Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Siegfried oder Achill? erweckt werden soll, Odysseus oder Achill, jetzt Siegfried oder Dietrich von Da hilft nur eins: durch Opfern erhalten. Wir müssen uns auf einen Ich bin mir natürlich voll bewußt, daß diese Forderung zunächst ungeheuer Diese Wahl wird uns allerdings, das verhehle ich mir keinen Augenblick, Siegfried oder Achill? erweckt werden soll, Odysseus oder Achill, jetzt Siegfried oder Dietrich von Da hilft nur eins: durch Opfern erhalten. Wir müssen uns auf einen Ich bin mir natürlich voll bewußt, daß diese Forderung zunächst ungeheuer Diese Wahl wird uns allerdings, das verhehle ich mir keinen Augenblick, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0617" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328083"/> <fw type="header" place="top"> Siegfried oder Achill?</fw><lb/> <p xml:id="ID_2944" prev="#ID_2943"> erweckt werden soll, Odysseus oder Achill, jetzt Siegfried oder Dietrich von<lb/> Bern und so in bunter Abwechslung, je nach dem vorgeschriebenen Lehrstoff von<lb/> antiker Sage zu Nibelungenlied, von Homer zur Edda, von Goethe und Grill-<lb/> parzer zu Hebbel und Wagner. Alles, was wir damit erreichen, ist lediglich,<lb/> daß wir das, was die Phantasie als ein Lebendiges erfüllen soll, in tot¬<lb/> bleibenden Lernstoff verwandeln. Der Schüler hat nicht Zeit, sich in eine<lb/> Phantasiewelt einzuleben. Wir zerstören die Bildkraft der Sagen, wenn die<lb/> Phantasie nie auf ein bestimmtes Bild allein gelenkt wird, sondern immer ein<lb/> anderes im Wesen grundverschiedenes und doch wieder ähnliches, zu verstandes¬<lb/> mäßigen Vergleichen herausforderndes neben dem zuerst aufgenommenen hat.<lb/> Die Sagen können keine Phantasiewelt mehr sein, sondern nur ein Museum<lb/> mit Aufschriften und Erläuterungen zum gelegentlichen Betrachten.</p><lb/> <p xml:id="ID_2945"> Da hilft nur eins: durch Opfern erhalten. Wir müssen uns auf einen<lb/> Sagenkreis beschränken. Entweder wir räumen mit der antiken oder mit der<lb/> altgermanischen Sage auf. ganz einerlei mit welcher, aber beides nebeneinander<lb/> geht nicht länger.</p><lb/> <p xml:id="ID_2946"> Ich bin mir natürlich voll bewußt, daß diese Forderung zunächst ungeheuer<lb/> paradox erscheinen muß. Doch glaube ich ihre Notwendigkeit Ilargelegt zu haben.<lb/> Eine Wahl muß getroffen werden, denn eine Verschmelzung so heterogener<lb/> Dinge ist unmöglich.</p><lb/> <p xml:id="ID_2947" next="#ID_2948"> Diese Wahl wird uns allerdings, das verhehle ich mir keinen Augenblick,<lb/> schwer genug fallen. Und wenn ich es trotzdem wage, mich hier für eines zu<lb/> entscheiden, so ist das keineswegs verbindlich gemeint, sondern soll lediglich durch<lb/> die Äußerung einer rein persönlichen Ansicht die Diskussion anregen. Ich schicke<lb/> voraus, daß ich in der Jugend kein Griechisch getrieben habe und von Haus<lb/> aus Germanist bin. Der Verdacht der Voreingenommenheit wird also wegfallen<lb/> müssen, wenn ich mich für Beibehaltung der antiken Sagenwelt entscheide. Es<lb/> sprechen dafür gewichtige Gründe. Erstens ist ohne ihre Kenntnis ein Ver¬<lb/> ständnis der bildenden Kunst nicht möglich. Zweitens bildet sie die Grundlage<lb/> für unsere Klassiker (Schillers Gedichte, Goethe, Grillparzer). Drittens wird<lb/> wahrscheinlich niemand auf Homer und die antiken Tragiker verzichten wollen.<lb/> Welche Schätze außerdem noch aus der Antike lebendig gemacht werden können,<lb/> das zeigt u. a. der gut eingeleitete und ausgewählte vortrefflich ausgestattete<lb/> Band „Griechische Märchen, Fabeln, Schwänke und Novellen aus dem klassischen<lb/> Altertum" (Jena, Diederichs. 1913). Endlich ein vielleicht nur im Persönlichen<lb/> liegender Grund: die höhere und lebendigere Bildkraft der Antike. Natürlich<lb/> stehen aber diesen Gründen andere, die für Beibehaltung der germanischen Sage<lb/> sprechen, entgegen. Als erster der, daß es sich hier um nationales Gut handelt.<lb/> Dem ist jedoch zunächst entgegenzuhalten, daß das, auf dem unsere Klassiker<lb/> fußen, eben dadurch nicht minder nationales Gut geworden ist. Vor allem aber<lb/> ist dieses germanische, angeblich nationale Gut ursprünglich alles andere als<lb/> Volksgut gewesen, sondern gelehrte Erneuerung. Es hat sehr lange gedauert, bis</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0617]
Siegfried oder Achill?
