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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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China auf dem Megc zur Monarchie?

betrachtete sich selbst als schuldig. Bekümmert durch die Leiden der Bevölkerung,
entkleidete er sich der kaiserlichen Pracht, zog ein Büßergewand an und bestieg
den Berg Sangur, wo er, zur Erde niedergeworfen, das Gesicht in Tränen
gebadet, folgendes Gebet an den Himmel richtete:

"Erhabener Himmel, warum muß durch meine Schuld das ganze Volk
grausame Not leiden? Wenn ich nicht die Pflichten meiner Stellung erfülle,
wenn ich nicht genug darüber wache, daß das Volk die Tugend übe, wenn
meine Paläste zu üppig sind, wenn ich den Frauen erlaube, übermütig zu
werden, wenn ich nicht genug achte auf Treu und Glaube in? Handel und Ver¬
kehr -- gerechter Himmel, ich allein bin daran schuld. Laß auf mich deinen Grimm
fallen! Hier ist dein Opfer, triff es! Aber habe Erbarmen mit diesem unglück¬
lichen Volk!"

Die Erzählung fährt fort: "Kaum hatte Tschong Tang sein Gebet beendet,
als der Himmel sich bewölkte, und ein Regen fiel, der sich auf mehrere tausend
Meilen in der Runde erstreckte und eine überreiche Ernte verschaffte.

Nachdem Tschong Tang dem Himmel gedankt hatte und nach Hause zurück¬
gekehrt war, ließ er in das Becken, in dem er sich allmorgentlich das Gesicht
wusch, folgende Worte eingravieren: "Sei eingedenk, dich täglich zu erneuern
und mehrere Male täglich!"

Man sieht, welches Gewicht das chinesische Volk bei einem Herrscher auf
innere Qualitäten, aus die Gesinnung legt. Aber auch in äußerlicher Hinsicht
macht man sich bestimmte Vorstellungen von seinem Bild. In anschaulicher
Weise zeigt das folgende Szene, die in der Geschichte des Kaisers Wu Wang
geschildert wird. Wu Wang (1122 bis 1115 v. Chr.) ist der bekannte Gründer
der Dschou-Dynastie und einer der volkstümlichsten Kaiser Chinas. In den
chinesischen Annalen heißt es:

"Als Wu Wang seine Feinde bezwungen hatte, hielt er an der Spitze seines
Heeres feierlichen Einzug in der eroberten Hauptstadt des Reiches. Mit anderen
Flüchtlingen war auch Schang Dung, der einzige Minister des gestürzten Kaisers
Dschou Hsin, in die Stadt zurückgekehrt, um sich inmitten der Volksmenge den
Einzug des Siegers anzusehen.

Der Zug nahte in vorzüglicher Ordnung. An der Spitze ritt Pi Gnug,
der Bruder Wu Waugh. "Ist das unser neuer König?" fragte das Volk
Schang Dung. "Nein," erwiderte der, "sein Blick ist zu stolz. Des Weisen
Miene ist bescheiden, in allem, was er unternimmt, scheint er eher ängstlich zu sein."

Hierauf erschien auf prächtigem Roß Tai Gnug mit einem Aussehen, das
Furcht einjagte. Von seinem bloßen Anblick erschreckt, fragte das Volk Schang
Dung: "Ist das unser neuer König?" "Nein." war die Antwort, "den da
könnte man, selbst wenn er ruht, sür einen Tiger halten, für einen Adler, wenn
er sich erhebt, im Kampf läßt er sich durch sein kochendes Blut zu ungestümer
Hitze fortreißen. So ist der Weise nicht. Der Weise geht vor oder weicht
zurück, beides mit Bedacht."


China auf dem Megc zur Monarchie?

betrachtete sich selbst als schuldig. Bekümmert durch die Leiden der Bevölkerung,
entkleidete er sich der kaiserlichen Pracht, zog ein Büßergewand an und bestieg
den Berg Sangur, wo er, zur Erde niedergeworfen, das Gesicht in Tränen
gebadet, folgendes Gebet an den Himmel richtete:

„Erhabener Himmel, warum muß durch meine Schuld das ganze Volk
grausame Not leiden? Wenn ich nicht die Pflichten meiner Stellung erfülle,
wenn ich nicht genug darüber wache, daß das Volk die Tugend übe, wenn
meine Paläste zu üppig sind, wenn ich den Frauen erlaube, übermütig zu
werden, wenn ich nicht genug achte auf Treu und Glaube in? Handel und Ver¬
kehr — gerechter Himmel, ich allein bin daran schuld. Laß auf mich deinen Grimm
fallen! Hier ist dein Opfer, triff es! Aber habe Erbarmen mit diesem unglück¬
lichen Volk!"

Die Erzählung fährt fort: „Kaum hatte Tschong Tang sein Gebet beendet,
als der Himmel sich bewölkte, und ein Regen fiel, der sich auf mehrere tausend
Meilen in der Runde erstreckte und eine überreiche Ernte verschaffte.

Nachdem Tschong Tang dem Himmel gedankt hatte und nach Hause zurück¬
gekehrt war, ließ er in das Becken, in dem er sich allmorgentlich das Gesicht
wusch, folgende Worte eingravieren: „Sei eingedenk, dich täglich zu erneuern
und mehrere Male täglich!"

