Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Siegfried oder Achill? eines dauernden Erfolges ist. Alles, was wir übereinstimmend "große Kunst" Es bleibt uns nun nur noch übrig, die Art dieses Fundamentes näher zu Damit wäre unsere Frage beantwortet. Sie mag uns aber zugleich Anlaß Die Bibel ist bei uns ja lange ein Volksbuch gewesen, und zwar das Siegfried oder Achill? eines dauernden Erfolges ist. Alles, was wir übereinstimmend „große Kunst" Es bleibt uns nun nur noch übrig, die Art dieses Fundamentes näher zu Damit wäre unsere Frage beantwortet. Sie mag uns aber zugleich Anlaß Die Bibel ist bei uns ja lange ein Volksbuch gewesen, und zwar das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328081"/> <fw type="header" place="top"> Siegfried oder Achill?</fw><lb/> <p xml:id="ID_2933" prev="#ID_2932"> eines dauernden Erfolges ist. Alles, was wir übereinstimmend „große Kunst"<lb/> nennen (und was lange nicht alles große künstlerische Können umfaßt), ist auf¬<lb/> gebaut auf den allereinfachsten menschlichen Geschehnissen, Konflikten und Leiden¬<lb/> schaften. Aber diese Einfachheit allein genügt nicht. Es gibt eine gewisse<lb/> raffinierte Einfachheit, die alles andere, als volkstümlich ist. Um wirklich nach¬<lb/> haltig zu wirken, muß die Kunst alles Fremdartige, jede Überraschung ver¬<lb/> meiden, sie muß vielmehr aussprechen, was dumpf in jeder Brust liegt, nur<lb/> dann überzeugt sie. Dieses Aussprechen des Naheliegenden ist aber nur möglich,<lb/> wo die Kunst sich auf ein Fundament stützen kann, das allen erreichbar und<lb/> wertvoll ist. Ohne dieses Fundament kann auch die beste Kunst, so sehr auch<lb/> einige Hochgebildete sie preisen mögen, nimmermehr ein allgemeines Echo<lb/> wecken; wenn sie nicht allgemein interessiert, so kann sie nie populär werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2934"> Es bleibt uns nun nur noch übrig, die Art dieses Fundamentes näher zu<lb/> bestimmen. Es besteht aus einem Schatze von allgemein gekannten und be¬<lb/> liebten Geschichten, Motiven, Anschauungen und Empfindungen. Die Quellen<lb/> dieser Geschichten und Anschauungen sind Religion und Kultus (religiöse Mythen),<lb/> gemeinsame Beobachtungen (Natursagen, Tiermärchen, gewisse typische Er¬<lb/> zählungen mit typischen Personen, wie dem dummen Hans, der dann doch<lb/> klüger ist als seine Brüder usw.), gemeinsame Wünsche (Märchen, z. B. von<lb/> Wunderdingen, von der armen Bauerstochter, die den Prinzen heiratet), große<lb/> politische Ereignisse (Heldensagen), gleiche Beschäftigung (Schiffer-, Kaufmanns-,<lb/> Jägererzählungen). Und nur wo die Kunst auf diesem Fundament fußt, kann<lb/> sie populär werden. Man prüfe gute „verkannte" oder nicht genug gewürdigte<lb/> Werke daraufhin, und die Richtigkeit dieser Schlußfolge wird einleuchten.</p><lb/> <p xml:id="ID_2935"> Damit wäre unsere Frage beantwortet. Sie mag uns aber zugleich Anlaß<lb/> geben zu einer kurzen Untersuchung, wie es denn bei uns um dieses Fundament<lb/> steht. In Betracht kommen dafür, roh aufgezählt: Bibel, Sage, Volksbuch und<lb/> Märchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2936" next="#ID_2937"> Die Bibel ist bei uns ja lange ein Volksbuch gewesen, und zwar das<lb/> Alte Testament mit seinen köstlichen einfachen Geschichten mindestens im gleichen<lb/> Maße wie das neue. Man bedenke nur, wie klein Rembrandts Werk werden<lb/> würde ohne die Voraussetzung dieses volkstümlichen Fundamentes. Noch im<lb/> achtzehnten Jahrhundert war die Bibel Gemeingut des Volkes, der Erfolg von<lb/> Klopstocks „Messias" ist ohne dieses gar nicht zu erklären, noch Goethe verdankt<lb/> ihr köstliches Sprachgnt. Heute ist es damit vorbei.. Trotz Religions- und<lb/> Konfirmandenunterrichts stoßen wir in fast allen Kreisen der Gebildeten wie des<lb/> Volkes auf eine so erschreckende Unkenntnis der Bibelgeschichten, daß die Frage<lb/> ernsthaft zu erwägen bleibt, ob nicht mindestens das Alte Testament einer<lb/> modernen volksbuchartigen Erneuerung bedürfe. Eine solche Erneuerung, mit<lb/> der sich der Verfasser seit langem trägt, müßte alles Fremdartige vermeiden,<lb/> allen Ballast fallen lassen, hier und da ohne Scheu modernisieren, aber vor<lb/> allem anschaulich, ohne „Psychologie" oder falsche Empfindsamkeit erzählen und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0615]
Siegfried oder Achill?
