Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
China auf dem Mege zur Monarchie?

An der Spitze einer dritten Abteilung folgte in würdevoller Haltung Dschou
Gnug. Alsbald glaubte das Volk, das sei der König. Schang Uung verneinte
abermals. "Dieser da blickt stets ernst und streng. Sein Denken zielt einzig
auf Vernichtung des Schlechten. Obwohl er nicht der Sohn des Himmels, der
Herr des Reiches ist, so ist er sein erster Minister und Lenker. Der Weise
versteht durch seinesgleichen Furcht einzuflößen."

Als er noch sprach, erschien eine majestätische Gestalt, sein Blick war be¬
scheiden, seine Miene ernst und doch zugleich mild, er war umgeben von einer
Schar Ritter, deren ehrfurchtsvolle Haltung zeigte, daß sie ihrem Herrn folgten.
Die Menge rief aus: "Kein Zweifel, das ist unser neuer König."

"Er ist es," sprach Schang Uung. "Der Weise, der das Böse bekämpft
und dem Guten hilft, bemeistert seine Empfindungen. Er verrät nicht seinen
Zorn gegen das Erste, noch seine Freude beim Anblick des Zweiten." --

Das chinesische Volk verlangt vor allem von seinem Herrscher, daß er
ihm durch seine eigene Person, seine eigene Führung ein Vorbild und daher
stets bestrebt sei, sich persönlich zu bessern und zu vervollkommnen. In welchem Maße
Wu Wang dieser Forderung entsprach, wird in folgender Erzählung veranschaulicht.

"Eines Tages sprach Wu Wang zu seinem Erzieher Tschang Fu: "Gibt
es noch eine schriftliche Aufzeichnung der bewunderungswürdigen Lehren der
ersten Kaiser Huang Di und Tschuan Hsiu?" "Sie findet sich im Buche Tau
sehn, und wenn Eure Majestät seinen Inhalt zu hören wünscht, so bereite sie
sich durch Fasten vor," erwiderte Tschang Fu.

Beide fasteten drei Tage. Hierauf trafen sie sich, in Feiergewänder gehüllt.
Tschang Fu betrat einen Saal, Wu Wang blieb vor der Schwelle stehen, das
Antlitz nach Süden gewandt. Tschang Fu bemerkte: "Die alten Herrscher pflegten
sich nicht so gerade nach dem Süden zu wenden. Kehrt Euch nach Südost und
schaut aufrecht nach Osten."

Hiernach las er, selbst nach Westen gewandt, wie folgt:

"Demut, die mehr ist als Feigheit, ist lobenswert; Demut, von Feigheit
eingegeben, ist unnütz. Daß Gerechtigkeit über die Leidenschaften herrscht, ist
in Ordnung; Gerechtigkeit, Untertan den Leidenschaften, erzeugt Verwirrung.
Wer müßig geht, verfällt in Ausschweifung. Wer ohne Demut ist, hat keine
Aufrichtigkeit. Die Ausschweifenden und Unaufrichtigen fallen unrettbar und
ernten Fluch. Die Demütigen und Aufrichtigen dagegen bestehen und ernten
Segen. Diese Worte zeigen den Weg, die Tugend zu üben, dem Volk den
Frieden zu erhalten und der Nachwelt tausendfachen Segen zu spenden."

Als Wu Wang diese Worte hörte, zog er sich zitternd zurück, entschlossen,
ihre Lehre in die Tat umzusetzen. Ani sie nicht zu vergessen, ließ er sie überall
in seinem Palast anbringen, an Wänden und Möbeln, selbst an den Gewändern.
Auf die Platten der Tische ließ er die Inschrift eingaben: "Handle in allem
mit Demut und Vorsicht, hüte dich, daß deine Zunge nicht Verwirrung stifte.
Die Zunge vergiftet die besten Gedanken und zerstört ihre Wirkung."


China auf dem Mege zur Monarchie?

