Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Siegfried oder Achill? im Stil etwa an unsere besten Volksbücher anknüpfen. Nur dann könnte die Auch rin den Volksbüchern werden wir einstweilen kein rechtes Glück haben. Am besten sind immer noch die allerdings etwas romantisch gefärbten und Zu erwägen bliebe im Anschluß daran noch die Geschichte. Den Eng¬ Auf die Rolle, die das Märchen bei einer Verjüngung unserer Literatur Was uns allein noch gewiß ist, ist die Sage. Aber auch sie scheint immer Aller praktischen Pädagogik Grundlehre ist Einheit des Stoffes und Stereo¬ Siegfried oder Achill? im Stil etwa an unsere besten Volksbücher anknüpfen. Nur dann könnte die Auch rin den Volksbüchern werden wir einstweilen kein rechtes Glück haben. Am besten sind immer noch die allerdings etwas romantisch gefärbten und Zu erwägen bliebe im Anschluß daran noch die Geschichte. Den Eng¬ Auf die Rolle, die das Märchen bei einer Verjüngung unserer Literatur Was uns allein noch gewiß ist, ist die Sage. Aber auch sie scheint immer Aller praktischen Pädagogik Grundlehre ist Einheit des Stoffes und Stereo¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0616" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328082"/> <fw type="header" place="top"> Siegfried oder Achill?</fw><lb/> <p xml:id="ID_2937" prev="#ID_2936"> im Stil etwa an unsere besten Volksbücher anknüpfen. Nur dann könnte die<lb/> Bibel wieder lebendig werden, d. h. nicht nur oberflächlich „gekannt", sondern<lb/> in die lebendige Phantasie des Volkes wieder eingehen. Bis dahin aber scheidet<lb/> diese Quelle aus.</p><lb/> <p xml:id="ID_2938"> Auch rin den Volksbüchern werden wir einstweilen kein rechtes Glück haben.<lb/> Die modernen Publikationen leiden alle unter recht bedenklichen Mängeln.</p><lb/> <p xml:id="ID_2939"> Am besten sind immer noch die allerdings etwas romantisch gefärbten und<lb/> daher im einzelnen veralteten, in den Reden hier und da etwas langatmigen<lb/> Marbachschen Volksbücher. Im ganzen werden wir abwarten müssen, wie weit<lb/> sich die Jugend der prächtigen alten Geschichten bemächtigt. Auch auf den sehr<lb/> ergibigen Schatz katholischer Legenden sei nachdrücklich hingewiesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2940"> Zu erwägen bliebe im Anschluß daran noch die Geschichte. Den Eng¬<lb/> ländern ist in Shakespeare ein großer Teil ihrer nnttelalterlichen Geschichte<lb/> lebendig erhalten geblieben, die Franzosen haben einen großen Stoffkreis, der<lb/> sich um Richelieu und Ludwig den Vierzehnten gruppiert. Uns Deutschen fehlt<lb/> es auch daran, weil wir keine alte eigentlich nationale Geschichte haben, weil<lb/> unsere glänzendsten Kaisergestalten ins Kosmopolitische strebten. Deshalb ist<lb/> selbst die Hohenstaufcngeschichte trotz Grabbe und Raupach kein nationales Gut<lb/> geworden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2941"> Auf die Rolle, die das Märchen bei einer Verjüngung unserer Literatur<lb/> spielen könnte, denke ich in kurzem zurückzukommen. Es setzt, soll es lebendig<lb/> bleiben, stetige intime Berührung mit der Natur und offenen Blick für das<lb/> Leben voraus. Beides geht weiten Schichten des Volkes ab und deshalb scheidet<lb/> auch das Märchen einstweilen für unsere Betrachtungen aus.</p><lb/> <p xml:id="ID_2942"> Was uns allein noch gewiß ist, ist die Sage. Aber auch sie scheint immer<lb/> mehr zu verblassen. Wer je in den Oberklassen unserer höheren oder niederen<lb/> Schulen unterrichtet oder ein Proseminar für Kunsthistoriker oder Archäologen<lb/> geleitet hat, ist immer wieder erschreckt über die krasse Unwissenheit der Schüler<lb/> auf diesem Gebiet. Sie kennen weder den Argonautenzug, noch Amor und<lb/> Psyche, weder Wieland den Schmied noch Thors Besuch bei Utgarda-<lb/> Loki. Odyssee und Nibelungenlied haben sie „wieder vergessen". Vom<lb/> Kampf der Sieben gegen Theben, oder Gudrun lebt nichts und jede An¬<lb/> spielung eines Klassikers, die nicht gerade Amor betrifft, bedarf immer von<lb/> neuem ausführlicher Erläuterung. Woher mag das kommen?</p><lb/> <p xml:id="ID_2943" next="#ID_2944"> Aller praktischen Pädagogik Grundlehre ist Einheit des Stoffes und Stereo¬<lb/> typie beim Einprägen. Kein guter Pädagoge gibt dem Lernenden für ein<lb/> Phänomen zwei Erklärungen von verschiedenen Gesichtspunkten aus, spricht eine<lb/> Regel in doppelter Fassung vor: wir aber nähren die Phantasie unserer Schüler<lb/> mit grundverschiedenen Stoffen, mit Stoffen, die sich gegenseitig aufheben, aus¬<lb/> schließen, unwirksam machen. Bald erzählen wir von Zeus dem Olympier, bald<lb/> setzen wir den gewitternden Odin an seine Stelle. Bald heißt der Lichtgott<lb/> Apoll, bald wieder Baldur. Jetzt heißt das Heldenideal, für das Begeisterung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0616]
Siegfried oder Achill?
