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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Runstbetrachwng

Betrachter zum Verständnis von Kunstwerken und Katalogen braucht: Inhalt
von Heiligenlegenden, Attribute und Symbole, einen Abriß der griechischen
und römischen Mythologie, dazu Erklärung von technischen Ausdrücken, auch
für das Kunstgewerbe, Zeittafeln, wissenswerte historische Notizen und eine
Übersicht der wichtigsten Kunststätteu und Museen. Nicht nur für den Laien,
sondern auch für den Wissenschaftler, der sich außerhalb seines Spezial¬
gebietes orientieren will, ist das kolossal angelegte, von Fritz Burger
herausgegebene "Handbuch der Kunstwissenschaft" (Berlin-Neubabelsberg,
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion) bestimmt. Es soll in etwa neunzig
Lieferungen -- nach den vorliegenden zwölf müssen es bei gleichmäßiger
Behandlung allerdings beträchtlich mehr werden --, außer einer Systematik
der Kunstwissenschaft, Einzeldarstellungen der verschiedenen Kunstepochen
enthalten, während fünfundvierzig Supplementlieferungen das Wissenswerte
über Museums-, Handschriften- und Quellenkunde, Ikonographie usw. bringen
sollen. Das gäbe also, trotzdem das zur Stilkenntnis und für den
Sammler doch außerordentlich wichtige Kunstgewerbe anscheinend völlig
unberücksichtigt bleibt, was eine empfindliche und sehr bedenkliche Lücke be¬
deuten würde, ein "Handbuch" von vierthalbtausend Seiten Großquartformat!
Ich lasse alle aufsteigenden Zweifel an der Durchführbarkeit eines solchen
Unternehmens unberücksichtigt, unumgänglich aber wird die Beantwortung der
Frage, wem denn ein solches Handbuch eigentlich nützen soll? Gewiß, es
kommt der Sehnsucht der Zeit nach Zusammenfassung und Systematisierung
unseres fürchterlich breiten Wissens entgegen und wird mehreren Mitarbeitern
Gelegenheit zu höchstwahrscheinlich vortrefflichen Darstellungen über einzelne
größere Gebiete geben. Aber es ist doch kein vernünftiger Grund dafür ein¬
zusehen, weshalb diese Einzeldarstellungen nicht für sich erscheinen und weshalb
ich. wenn ich ein Nachschlagewerk z. B. über mittelalterliche Baukunst haben
will, ausgerechnet einen so riesigen Walzer kaufen soll, der auf vielen Gebieten
zudem rasch veralten wird. Man weise nicht auf das gleichfalls riesig angelegte
Künstlerlexikon von Thieme-Becker hin. Das ist lediglich ein rein wissenschaftliches
Nachschlagewerk. Burgers Handbuch aber wird, wenn es überhaupt fertig
wird, dem Laien zu viel, dem Wissenschaftler zu wenig bringen und wird von
wirklichem Nutzen nur dem Studenten sein, der nicht genug an seinen Vorlesungen
hat. Daß es für den Laien zu viel bietet, kann man schon aus dem Umfang
ersehen, aber auch die bisher von Burger gelieferten Hefte gehen viel zu sehr
ins Breite. Vom Wissenschaftler aber wird man füglich verlangen können, daß
er den Stoff selber durcharbeite und sich nicht auf die, wie der Prospekt fordert,
nach künstlerischen also subjektiv bedingten Gesichtspunkten angeordnete Dar¬
stellung des werten Herrn Kollegen verlasse. Wir haben also hier ein Kom¬
promißwerk vor uns, das als Ganzes nach keiner Seite hin genügen kann.

Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, daß die Einzeldarstellungen
nicht gut sein könnten. Die bisher erschienenen zwölf Lieferungen bieten den


Alte und neue Runstbetrachwng

Betrachter zum Verständnis von Kunstwerken und Katalogen braucht: Inhalt
von Heiligenlegenden, Attribute und Symbole, einen Abriß der griechischen
und römischen Mythologie, dazu Erklärung von technischen Ausdrücken, auch
für das Kunstgewerbe, Zeittafeln, wissenswerte historische Notizen und eine
Übersicht der wichtigsten Kunststätteu und Museen. Nicht nur für den Laien,
sondern auch für den Wissenschaftler, der sich außerhalb seines Spezial¬
gebietes orientieren will, ist das kolossal angelegte, von Fritz Burger
herausgegebene „Handbuch der Kunstwissenschaft" (Berlin-Neubabelsberg,
Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion) bestimmt. Es soll in etwa neunzig
Lieferungen — nach den vorliegenden zwölf müssen es bei gleichmäßiger
Behandlung allerdings beträchtlich mehr werden —, außer einer Systematik
der Kunstwissenschaft, Einzeldarstellungen der verschiedenen Kunstepochen
enthalten, während fünfundvierzig Supplementlieferungen das Wissenswerte
über Museums-, Handschriften- und Quellenkunde, Ikonographie usw. bringen
sollen. Das gäbe also, trotzdem das zur Stilkenntnis und für den
Sammler doch außerordentlich wichtige Kunstgewerbe anscheinend völlig
unberücksichtigt bleibt, was eine empfindliche und sehr bedenkliche Lücke be¬
deuten würde, ein „Handbuch" von vierthalbtausend Seiten Großquartformat!
Ich lasse alle aufsteigenden Zweifel an der Durchführbarkeit eines solchen
Unternehmens unberücksichtigt, unumgänglich aber wird die Beantwortung der
Frage, wem denn ein solches Handbuch eigentlich nützen soll? Gewiß, es
kommt der Sehnsucht der Zeit nach Zusammenfassung und Systematisierung
unseres fürchterlich breiten Wissens entgegen und wird mehreren Mitarbeitern
Gelegenheit zu höchstwahrscheinlich vortrefflichen Darstellungen über einzelne
größere Gebiete geben. Aber es ist doch kein vernünftiger Grund dafür ein¬
zusehen, weshalb diese Einzeldarstellungen nicht für sich erscheinen und weshalb
ich. wenn ich ein Nachschlagewerk z. B. über mittelalterliche Baukunst haben
will, ausgerechnet einen so riesigen Walzer kaufen soll, der auf vielen Gebieten
zudem rasch veralten wird. Man weise nicht auf das gleichfalls riesig angelegte
Künstlerlexikon von Thieme-Becker hin. Das ist lediglich ein rein wissenschaftliches
Nachschlagewerk. Burgers Handbuch aber wird, wenn es überhaupt fertig
wird, dem Laien zu viel, dem Wissenschaftler zu wenig bringen und wird von
wirklichem Nutzen nur dem Studenten sein, der nicht genug an seinen Vorlesungen
hat. Daß es für den Laien zu viel bietet, kann man schon aus dem Umfang
ersehen, aber auch die bisher von Burger gelieferten Hefte gehen viel zu sehr
ins Breite. Vom Wissenschaftler aber wird man füglich verlangen können, daß
er den Stoff selber durcharbeite und sich nicht auf die, wie der Prospekt fordert,
nach künstlerischen also subjektiv bedingten Gesichtspunkten angeordnete Dar¬
stellung des werten Herrn Kollegen verlasse. Wir haben also hier ein Kom¬
promißwerk vor uns, das als Ganzes nach keiner Seite hin genügen kann.

Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, daß die Einzeldarstellungen
nicht gut sein könnten. Die bisher erschienenen zwölf Lieferungen bieten den


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[0574] Alte und neue Runstbetrachwng Betrachter zum Verständnis von Kunstwerken und Katalogen braucht: Inhalt von Heiligenlegenden, Attribute und Symbole, einen Abriß der griechischen und römischen Mythologie, dazu Erklärung von technischen Ausdrücken, auch für das Kunstgewerbe, Zeittafeln, wissenswerte historische Notizen und eine Übersicht der wichtigsten Kunststätteu und Museen. Nicht nur für den Laien, sondern auch für den Wissenschaftler, der sich außerhalb seines Spezial¬ gebietes orientieren will, ist das kolossal angelegte, von Fritz Burger herausgegebene „Handbuch der Kunstwissenschaft" (Berlin-Neubabelsberg, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion) bestimmt. Es soll in etwa neunzig Lieferungen — nach den vorliegenden zwölf müssen es bei gleichmäßiger Behandlung allerdings beträchtlich mehr werden —, außer einer Systematik der Kunstwissenschaft, Einzeldarstellungen der verschiedenen Kunstepochen enthalten, während fünfundvierzig Supplementlieferungen das Wissenswerte über Museums-, Handschriften- und Quellenkunde, Ikonographie usw. bringen sollen. Das gäbe also, trotzdem das zur Stilkenntnis und für den Sammler doch außerordentlich wichtige Kunstgewerbe anscheinend völlig unberücksichtigt bleibt, was eine empfindliche und sehr bedenkliche Lücke be¬ deuten würde, ein „Handbuch" von vierthalbtausend Seiten Großquartformat! Ich lasse alle aufsteigenden Zweifel an der Durchführbarkeit eines solchen Unternehmens unberücksichtigt, unumgänglich aber wird die Beantwortung der Frage, wem denn ein solches Handbuch eigentlich nützen soll? Gewiß, es kommt der Sehnsucht der Zeit nach Zusammenfassung und Systematisierung unseres fürchterlich breiten Wissens entgegen und wird mehreren Mitarbeitern Gelegenheit zu höchstwahrscheinlich vortrefflichen Darstellungen über einzelne größere Gebiete geben. Aber es ist doch kein vernünftiger Grund dafür ein¬ zusehen, weshalb diese Einzeldarstellungen nicht für sich erscheinen und weshalb ich. wenn ich ein Nachschlagewerk z. B. über mittelalterliche Baukunst haben will, ausgerechnet einen so riesigen Walzer kaufen soll, der auf vielen Gebieten zudem rasch veralten wird. Man weise nicht auf das gleichfalls riesig angelegte Künstlerlexikon von Thieme-Becker hin. Das ist lediglich ein rein wissenschaftliches Nachschlagewerk. Burgers Handbuch aber wird, wenn es überhaupt fertig wird, dem Laien zu viel, dem Wissenschaftler zu wenig bringen und wird von wirklichem Nutzen nur dem Studenten sein, der nicht genug an seinen Vorlesungen hat. Daß es für den Laien zu viel bietet, kann man schon aus dem Umfang ersehen, aber auch die bisher von Burger gelieferten Hefte gehen viel zu sehr ins Breite. Vom Wissenschaftler aber wird man füglich verlangen können, daß er den Stoff selber durcharbeite und sich nicht auf die, wie der Prospekt fordert, nach künstlerischen also subjektiv bedingten Gesichtspunkten angeordnete Dar¬ stellung des werten Herrn Kollegen verlasse. Wir haben also hier ein Kom¬ promißwerk vor uns, das als Ganzes nach keiner Seite hin genügen kann. Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, daß die Einzeldarstellungen nicht gut sein könnten. Die bisher erschienenen zwölf Lieferungen bieten den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/574>, abgerufen am 04.01.2025.