An der Spitze einer dritten Abteilung folgte in würdevoller Haltung Dschou
Gnug. Alsbald glaubte das Volk, das sei der König. Schang Uung verneinte
abermals. „Dieser da blickt stets ernst und streng. Sein Denken zielt einzig
auf Vernichtung des Schlechten. Obwohl er nicht der Sohn des Himmels, der
Herr des Reiches ist, so ist er sein erster Minister und Lenker. Der Weise
versteht durch seinesgleichen Furcht einzuflößen."

Als er noch sprach, erschien eine majestätische Gestalt, sein Blick war be¬
scheiden, seine Miene ernst und doch zugleich mild, er war umgeben von einer
Schar Ritter, deren ehrfurchtsvolle Haltung zeigte, daß sie ihrem Herrn folgten.
Die Menge rief aus: „Kein Zweifel, das ist unser neuer König."

„Er ist es," sprach Schang Uung. „Der Weise, der das Böse bekämpft
und dem Guten hilft, bemeistert seine Empfindungen. Er verrät nicht seinen
Zorn gegen das Erste, noch seine Freude beim Anblick des Zweiten." —

Das chinesische Volk verlangt vor allem von seinem Herrscher, daß er
ihm durch seine eigene Person, seine eigene Führung ein Vorbild und daher
stets bestrebt sei, sich persönlich zu bessern und zu vervollkommnen. In welchem Maße
Wu Wang dieser Forderung entsprach, wird in folgender Erzählung veranschaulicht.

„Eines Tages sprach Wu Wang zu seinem Erzieher Tschang Fu: „Gibt
es noch eine schriftliche Aufzeichnung der bewunderungswürdigen Lehren der
ersten Kaiser Huang Di und Tschuan Hsiu?" „Sie findet sich im Buche Tau
sehn, und wenn Eure Majestät seinen Inhalt zu hören wünscht, so bereite sie
sich durch Fasten vor," erwiderte Tschang Fu.

Beide fasteten drei Tage. Hierauf trafen sie sich, in Feiergewänder gehüllt.
Tschang Fu betrat einen Saal, Wu Wang blieb vor der Schwelle stehen, das
Antlitz nach Süden gewandt. Tschang Fu bemerkte: „Die alten Herrscher pflegten
sich nicht so gerade nach dem Süden zu wenden. Kehrt Euch nach Südost und
schaut aufrecht nach Osten."

Hiernach las er, selbst nach Westen gewandt, wie folgt:

„Demut, die mehr ist als Feigheit, ist lobenswert; Demut, von Feigheit
eingegeben, ist unnütz. Daß Gerechtigkeit über die Leidenschaften herrscht, ist
in Ordnung; Gerechtigkeit, Untertan den Leidenschaften, erzeugt Verwirrung.
Wer müßig geht, verfällt in Ausschweifung. Wer ohne Demut ist, hat keine
Aufrichtigkeit. Die Ausschweifenden und Unaufrichtigen fallen unrettbar und
ernten Fluch. Die Demütigen und Aufrichtigen dagegen bestehen und ernten
Segen. Diese Worte zeigen den Weg, die Tugend zu üben, dem Volk den
Frieden zu erhalten und der Nachwelt tausendfachen Segen zu spenden."