im Stil etwa an unsere besten Volksbücher anknüpfen. Nur dann könnte die
Bibel wieder lebendig werden, d. h. nicht nur oberflächlich „gekannt", sondern
in die lebendige Phantasie des Volkes wieder eingehen. Bis dahin aber scheidet
diese Quelle aus.
Auch rin den Volksbüchern werden wir einstweilen kein rechtes Glück haben.
Die modernen Publikationen leiden alle unter recht bedenklichen Mängeln.
Am besten sind immer noch die allerdings etwas romantisch gefärbten und
daher im einzelnen veralteten, in den Reden hier und da etwas langatmigen
Marbachschen Volksbücher. Im ganzen werden wir abwarten müssen, wie weit
sich die Jugend der prächtigen alten Geschichten bemächtigt. Auch auf den sehr
ergibigen Schatz katholischer Legenden sei nachdrücklich hingewiesen.
Zu erwägen bliebe im Anschluß daran noch die Geschichte. Den Eng¬
ländern ist in Shakespeare ein großer Teil ihrer nnttelalterlichen Geschichte
lebendig erhalten geblieben, die Franzosen haben einen großen Stoffkreis, der
sich um Richelieu und Ludwig den Vierzehnten gruppiert. Uns Deutschen fehlt
es auch daran, weil wir keine alte eigentlich nationale Geschichte haben, weil
unsere glänzendsten Kaisergestalten ins Kosmopolitische strebten. Deshalb ist
selbst die Hohenstaufcngeschichte trotz Grabbe und Raupach kein nationales Gut
geworden.
Auf die Rolle, die das Märchen bei einer Verjüngung unserer Literatur
spielen könnte, denke ich in kurzem zurückzukommen. Es setzt, soll es lebendig
bleiben, stetige intime Berührung mit der Natur und offenen Blick für das
Leben voraus. Beides geht weiten Schichten des Volkes ab und deshalb scheidet
auch das Märchen einstweilen für unsere Betrachtungen aus.
Was uns allein noch gewiß ist, ist die Sage. Aber auch sie scheint immer
mehr zu verblassen. Wer je in den Oberklassen unserer höheren oder niederen
Schulen unterrichtet oder ein Proseminar für Kunsthistoriker oder Archäologen
geleitet hat, ist immer wieder erschreckt über die krasse Unwissenheit der Schüler
auf diesem Gebiet. Sie kennen weder den Argonautenzug, noch Amor und
Psyche, weder Wieland den Schmied noch Thors Besuch bei Utgarda-
Loki. Odyssee und Nibelungenlied haben sie „wieder vergessen". Vom
Kampf der Sieben gegen Theben, oder Gudrun lebt nichts und jede An¬
spielung eines Klassikers, die nicht gerade Amor betrifft, bedarf immer von
neuem ausführlicher Erläuterung. Woher mag das kommen?
Aller praktischen Pädagogik Grundlehre ist Einheit des Stoffes und Stereo¬
typie beim Einprägen. Kein guter Pädagoge gibt dem Lernenden für ein
Phänomen zwei Erklärungen von verschiedenen Gesichtspunkten aus, spricht eine
Regel in doppelter Fassung vor: wir aber nähren die Phantasie unserer Schüler
mit grundverschiedenen Stoffen, mit Stoffen, die sich gegenseitig aufheben, aus¬
schließen, unwirksam machen. Bald erzählen wir von Zeus dem Olympier, bald
setzen wir den gewitternden Odin an seine Stelle. Bald heißt der Lichtgott
Apoll, bald wieder Baldur. Jetzt heißt das Heldenideal, für das Begeisterung
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