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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Gin Streifzug in die Volksetymologie und Volksmythologie

steht ein drei Zentimeter hohes und spitzes Horn mit breiter Basis. Das
Original größerer Gestalt gehört zu den in Heft 47, Seile 351 erwähnten
"ctumörsZ". die auf dem oberen Rande der Balustrade von Notre Dame in
Paris stehen; die Balustrade umschließt außen die Kirchtürme. Die Gypsfigur
stammt auch aus Paris, wo sie von fliegenden Händlern verkauft wird. Eine
entsprechende Lrilmöro, ebenfalls ein gehörnter Affe, ziert die Balustrade an
anderer Stelle; sie liegt mir in Photographie vor und unterscheidet sich wenig
von ihrem Gegenstück; es fehlt der Frosch, und die Haltung des Tieres ist
mehr vorgebeugt. Eine dritte cKimSre hat den Katzentypus und eine vierte
den Bockstypus; diese beiden tragen ein Doppelhorn ans der Stirn. Sie
kommen sämtlich auch auf Postkarten vor, sind aber nicht zu verwechseln mit
den am oberen Rande der Türme befindlichen Wasserspeiern, von denen Victor
Hugo in seiner l^vere Dame cle ?ari3 sagt, daß "die steinernen Ungeheuer
durch ihre Rachen aus den langen Dachrinnen seit sechshundert Jcchreu ihre
Wasser ergießen". Als dies (1831) geschrieben wurde, standen jene Fabeltiere
nicht mehr auf der Balustrade. Obwohl Andere, der neueste Bearbeiter der
Geschichte von Notre Dame, die Kathedrale im Beginn des vierzehnten Jahr¬
hunderts als ebenso vollendet hinstellt, "wie wir sie jetzt (1909) sehen", bezieht
sich dies doch nicht auf die Fabeltiere der Balustrade; denn nach einem von
ihm selbst mitgeteilten Protokolle des Jahres 1744 waren die Wasserspeier
gleich den "Grotesken und Chimären der Turmgalerien" zerstört, und der
Architekt, der sie nicht wiederherstellen konnte, schlug vor, sie niederzulegen, was
auch teilweise geschah. So fand denn auch Viollet-le-Duc, der 1844 die auf
Viktor Hugos Anregung beschlossene Restauration der Kirche übertragen erhielt,
als Zeugen der auf der Balustrade befindlich gewesenen Chimären lediglich
Spuren ihrer mit der Balustrade verbundenen Klauen. An Stelle der Er¬
zeugnisse höchst extravaganter Einbildung zeichnete er nach Andere neue "von
einer vielleicht mehr nüchternen Komposition". So entstanden die heutigen
Hornaffen an Notre Dame.

Es ist nicht gelungen, ans Paris Nachrichten darüber zu erhalten, ob sich
bei Fertigstellung der dortigen Kathedrale im Beginne des vierzehnten Jahr¬
hunderts bereits gehörnte Affen unter den Figuren der Balustrade befanden,
und, wenn dies der Fall, ob Viollet-le-Duc bei seinen Restaurationsarbeiten
davon Kenntnis hatte. Möglich ist es immerhin, daß die modernen, nach
Viollets Zeichnungen angefertigten Chimären ähnliche aus dem vierzehnten
Jahrhundert wiederholen, zumal damals in Paris, wie in den burgundischen
Hauptstädten (nach Lübke) Claux Sluter, ein deutscher oder niederländischer
Bildhauer, vielfach beschäftigt war und dort groteske Figuren an Bauwerken
schuf"). Als sicher kann gelten, daß Viollet-le-Duc die in Frankreich seit 1711