Als Wu Wang diese Worte hörte, zog er sich zitternd zurück, entschlossen,
ihre Lehre in die Tat umzusetzen. Ani sie nicht zu vergessen, ließ er sie überall
in seinem Palast anbringen, an Wänden und Möbeln, selbst an den Gewändern.
Auf die Platten der Tische ließ er die Inschrift eingaben: „Handle in allem
mit Demut und Vorsicht, hüte dich, daß deine Zunge nicht Verwirrung stifte.
Die Zunge vergiftet die besten Gedanken und zerstört ihre Wirkung."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0600" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328066"/>
          <fw type="header" place="top"> China auf dem Mege zur Monarchie?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2794"> An der Spitze einer dritten Abteilung folgte in würdevoller Haltung Dschou<lb/>
Gnug. Alsbald glaubte das Volk, das sei der König. Schang Uung verneinte<lb/>
abermals. &#x201E;Dieser da blickt stets ernst und streng. Sein Denken zielt einzig<lb/>
auf Vernichtung des Schlechten. Obwohl er nicht der Sohn des Himmels, der<lb/>
Herr des Reiches ist, so ist er sein erster Minister und Lenker. Der Weise<lb/>
versteht durch seinesgleichen Furcht einzuflößen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2795"> Als er noch sprach, erschien eine majestätische Gestalt, sein Blick war be¬<lb/>
scheiden, seine Miene ernst und doch zugleich mild, er war umgeben von einer<lb/>
Schar Ritter, deren ehrfurchtsvolle Haltung zeigte, daß sie ihrem Herrn folgten.<lb/>
Die Menge rief aus: &#x201E;Kein Zweifel, das ist unser neuer König."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2796"> &#x201E;Er ist es," sprach Schang Uung. &#x201E;Der Weise, der das Böse bekämpft<lb/>
und dem Guten hilft, bemeistert seine Empfindungen. Er verrät nicht seinen<lb/>
Zorn gegen das Erste, noch seine Freude beim Anblick des Zweiten." &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2797"> Das chinesische Volk verlangt vor allem von seinem Herrscher, daß er<lb/>
ihm durch seine eigene Person, seine eigene Führung ein Vorbild und daher<lb/>
stets bestrebt sei, sich persönlich zu bessern und zu vervollkommnen. In welchem Maße<lb/>
Wu Wang dieser Forderung entsprach, wird in folgender Erzählung veranschaulicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2798"> &#x201E;Eines Tages sprach Wu Wang zu seinem Erzieher Tschang Fu: &#x201E;Gibt<lb/>
es noch eine schriftliche Aufzeichnung der bewunderungswürdigen Lehren der<lb/>
ersten Kaiser Huang Di und Tschuan Hsiu?" &#x201E;Sie findet sich im Buche Tau<lb/>
sehn, und wenn Eure Majestät seinen Inhalt zu hören wünscht, so bereite sie<lb/>
sich durch Fasten vor," erwiderte Tschang Fu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2799"> Beide fasteten drei Tage. Hierauf trafen sie sich, in Feiergewänder gehüllt.<lb/>
Tschang Fu betrat einen Saal, Wu Wang blieb vor der Schwelle stehen, das<lb/>
Antlitz nach Süden gewandt. Tschang Fu bemerkte: &#x201E;Die alten Herrscher pflegten<lb/>
sich nicht so gerade nach dem Süden zu wenden. Kehrt Euch nach Südost und<lb/>
schaut aufrecht nach Osten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2800"> Hiernach las er, selbst nach Westen gewandt, wie folgt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2801"> &#x201E;Demut, die mehr ist als Feigheit, ist lobenswert; Demut, von Feigheit<lb/>
eingegeben, ist unnütz. Daß Gerechtigkeit über die Leidenschaften herrscht, ist<lb/>
in Ordnung; Gerechtigkeit, Untertan den Leidenschaften, erzeugt Verwirrung.<lb/>
Wer müßig geht, verfällt in Ausschweifung. Wer ohne Demut ist, hat keine<lb/>
Aufrichtigkeit. Die Ausschweifenden und Unaufrichtigen fallen unrettbar und<lb/>
ernten Fluch. Die Demütigen und Aufrichtigen dagegen bestehen und ernten<lb/>
Segen. Diese Worte zeigen den Weg, die Tugend zu üben, dem Volk den<lb/>
