit seiner Interessen mit England
verbunden sein würde. Eine auf positiven Verabredungen beruhende Entente
zwischen England und Italien trat 1887 ins Leben. England garantierte
gemeinsam mit Österreich-Ungarn den Italienern den 8wen8 quo im Mittelmeer,
um Italien die Erneuerung der Dreibundsverträge zu erleichtern. Die Entente
mit Frankreich, die Italien die französische Zustimmung zu der Erwerbung von
Tripolis einbrachte, wurde anfangs in England mit erheblichem Mißfallen aufge¬
nommen. Als bald darauf England selbst eine Entente mit Frankreich einging, hörte
für einigeZeit jede gegensätzlicheMächtegruppierung im Mittelmeer auf. Aber seitdem
Marokko ein französisches Protektorat und Tripolis italienischer Besitz geworden
ist, hat die italienisch-französische Interessengemeinschaft aufgehört, und es ist
bereits gezeigt worden, in welchem Sinne England unter diesen neuen Verhältnissen
seine alte Politik des Gleichgewichts verfolgt.

Zurzeit besteht allerdings auch zwischen der englischen und italienischen
Mittelmeerpolitik ein Gegensatz. Italien hat in dem Krieg mit der Türkei eine
Anzahl der Ägäischen Inseln, den sogenannten Dodekanesos, okkupiert. Die
italienische Negierung hat wiederholt die bestimmte Zusicherung abgegeben, daß
sie dem Friedensvertrag von Lausanne gemäß die Inseln zurückerstatten würde,
sobald der türkische Widerstand gegen die italienische Herrschaft in Tripolis
aufgehört hätte. Die verlängerte Okkupation der Inseln durch Italien sollte es
offenbar verhindern, daß etwa Griechenland sich während des Balkankrieges
seinerseits in den Besitz dieser Inseln setzte. Aber inzwischen haben Griechenland
und die Türkei Frieden geschlossen, und nach englischer Auffassung ist der Augen¬
blick gekommen, wo Italien die Inseln den Türken zurückgeben sollte. Die Note,
die England Mitte Dezember an die Mächte richtete, dürfte die Fragö zur
Entscheidung bringen. England verfolgt die Politik, im Mittelmeer den swtug
qu», wie er durch den Frieden von Lausanne und die Friedensschlüsse der Türkei
mit den Balkanstaaten geschaffen ist, zu erhalten. England hat sich durchaus
nicht etwa den Vorschlag Frankreichs, der für Italien unannehmbar gewesen
wäre, zu eigen gemacht, daß der Dodekanesos griechisch werden solle. Er sollte
vielmehr türkisch bleiben; die orientalische Frage sollte nicht weiter aufgerollt und
die Türkei in ihrem jetzigen Bestand erhalten werden. Dasselbe hatte der
Marquis ti San Giulicino in seinen letzten Reden betont und es ist nun abzuwarten,
wie die italienische Regierung die englischen Vorschläge aufnehmen wird.

Die Frage der griechischen Inseln ist die einzige Frage, die trennend zwischen
England und Italien steht; und es liegt ebensosehr im allgemeinen Interesse
wie im Interesse Italiens, daß sie eine Lösung findet, die sein natürliches freund¬
schaftliches Verständnis mit England nicht beeinträchtigt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/81>, abgerufen am 29.12.2024.