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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die österreichische Balkanpolitik

jetzt begann Nußland, das sich bisher im Grunde nur für Bulgarien und
Montenegro interessiert hatte, auch die Rolle eines Beschützers Serbiens zu über¬
nehmen und in Verbindung damit die südslawische Frage als diplomatische
Waffe gegen Österreich zu benutzen.

In der Aehrenthalschen Zeit hat man von der Möglichkeit einer öster¬
reichischen Expansion -- erstens nach Mazedonien, zweitens nach Serbien --
gesprochen. Mit der ersten Möglichkeit hat man das Projekt der Sandschakbahn
in Verbindung gebracht. Aber Aehrenthal selbst hat wenige Monate, nachdem
er von der Pforte das Jrade zu dem Bahnbau erhalten hatte, sowohl auf den
Bahnbau als auf das ganze Besetzungsrecht im Sandschak verzichtet. Es ist
kein Zweifel, daß die Bahn nur unter Überwindung großer technischer Schwierig¬
keiten und mit unverhältnismäßig hohen Kosten hätte gebaut werden können;
und es fällt ins Gewicht, daß die Bahn bis zur böhmischen Ostgrenze, die von
der Sandschakbahn fortgesetzt werden sollte, nur eine Schmalspurbahn ist. Über¬
dies ist der Sandschak militärisch eine keineswegs günstige Position. In der
Denkschrift, in der Aehrenthal den Verzicht begründet hat, wies er darauf hin,
daß die Besetzung und Annexion des Sandschaks Österreich zwingen würde, in
diesen: Defile einen Truppenkörper von mindestens einem Armeekorps zu unter¬
halten. Dieses Armeekorps würde sich gegebenenfalls unter den ungünstigsten
Verhältnissen nach drei Seiten zu schlagen haben. Daher unterläge es nach
einstimmigem Urteil der Fachleute keinem Zweifel, daß ein militärisches Vor¬
rücken nicht durch diesen Engpaß erfolgen dürfte. Angesichts dieser Umstände
fragt es sich, ob Aehrenthal das ganze Projekt im Grunde nicht als bloßen
taktischen Zug in seinem diplomatischen Schachspiel benutzt hat.

Während der böhmischen Krisis hat sich die öffentliche Meinung in Öster¬
reich auch mit der Frage der Unterwerfung Serbiens beschäftigt; und zwar hat
man von einer Okkupation oder Annektion ganz Serbiens und von einer Teilung
Serbiens zwischen Österreich und Bulgarien gesprochen. Es ist nicht bekannt,
ob die verantwortlichen Leiter der Wiener Politik jemals ernstlich solche Pläne
verfolgt haben; wenn sie es getan haben sollten, so sind sie jedenfalls schnell
davon zurückgekommen, und die Gründe dafür sind nicht weit zu suchen. Die
allgemeine Ansicht ist heute wohl, daß erst durch die Verhältnisse, die die jüngsten
Balkankriege geschaffen haben, sowohl Österreich-Ungarn als Rußland das weitere
territoriale Vordringen auf der Halbinsel endgültig verschlossen worden ist. Dem
gegenüber wird sich die Auffassung vertreten lassen, daß dies Ergebnis schon
durch die Gestaltung der Balkanverhältnisse durch den Berliner Vertrag von
1878 erzielt worden ist. Allerdings hat der Berliner Kongreß die Balkanvölker
noch wie eine amorphe Masse behandelt, deren nationale Grenzen nicht nach
ethnischen Gesichtspunkten, sondern nach den Interessen der Mächte -- als ein
Kompromiß ihrer rivalisierenden Forderungen -- sx LatKöärg, festgesetzt werden
könnten. Blickt man in die Tagesliteratur jener Zeit, und in die historischen
und Memoirenwerke, die jene Epoche behandeln, so sieht man, daß nicht nur


Die österreichische Balkanpolitik

jetzt begann Nußland, das sich bisher im Grunde nur für Bulgarien und
Montenegro interessiert hatte, auch die Rolle eines Beschützers Serbiens zu über¬
nehmen und in Verbindung damit die südslawische Frage als diplomatische
Waffe gegen Österreich zu benutzen.

In der Aehrenthalschen Zeit hat man von der Möglichkeit einer öster¬
reichischen Expansion — erstens nach Mazedonien, zweitens nach Serbien —
gesprochen. Mit der ersten Möglichkeit hat man das Projekt der Sandschakbahn
in Verbindung gebracht. Aber Aehrenthal selbst hat wenige Monate, nachdem
er von der Pforte das Jrade zu dem Bahnbau erhalten hatte, sowohl auf den
Bahnbau als auf das ganze Besetzungsrecht im Sandschak verzichtet. Es ist
kein Zweifel, daß die Bahn nur unter Überwindung großer technischer Schwierig¬
keiten und mit unverhältnismäßig hohen Kosten hätte gebaut werden können;
und es fällt ins Gewicht, daß die Bahn bis zur böhmischen Ostgrenze, die von
der Sandschakbahn fortgesetzt werden sollte, nur eine Schmalspurbahn ist. Über¬
dies ist der Sandschak militärisch eine keineswegs günstige Position. In der
Denkschrift, in der Aehrenthal den Verzicht begründet hat, wies er darauf hin,
daß die Besetzung und Annexion des Sandschaks Österreich zwingen würde, in
diesen: Defile einen Truppenkörper von mindestens einem Armeekorps zu unter¬
halten. Dieses Armeekorps würde sich gegebenenfalls unter den ungünstigsten
Verhältnissen nach drei Seiten zu schlagen haben. Daher unterläge es nach
einstimmigem Urteil der Fachleute keinem Zweifel, daß ein militärisches Vor¬
rücken nicht durch diesen Engpaß erfolgen dürfte. Angesichts dieser Umstände
fragt es sich, ob Aehrenthal das ganze Projekt im Grunde nicht als bloßen
taktischen Zug in seinem diplomatischen Schachspiel benutzt hat.

