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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Knnstbotrachtung

Wir wollen keine Programme mehr aufstellen, nicht mehr kämpfen, sondern wir
wollen betrachten. Aber der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, der auch der
Laie immer mehr zustrebt, sind streng genommen alle Gegenstände, ob sie dem
Zeitgeist lebendig sind oder nicht, gleich wichtig. Daher erleben wir denn das
wunderbare Schauspiel, daß Menschen derselben Zeit, bei denen man annähernd
die gleichen Stilideale voraussetzen sollte, sich heute für ägyptische Kunst, morgen
für Impressionismus, heute für Dürer, morgen für Watteau, im gleichen Atem
für holländische Kleinkunst und moderne Monumentalmalerei, sür Antike und
Barock, für orientalische Kunst und Rembrandt interessieren. Der moderne kunst¬
wissenschaftlich gebildete Laie verleugnet fast ängstlich jeden persönlichen Ge¬
schmack und sucht sich lieber zugunsten der Weite seines Erfassungsvermögens
in alle möglichen Stile "einzufühlen". Nun ist es ja gewiß richtig, daß Kunst¬
wert, Qualität, etwas objektiv Feststellbares ist, aber es fragt sich ob jeder
Kunstwert zu allen Zeiten einen Lebenswert darstellt und diese Frage müssen
wir verneinen. Bei diesem objektiven Einfühlungsbestreben wird schließlich eine
jämmerliche Physiognomielosigkeit herauskommen, die wir werden überwinden
müssen. Wir werden das Viele opfern müssen, um das Wenige wahrhaft zu
besitzen.

Heute aber sind wir den lebendigen Werken der Kunst so fremd geworden,
daß wir es nicht mehr wagen, naiv zu betrachten, sondern uns durch die
Wissenschaft das Verständnis des Kunstwerkes erschließen lassen müssen. Aber
natürlich ist es dem Laien eben wegen der breiten Universalität unserer
Kunstbetrachtung ganz unmöglich, überall aus erster Hand zu schöpfen, sondern
er ist gezwungen zu Führern und Handbüchern zu greifen. Als solche Führer
sind die kleinen Bändchen der bekannten Teubnerschen Sammlung "Aus Natur
und Geisteswelt" gedacht. Genannt sei hier die vortreffliche kleine Einführung
von B. L^zär "Die Maler des Impressionismus", während die im
Historischen meist willkürlich konstruierte, im einzelnen häufig ungenaue, stilistisch
nicht selten anfechtbare, mit zwar zahlreichen, aber zu kleinen und nieist
schlechten Abbildungen versehene "Deutsche Malerei im neunzehnten
Jahrhundert" von Richard Hamann nur für kritische Leser brauchbar ist
und daher in die Sammlung eigentlich nicht hineingehört, wenn auch die vom
Verfasser viel zu häufig geübte, sachlich jedoch sehr verständige Kritik im guten
Sinne aufklärend wirken kann. Dem Jtalienreisenden gute Dienste leisten wird
das hübsche Buch von G. von Allesch "Die Renaissance in Italien"
(Weimar, Gustav Kiepenheuers Verlag), das in guten, knappen und klaren
Essays die Kunstentwicklung von der Antike bis zur Renaissance zeichnet und
eine ausreichende Auswahl aus den literarischen Quellen (Vasari) und den
Theoretikern (Leo B. Alberti, Pacioli, Lionardo da Vinci) bietet. An alle
Laien wendet sich das sorgfältig redigierte, bereits in dritter Auflage vorliegende
"Hilfsbuch zur Kunstgeschichte" von P. Schubring (Verlag Karl Curtius,
Berlin), das in knapper lexikalischer Form alles enthält, was der sorgfältige


Grenzboten I 1914 g"
Alte und neue Knnstbotrachtung

Wir wollen keine Programme mehr aufstellen, nicht mehr kämpfen, sondern wir
wollen betrachten. Aber der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, der auch der
Laie immer mehr zustrebt, sind streng genommen alle Gegenstände, ob sie dem
Zeitgeist lebendig sind oder nicht, gleich wichtig. Daher erleben wir denn das
wunderbare Schauspiel, daß Menschen derselben Zeit, bei denen man annähernd
die gleichen Stilideale voraussetzen sollte, sich heute für ägyptische Kunst, morgen
für Impressionismus, heute für Dürer, morgen für Watteau, im gleichen Atem
für holländische Kleinkunst und moderne Monumentalmalerei, sür Antike und
Barock, für orientalische Kunst und Rembrandt interessieren. Der moderne kunst¬
wissenschaftlich gebildete Laie verleugnet fast ängstlich jeden persönlichen Ge¬
schmack und sucht sich lieber zugunsten der Weite seines Erfassungsvermögens
in alle möglichen Stile „einzufühlen". Nun ist es ja gewiß richtig, daß Kunst¬
wert, Qualität, etwas objektiv Feststellbares ist, aber es fragt sich ob jeder
Kunstwert zu allen Zeiten einen Lebenswert darstellt und diese Frage müssen
wir verneinen. Bei diesem objektiven Einfühlungsbestreben wird schließlich eine
jämmerliche Physiognomielosigkeit herauskommen, die wir werden überwinden
müssen. Wir werden das Viele opfern müssen, um das Wenige wahrhaft zu
besitzen.