Man sieht, welches Gewicht das chinesische Volk bei einem Herrscher auf
innere Qualitäten, aus die Gesinnung legt. Aber auch in äußerlicher Hinsicht
macht man sich bestimmte Vorstellungen von seinem Bild. In anschaulicher
Weise zeigt das folgende Szene, die in der Geschichte des Kaisers Wu Wang
geschildert wird. Wu Wang (1122 bis 1115 v. Chr.) ist der bekannte Gründer
der Dschou-Dynastie und einer der volkstümlichsten Kaiser Chinas. In den
chinesischen Annalen heißt es:

„Als Wu Wang seine Feinde bezwungen hatte, hielt er an der Spitze seines
Heeres feierlichen Einzug in der eroberten Hauptstadt des Reiches. Mit anderen
Flüchtlingen war auch Schang Dung, der einzige Minister des gestürzten Kaisers
Dschou Hsin, in die Stadt zurückgekehrt, um sich inmitten der Volksmenge den
Einzug des Siegers anzusehen.

Der Zug nahte in vorzüglicher Ordnung. An der Spitze ritt Pi Gnug,
der Bruder Wu Waugh. „Ist das unser neuer König?" fragte das Volk
Schang Dung. „Nein," erwiderte der, „sein Blick ist zu stolz. Des Weisen
Miene ist bescheiden, in allem, was er unternimmt, scheint er eher ängstlich zu sein."

Hierauf erschien auf prächtigem Roß Tai Gnug mit einem Aussehen, das
Furcht einjagte. Von seinem bloßen Anblick erschreckt, fragte das Volk Schang
Dung: „Ist das unser neuer König?" „Nein." war die Antwort, „den da
könnte man, selbst wenn er ruht, sür einen Tiger halten, für einen Adler, wenn
er sich erhebt, im Kampf läßt er sich durch sein kochendes Blut zu ungestümer
Hitze fortreißen. So ist der Weise nicht. Der Weise geht vor oder weicht
zurück, beides mit Bedacht."


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[0599] China auf dem Megc zur Monarchie? betrachtete sich selbst als schuldig. Bekümmert durch die Leiden der Bevölkerung, entkleidete er sich der kaiserlichen Pracht, zog ein Büßergewand an und bestieg den Berg Sangur, wo er, zur Erde niedergeworfen, das Gesicht in Tränen gebadet, folgendes Gebet an den Himmel richtete: „Erhabener Himmel, warum muß durch meine Schuld das ganze Volk grausame Not leiden? Wenn ich nicht die Pflichten meiner Stellung erfülle, wenn ich nicht genug darüber wache, daß das Volk die Tugend übe, wenn meine Paläste zu üppig sind, wenn ich den Frauen erlaube, übermütig zu werden, wenn ich nicht genug achte auf Treu und Glaube in? Handel und Ver¬ kehr — gerechter Himmel, ich allein bin daran schuld. Laß auf mich deinen Grimm fallen! Hier ist dein Opfer, triff es! Aber habe Erbarmen mit diesem unglück¬ lichen Volk!" Die Erzählung fährt fort: „Kaum hatte Tschong Tang sein Gebet beendet, als der Himmel sich bewölkte, und ein Regen fiel, der sich auf mehrere tausend Meilen in der Runde erstreckte und eine überreiche Ernte verschaffte. Nachdem Tschong Tang dem Himmel gedankt hatte und nach Hause zurück¬ gekehrt war, ließ er in das Becken, in dem er sich allmorgentlich das Gesicht wusch, folgende Worte eingravieren: „Sei eingedenk, dich täglich zu erneuern und mehrere Male täglich!" Man sieht, welches Gewicht das chinesische Volk bei einem Herrscher auf innere Qualitäten, aus die Gesinnung legt. Aber auch in äußerlicher Hinsicht macht man sich bestimmte Vorstellungen von seinem Bild. In anschaulicher Weise zeigt das folgende Szene, die in der Geschichte des Kaisers Wu Wang geschildert wird. Wu Wang (1122 bis 1115 v. Chr.) ist der bekannte Gründer der Dschou-Dynastie und einer der volkstümlichsten Kaiser Chinas. In den chinesischen Annalen heißt es: „Als Wu Wang seine Feinde bezwungen hatte, hielt er an der Spitze seines Heeres feierlichen Einzug in der eroberten Hauptstadt des Reiches. Mit anderen Flüchtlingen war auch Schang Dung, der einzige Minister des gestürzten Kaisers Dschou Hsin, in die Stadt zurückgekehrt, um sich inmitten der Volksmenge den Einzug des Siegers anzusehen. Der Zug nahte in vorzüglicher Ordnung. An der Spitze ritt Pi Gnug, der Bruder Wu Waugh. „Ist das unser neuer König?" fragte das Volk Schang Dung. „Nein," erwiderte der, „sein Blick ist zu stolz. Des Weisen Miene ist bescheiden, in allem, was er unternimmt, scheint er eher ängstlich zu sein." Hierauf erschien auf prächtigem Roß Tai Gnug mit einem Aussehen, das Furcht einjagte. Von seinem bloßen Anblick erschreckt, fragte das Volk Schang Dung: „Ist das unser neuer König?" „Nein." war die Antwort, „den da könnte man, selbst wenn er ruht, sür einen Tiger halten, für einen Adler, wenn er sich erhebt, im Kampf läßt er sich durch sein kochendes Blut zu ungestümer Hitze fortreißen. So ist der Weise nicht. Der Weise geht vor oder weicht zurück, beides mit Bedacht."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/599>, abgerufen am 04.01.2025.