Während der böhmischen Krisis hat sich die öffentliche Meinung in Öster¬
reich auch mit der Frage der Unterwerfung Serbiens beschäftigt; und zwar hat
man von einer Okkupation oder Annektion ganz Serbiens und von einer Teilung
Serbiens zwischen Österreich und Bulgarien gesprochen. Es ist nicht bekannt,
ob die verantwortlichen Leiter der Wiener Politik jemals ernstlich solche Pläne
verfolgt haben; wenn sie es getan haben sollten, so sind sie jedenfalls schnell
davon zurückgekommen, und die Gründe dafür sind nicht weit zu suchen. Die
allgemeine Ansicht ist heute wohl, daß erst durch die Verhältnisse, die die jüngsten
Balkankriege geschaffen haben, sowohl Österreich-Ungarn als Rußland das weitere
territoriale Vordringen auf der Halbinsel endgültig verschlossen worden ist. Dem
gegenüber wird sich die Auffassung vertreten lassen, daß dies Ergebnis schon
durch die Gestaltung der Balkanverhältnisse durch den Berliner Vertrag von
1878 erzielt worden ist. Allerdings hat der Berliner Kongreß die Balkanvölker
noch wie eine amorphe Masse behandelt, deren nationale Grenzen nicht nach
ethnischen Gesichtspunkten, sondern nach den Interessen der Mächte — als ein
Kompromiß ihrer rivalisierenden Forderungen — sx LatKöärg, festgesetzt werden
könnten. Blickt man in die Tagesliteratur jener Zeit, und in die historischen
und Memoirenwerke, die jene Epoche behandeln, so sieht man, daß nicht nur


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[0552] Die österreichische Balkanpolitik jetzt begann Nußland, das sich bisher im Grunde nur für Bulgarien und Montenegro interessiert hatte, auch die Rolle eines Beschützers Serbiens zu über¬ nehmen und in Verbindung damit die südslawische Frage als diplomatische Waffe gegen Österreich zu benutzen. In der Aehrenthalschen Zeit hat man von der Möglichkeit einer öster¬ reichischen Expansion — erstens nach Mazedonien, zweitens nach Serbien — gesprochen. Mit der ersten Möglichkeit hat man das Projekt der Sandschakbahn in Verbindung gebracht. Aber Aehrenthal selbst hat wenige Monate, nachdem er von der Pforte das Jrade zu dem Bahnbau erhalten hatte, sowohl auf den Bahnbau als auf das ganze Besetzungsrecht im Sandschak verzichtet. Es ist kein Zweifel, daß die Bahn nur unter Überwindung großer technischer Schwierig¬ keiten und mit unverhältnismäßig hohen Kosten hätte gebaut werden können; und es fällt ins Gewicht, daß die Bahn bis zur böhmischen Ostgrenze, die von der Sandschakbahn fortgesetzt werden sollte, nur eine Schmalspurbahn ist. Über¬ dies ist der Sandschak militärisch eine keineswegs günstige Position. In der Denkschrift, in der Aehrenthal den Verzicht begründet hat, wies er darauf hin, daß die Besetzung und Annexion des Sandschaks Österreich zwingen würde, in diesen: Defile einen Truppenkörper von mindestens einem Armeekorps zu unter¬ halten. Dieses Armeekorps würde sich gegebenenfalls unter den ungünstigsten Verhältnissen nach drei Seiten zu schlagen haben. Daher unterläge es nach einstimmigem Urteil der Fachleute keinem Zweifel, daß ein militärisches Vor¬ rücken nicht durch diesen Engpaß erfolgen dürfte. Angesichts dieser Umstände fragt es sich, ob Aehrenthal das ganze Projekt im Grunde nicht als bloßen taktischen Zug in seinem diplomatischen Schachspiel benutzt hat. Während der böhmischen Krisis hat sich die öffentliche Meinung in Öster¬ reich auch mit der Frage der Unterwerfung Serbiens beschäftigt; und zwar hat man von einer Okkupation oder Annektion ganz Serbiens und von einer Teilung Serbiens zwischen Österreich und Bulgarien gesprochen. Es ist nicht bekannt, ob die verantwortlichen Leiter der Wiener Politik jemals ernstlich solche Pläne verfolgt haben; wenn sie es getan haben sollten, so sind sie jedenfalls schnell davon zurückgekommen, und die Gründe dafür sind nicht weit zu suchen. Die allgemeine Ansicht ist heute wohl, daß erst durch die Verhältnisse, die die jüngsten Balkankriege geschaffen haben, sowohl Österreich-Ungarn als Rußland das weitere territoriale Vordringen auf der Halbinsel endgültig verschlossen worden ist. Dem gegenüber wird sich die Auffassung vertreten lassen, daß dies Ergebnis schon durch die Gestaltung der Balkanverhältnisse durch den Berliner Vertrag von 1878 erzielt worden ist. Allerdings hat der Berliner Kongreß die Balkanvölker noch wie eine amorphe Masse behandelt, deren nationale Grenzen nicht nach ethnischen Gesichtspunkten, sondern nach den Interessen der Mächte — als ein Kompromiß ihrer rivalisierenden Forderungen — sx LatKöärg, festgesetzt werden könnten. Blickt man in die Tagesliteratur jener Zeit, und in die historischen und Memoirenwerke, die jene Epoche behandeln, so sieht man, daß nicht nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/552>, abgerufen am 04.01.2025.