Heute aber sind wir den lebendigen Werken der Kunst so fremd geworden,
daß wir es nicht mehr wagen, naiv zu betrachten, sondern uns durch die
Wissenschaft das Verständnis des Kunstwerkes erschließen lassen müssen. Aber
natürlich ist es dem Laien eben wegen der breiten Universalität unserer
Kunstbetrachtung ganz unmöglich, überall aus erster Hand zu schöpfen, sondern
er ist gezwungen zu Führern und Handbüchern zu greifen. Als solche Führer
sind die kleinen Bändchen der bekannten Teubnerschen Sammlung „Aus Natur
und Geisteswelt" gedacht. Genannt sei hier die vortreffliche kleine Einführung
von B. L^zär „Die Maler des Impressionismus", während die im
Historischen meist willkürlich konstruierte, im einzelnen häufig ungenaue, stilistisch
nicht selten anfechtbare, mit zwar zahlreichen, aber zu kleinen und nieist
schlechten Abbildungen versehene „Deutsche Malerei im neunzehnten
Jahrhundert" von Richard Hamann nur für kritische Leser brauchbar ist
und daher in die Sammlung eigentlich nicht hineingehört, wenn auch die vom
Verfasser viel zu häufig geübte, sachlich jedoch sehr verständige Kritik im guten
Sinne aufklärend wirken kann. Dem Jtalienreisenden gute Dienste leisten wird
das hübsche Buch von G. von Allesch „Die Renaissance in Italien"
(Weimar, Gustav Kiepenheuers Verlag), das in guten, knappen und klaren
Essays die Kunstentwicklung von der Antike bis zur Renaissance zeichnet und
eine ausreichende Auswahl aus den literarischen Quellen (Vasari) und den
Theoretikern (Leo B. Alberti, Pacioli, Lionardo da Vinci) bietet. An alle
Laien wendet sich das sorgfältig redigierte, bereits in dritter Auflage vorliegende
„Hilfsbuch zur Kunstgeschichte" von P. Schubring (Verlag Karl Curtius,
Berlin), das in knapper lexikalischer Form alles enthält, was der sorgfältige


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[0573] Alte und neue Knnstbotrachtung Wir wollen keine Programme mehr aufstellen, nicht mehr kämpfen, sondern wir wollen betrachten. Aber der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, der auch der Laie immer mehr zustrebt, sind streng genommen alle Gegenstände, ob sie dem Zeitgeist lebendig sind oder nicht, gleich wichtig. Daher erleben wir denn das wunderbare Schauspiel, daß Menschen derselben Zeit, bei denen man annähernd die gleichen Stilideale voraussetzen sollte, sich heute für ägyptische Kunst, morgen für Impressionismus, heute für Dürer, morgen für Watteau, im gleichen Atem für holländische Kleinkunst und moderne Monumentalmalerei, sür Antike und Barock, für orientalische Kunst und Rembrandt interessieren. Der moderne kunst¬ wissenschaftlich gebildete Laie verleugnet fast ängstlich jeden persönlichen Ge¬ schmack und sucht sich lieber zugunsten der Weite seines Erfassungsvermögens in alle möglichen Stile „einzufühlen". Nun ist es ja gewiß richtig, daß Kunst¬ wert, Qualität, etwas objektiv Feststellbares ist, aber es fragt sich ob jeder Kunstwert zu allen Zeiten einen Lebenswert darstellt und diese Frage müssen wir verneinen. Bei diesem objektiven Einfühlungsbestreben wird schließlich eine jämmerliche Physiognomielosigkeit herauskommen, die wir werden überwinden müssen. Wir werden das Viele opfern müssen, um das Wenige wahrhaft zu besitzen. Heute aber sind wir den lebendigen Werken der Kunst so fremd geworden, daß wir es nicht mehr wagen, naiv zu betrachten, sondern uns durch die Wissenschaft das Verständnis des Kunstwerkes erschließen lassen müssen. Aber natürlich ist es dem Laien eben wegen der breiten Universalität unserer Kunstbetrachtung ganz unmöglich, überall aus erster Hand zu schöpfen, sondern er ist gezwungen zu Führern und Handbüchern zu greifen. Als solche Führer sind die kleinen Bändchen der bekannten Teubnerschen Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt" gedacht. Genannt sei hier die vortreffliche kleine Einführung von B. L^zär „Die Maler des Impressionismus", während die im Historischen meist willkürlich konstruierte, im einzelnen häufig ungenaue, stilistisch nicht selten anfechtbare, mit zwar zahlreichen, aber zu kleinen und nieist schlechten Abbildungen versehene „Deutsche Malerei im neunzehnten Jahrhundert" von Richard Hamann nur für kritische Leser brauchbar ist und daher in die Sammlung eigentlich nicht hineingehört, wenn auch die vom Verfasser viel zu häufig geübte, sachlich jedoch sehr verständige Kritik im guten Sinne aufklärend wirken kann. Dem Jtalienreisenden gute Dienste leisten wird das hübsche Buch von G. von Allesch „Die Renaissance in Italien" (Weimar, Gustav Kiepenheuers Verlag), das in guten, knappen und klaren Essays die Kunstentwicklung von der Antike bis zur Renaissance zeichnet und eine ausreichende Auswahl aus den literarischen Quellen (Vasari) und den Theoretikern (Leo B. Alberti, Pacioli, Lionardo da Vinci) bietet. An alle Laien wendet sich das sorgfältig redigierte, bereits in dritter Auflage vorliegende „Hilfsbuch zur Kunstgeschichte" von P. Schubring (Verlag Karl Curtius, Berlin), das in knapper lexikalischer Form alles enthält, was der sorgfältige Grenzboten I 1914 g«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/573>, abgerufen am 04.01.2025.