eines dauernden Erfolges ist. Alles, was wir übereinstimmend „große Kunst"
nennen (und was lange nicht alles große künstlerische Können umfaßt), ist auf¬
gebaut auf den allereinfachsten menschlichen Geschehnissen, Konflikten und Leiden¬
schaften. Aber diese Einfachheit allein genügt nicht. Es gibt eine gewisse
raffinierte Einfachheit, die alles andere, als volkstümlich ist. Um wirklich nach¬
haltig zu wirken, muß die Kunst alles Fremdartige, jede Überraschung ver¬
meiden, sie muß vielmehr aussprechen, was dumpf in jeder Brust liegt, nur
dann überzeugt sie. Dieses Aussprechen des Naheliegenden ist aber nur möglich,
wo die Kunst sich auf ein Fundament stützen kann, das allen erreichbar und
wertvoll ist. Ohne dieses Fundament kann auch die beste Kunst, so sehr auch
einige Hochgebildete sie preisen mögen, nimmermehr ein allgemeines Echo
wecken; wenn sie nicht allgemein interessiert, so kann sie nie populär werden.
Es bleibt uns nun nur noch übrig, die Art dieses Fundamentes näher zu
bestimmen. Es besteht aus einem Schatze von allgemein gekannten und be¬
liebten Geschichten, Motiven, Anschauungen und Empfindungen. Die Quellen
dieser Geschichten und Anschauungen sind Religion und Kultus (religiöse Mythen),
gemeinsame Beobachtungen (Natursagen, Tiermärchen, gewisse typische Er¬
zählungen mit typischen Personen, wie dem dummen Hans, der dann doch
klüger ist als seine Brüder usw.), gemeinsame Wünsche (Märchen, z. B. von
Wunderdingen, von der armen Bauerstochter, die den Prinzen heiratet), große
politische Ereignisse (Heldensagen), gleiche Beschäftigung (Schiffer-, Kaufmanns-,
Jägererzählungen). Und nur wo die Kunst auf diesem Fundament fußt, kann
sie populär werden. Man prüfe gute „verkannte" oder nicht genug gewürdigte
Werke daraufhin, und die Richtigkeit dieser Schlußfolge wird einleuchten.
Damit wäre unsere Frage beantwortet. Sie mag uns aber zugleich Anlaß
geben zu einer kurzen Untersuchung, wie es denn bei uns um dieses Fundament
steht. In Betracht kommen dafür, roh aufgezählt: Bibel, Sage, Volksbuch und
Märchen.
Die Bibel ist bei uns ja lange ein Volksbuch gewesen, und zwar das
Alte Testament mit seinen köstlichen einfachen Geschichten mindestens im gleichen
Maße wie das neue. Man bedenke nur, wie klein Rembrandts Werk werden
würde ohne die Voraussetzung dieses volkstümlichen Fundamentes. Noch im
achtzehnten Jahrhundert war die Bibel Gemeingut des Volkes, der Erfolg von
Klopstocks „Messias" ist ohne dieses gar nicht zu erklären, noch Goethe verdankt
ihr köstliches Sprachgnt. Heute ist es damit vorbei.. Trotz Religions- und
Konfirmandenunterrichts stoßen wir in fast allen Kreisen der Gebildeten wie des
Volkes auf eine so erschreckende Unkenntnis der Bibelgeschichten, daß die Frage
ernsthaft zu erwägen bleibt, ob nicht mindestens das Alte Testament einer
modernen volksbuchartigen Erneuerung bedürfe. Eine solche Erneuerung, mit
der sich der Verfasser seit langem trägt, müßte alles Fremdartige vermeiden,
allen Ballast fallen lassen, hier und da ohne Scheu modernisieren, aber vor
allem anschaulich, ohne „Psychologie" oder falsche Empfindsamkeit erzählen und
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