erweckt werden soll, Odysseus oder Achill, jetzt Siegfried oder Dietrich von
Bern und so in bunter Abwechslung, je nach dem vorgeschriebenen Lehrstoff von
antiker Sage zu Nibelungenlied, von Homer zur Edda, von Goethe und Grill-
parzer zu Hebbel und Wagner. Alles, was wir damit erreichen, ist lediglich,
daß wir das, was die Phantasie als ein Lebendiges erfüllen soll, in tot¬
bleibenden Lernstoff verwandeln. Der Schüler hat nicht Zeit, sich in eine
Phantasiewelt einzuleben. Wir zerstören die Bildkraft der Sagen, wenn die
Phantasie nie auf ein bestimmtes Bild allein gelenkt wird, sondern immer ein
anderes im Wesen grundverschiedenes und doch wieder ähnliches, zu verstandes¬
mäßigen Vergleichen herausforderndes neben dem zuerst aufgenommenen hat.
Die Sagen können keine Phantasiewelt mehr sein, sondern nur ein Museum
mit Aufschriften und Erläuterungen zum gelegentlichen Betrachten.
Da hilft nur eins: durch Opfern erhalten. Wir müssen uns auf einen
Sagenkreis beschränken. Entweder wir räumen mit der antiken oder mit der
altgermanischen Sage auf. ganz einerlei mit welcher, aber beides nebeneinander
geht nicht länger.
Ich bin mir natürlich voll bewußt, daß diese Forderung zunächst ungeheuer
paradox erscheinen muß. Doch glaube ich ihre Notwendigkeit Ilargelegt zu haben.
Eine Wahl muß getroffen werden, denn eine Verschmelzung so heterogener
Dinge ist unmöglich.
Diese Wahl wird uns allerdings, das verhehle ich mir keinen Augenblick,
schwer genug fallen. Und wenn ich es trotzdem wage, mich hier für eines zu
entscheiden, so ist das keineswegs verbindlich gemeint, sondern soll lediglich durch
die Äußerung einer rein persönlichen Ansicht die Diskussion anregen. Ich schicke
voraus, daß ich in der Jugend kein Griechisch getrieben habe und von Haus
aus Germanist bin. Der Verdacht der Voreingenommenheit wird also wegfallen
müssen, wenn ich mich für Beibehaltung der antiken Sagenwelt entscheide. Es
sprechen dafür gewichtige Gründe. Erstens ist ohne ihre Kenntnis ein Ver¬
ständnis der bildenden Kunst nicht möglich. Zweitens bildet sie die Grundlage
für unsere Klassiker (Schillers Gedichte, Goethe, Grillparzer). Drittens wird
wahrscheinlich niemand auf Homer und die antiken Tragiker verzichten wollen.
Welche Schätze außerdem noch aus der Antike lebendig gemacht werden können,
das zeigt u. a. der gut eingeleitete und ausgewählte vortrefflich ausgestattete
Band „Griechische Märchen, Fabeln, Schwänke und Novellen aus dem klassischen
Altertum" (Jena, Diederichs. 1913). Endlich ein vielleicht nur im Persönlichen
liegender Grund: die höhere und lebendigere Bildkraft der Antike. Natürlich
stehen aber diesen Gründen andere, die für Beibehaltung der germanischen Sage
sprechen, entgegen. Als erster der, daß es sich hier um nationales Gut handelt.
Dem ist jedoch zunächst entgegenzuhalten, daß das, auf dem unsere Klassiker
fußen, eben dadurch nicht minder nationales Gut geworden ist. Vor allem aber
ist dieses germanische, angeblich nationale Gut ursprünglich alles andere als
Volksgut gewesen, sondern gelehrte Erneuerung. Es hat sehr lange gedauert, bis
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