Frieden zu erhalten und der Nachwelt tausendfachen Segen zu spenden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2802"> Als Wu Wang diese Worte hörte, zog er sich zitternd zurück, entschlossen,<lb/>
ihre Lehre in die Tat umzusetzen. Ani sie nicht zu vergessen, ließ er sie überall<lb/>
in seinem Palast anbringen, an Wänden und Möbeln, selbst an den Gewändern.<lb/>
Auf die Platten der Tische ließ er die Inschrift eingaben: &#x201E;Handle in allem<lb/>
mit Demut und Vorsicht, hüte dich, daß deine Zunge nicht Verwirrung stifte.<lb/>
Die Zunge vergiftet die besten Gedanken und zerstört ihre Wirkung."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0600] China auf dem Mege zur Monarchie? An der Spitze einer dritten Abteilung folgte in würdevoller Haltung Dschou Gnug. Alsbald glaubte das Volk, das sei der König. Schang Uung verneinte abermals. „Dieser da blickt stets ernst und streng. Sein Denken zielt einzig auf Vernichtung des Schlechten. Obwohl er nicht der Sohn des Himmels, der Herr des Reiches ist, so ist er sein erster Minister und Lenker. Der Weise versteht durch seinesgleichen Furcht einzuflößen." Als er noch sprach, erschien eine majestätische Gestalt, sein Blick war be¬ scheiden, seine Miene ernst und doch zugleich mild, er war umgeben von einer Schar Ritter, deren ehrfurchtsvolle Haltung zeigte, daß sie ihrem Herrn folgten. Die Menge rief aus: „Kein Zweifel, das ist unser neuer König." „Er ist es," sprach Schang Uung. „Der Weise, der das Böse bekämpft und dem Guten hilft, bemeistert seine Empfindungen. Er verrät nicht seinen Zorn gegen das Erste, noch seine Freude beim Anblick des Zweiten." — Das chinesische Volk verlangt vor allem von seinem Herrscher, daß er ihm durch seine eigene Person, seine eigene Führung ein Vorbild und daher stets bestrebt sei, sich persönlich zu bessern und zu vervollkommnen. In welchem Maße Wu Wang dieser Forderung entsprach, wird in folgender Erzählung veranschaulicht. „Eines Tages sprach Wu Wang zu seinem Erzieher Tschang Fu: „Gibt es noch eine schriftliche Aufzeichnung der bewunderungswürdigen Lehren der ersten Kaiser Huang Di und Tschuan Hsiu?" „Sie findet sich im Buche Tau sehn, und wenn Eure Majestät seinen Inhalt zu hören wünscht, so bereite sie sich durch Fasten vor," erwiderte Tschang Fu. Beide fasteten drei Tage. Hierauf trafen sie sich, in Feiergewänder gehüllt. Tschang Fu betrat einen Saal, Wu Wang blieb vor der Schwelle stehen, das Antlitz nach Süden gewandt. Tschang Fu bemerkte: „Die alten Herrscher pflegten sich nicht so gerade nach dem Süden zu wenden. Kehrt Euch nach Südost und schaut aufrecht nach Osten." Hiernach las er, selbst nach Westen gewandt, wie folgt: „Demut, die mehr ist als Feigheit, ist lobenswert; Demut, von Feigheit eingegeben, ist unnütz. Daß Gerechtigkeit über die Leidenschaften herrscht, ist in Ordnung; Gerechtigkeit, Untertan den Leidenschaften, erzeugt Verwirrung. Wer müßig geht, verfällt in Ausschweifung. Wer ohne Demut ist, hat keine Aufrichtigkeit. Die Ausschweifenden und Unaufrichtigen fallen unrettbar und ernten Fluch. Die Demütigen und Aufrichtigen dagegen bestehen und ernten Segen. Diese Worte zeigen den Weg, die Tugend zu üben, dem Volk den Frieden zu erhalten und der Nachwelt tausendfachen Segen zu spenden." Als Wu Wang diese Worte hörte, zog er sich zitternd zurück, entschlossen, ihre Lehre in die Tat umzusetzen. Ani sie nicht zu vergessen, ließ er sie überall in seinem Palast anbringen, an Wänden und Möbeln, selbst an den Gewändern. Auf die Platten der Tische ließ er die Inschrift eingaben: „Handle in allem mit Demut und Vorsicht, hüte dich, daß deine Zunge nicht Verwirrung stifte. Die Zunge vergiftet die besten Gedanken und zerstört ihre Wirkung."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/600
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/600>, abgerufen am 04.01.2025.