") Viollets zehnbnndigcs vieiioii-üre ein l'itrctuteLture. fr-in?. ein XI jusqu'a XVI siScle
enthält zwar einen Abschnitt "Lculpture", nennt aber darin die cnimöres von Notre
Dame nicht.
Gin Streifzug in die Volksetymologie und Volksmythologie

steht ein drei Zentimeter hohes und spitzes Horn mit breiter Basis. Das
Original größerer Gestalt gehört zu den in Heft 47, Seile 351 erwähnten
„ctumörsZ". die auf dem oberen Rande der Balustrade von Notre Dame in
Paris stehen; die Balustrade umschließt außen die Kirchtürme. Die Gypsfigur
stammt auch aus Paris, wo sie von fliegenden Händlern verkauft wird. Eine
entsprechende Lrilmöro, ebenfalls ein gehörnter Affe, ziert die Balustrade an
anderer Stelle; sie liegt mir in Photographie vor und unterscheidet sich wenig
von ihrem Gegenstück; es fehlt der Frosch, und die Haltung des Tieres ist
mehr vorgebeugt. Eine dritte cKimSre hat den Katzentypus und eine vierte
den Bockstypus; diese beiden tragen ein Doppelhorn ans der Stirn. Sie
kommen sämtlich auch auf Postkarten vor, sind aber nicht zu verwechseln mit
den am oberen Rande der Türme befindlichen Wasserspeiern, von denen Victor
Hugo in seiner l^vere Dame cle ?ari3 sagt, daß „die steinernen Ungeheuer
durch ihre Rachen aus den langen Dachrinnen seit sechshundert Jcchreu ihre
Wasser ergießen". Als dies (1831) geschrieben wurde, standen jene Fabeltiere
nicht mehr auf der Balustrade. Obwohl Andere, der neueste Bearbeiter der
Geschichte von Notre Dame, die Kathedrale im Beginn des vierzehnten Jahr¬
hunderts als ebenso vollendet hinstellt, „wie wir sie jetzt (1909) sehen", bezieht
sich dies doch nicht auf die Fabeltiere der Balustrade; denn nach einem von
ihm selbst mitgeteilten Protokolle des Jahres 1744 waren die Wasserspeier
gleich den „Grotesken und Chimären der Turmgalerien" zerstört, und der
Architekt, der sie nicht wiederherstellen konnte, schlug vor, sie niederzulegen, was
auch teilweise geschah. So fand denn auch Viollet-le-Duc, der 1844 die auf
Viktor Hugos Anregung beschlossene Restauration der Kirche übertragen erhielt,
als Zeugen der auf der Balustrade befindlich gewesenen Chimären lediglich
Spuren ihrer mit der Balustrade verbundenen Klauen. An Stelle der Er¬
zeugnisse höchst extravaganter Einbildung zeichnete er nach Andere neue „von
einer vielleicht mehr nüchternen Komposition". So entstanden die heutigen
Hornaffen an Notre Dame.

Es ist nicht gelungen, ans Paris Nachrichten darüber zu erhalten, ob sich
bei Fertigstellung der dortigen Kathedrale im Beginne des vierzehnten Jahr¬
hunderts bereits gehörnte Affen unter den Figuren der Balustrade befanden,
und, wenn dies der Fall, ob Viollet-le-Duc bei seinen Restaurationsarbeiten
davon Kenntnis hatte. Möglich ist es immerhin, daß die modernen, nach
Viollets Zeichnungen angefertigten Chimären ähnliche aus dem vierzehnten
Jahrhundert wiederholen, zumal damals in Paris, wie in den burgundischen
Hauptstädten (nach Lübke) Claux Sluter, ein deutscher oder niederländischer
Bildhauer, vielfach beschäftigt war und dort groteske Figuren an Bauwerken
schuf"). Als sicher kann gelten, daß Viollet-le-Duc die in Frankreich seit 1711



") Viollets zehnbnndigcs vieiioii-üre ein l'itrctuteLture. fr-in?. ein XI jusqu'a XVI siScle
enthält zwar einen Abschnitt „Lculpture", nennt aber darin die cnimöres von Notre
Dame nicht.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/70>, abgerufen am 01.01.2025.