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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Wende des Naturalismus

kriegerische Zeitläufte? Sind wir glücklich soweit, daß brutal und effekthaschend
gescholten wird, wer sich an den Begriff erinnert, von dem das Wort Drama
seinen Namen hat? Kleine Schreier mögen mit Herrn Paul Goldmann
Gerhard Hauptmann einen Schwächling schelten, was der deutsche Naturalismus
bildete ein einziges Zerstören nennen, weil sein feinster Künstler zartere Gebilde
schuf, als der fanatische Norweger, weil in Hauptmann der Lyriker reichlicher
spendete, als der Dramatiker versagte. Aber niemand, der in der Schaubühne
das wundervollste Instrument künstlerischen Wollens sieht, niemand, der die
bitteren Nöte deutscher Bühnenkunst kennt, kann dulden, daß die Grundbegriffe
ihres Wirkens verwirrt bleiben. Entweder wir besinnen uns darauf, daß Lyrik
und Epos im besten Falle des gesprochenen oder gesungenen Wortes bedürfen,
daß aber der Raum, die nachgeahmte oder angedeutete Natur menschliches
Leben, das ist Geschehen, verlangt. Oder wir lassen besser das Theater über¬
haupt sterben und überlassen alles, was das Verlangen hegt, das Spiel mensch¬
lichen Lebens vorbeiziehen zu sehen, dem Rummelplatz und der Lichtmühle. Ein
anderes gibt es nicht. Wo die Dramatik auf das Geschehen verzichtet, gräbt
sie sich das Grab. Was einem Geschlecht, das sich zunächst mit der Idee der
neuen Zeit und der neuen Kunst auseinandersetzen mußte, versagt blieb, wird
dem kräftigeren Erben wieder gelingen, der längst von der Theorie zur Tat
übergegangen ist, der in dem Leben unserer Tage weniger das Problem sieht,
als neue Möglichkeiten des Schaffens.

Geweitet aber ist schon heute das Feld.- Nicht nur. was einen Anspruch
auf Eleganz hat. darf, wie einst bei den Franzosen, den Saal betreten. Aus
dem ganzen Leben dürfen wir schöpfen. Brauchen nicht unbedingt Götter und
Helden zu bemühen, dürfen mit schärferen Augen auch in die innersten Winkel
schauen, in die selbst Shakespeare nur in seinen Prosadialogen hineinleuchten
durfte. Und sollten wir nun nicht wieder danach verlangen, die Karten so
geschickt zu mischen, daß niemand als Zuschauer beim Spiel fehlen mag?




Die Wende des Naturalismus

kriegerische Zeitläufte? Sind wir glücklich soweit, daß brutal und effekthaschend
gescholten wird, wer sich an den Begriff erinnert, von dem das Wort Drama
seinen Namen hat? Kleine Schreier mögen mit Herrn Paul Goldmann
Gerhard Hauptmann einen Schwächling schelten, was der deutsche Naturalismus
bildete ein einziges Zerstören nennen, weil sein feinster Künstler zartere Gebilde
schuf, als der fanatische Norweger, weil in Hauptmann der Lyriker reichlicher
spendete, als der Dramatiker versagte. Aber niemand, der in der Schaubühne
das wundervollste Instrument künstlerischen Wollens sieht, niemand, der die
bitteren Nöte deutscher Bühnenkunst kennt, kann dulden, daß die Grundbegriffe
ihres Wirkens verwirrt bleiben. Entweder wir besinnen uns darauf, daß Lyrik
und Epos im besten Falle des gesprochenen oder gesungenen Wortes bedürfen,
daß aber der Raum, die nachgeahmte oder angedeutete Natur menschliches
Leben, das ist Geschehen, verlangt. Oder wir lassen besser das Theater über¬
haupt sterben und überlassen alles, was das Verlangen hegt, das Spiel mensch¬
lichen Lebens vorbeiziehen zu sehen, dem Rummelplatz und der Lichtmühle. Ein
anderes gibt es nicht. Wo die Dramatik auf das Geschehen verzichtet, gräbt
sie sich das Grab. Was einem Geschlecht, das sich zunächst mit der Idee der
neuen Zeit und der neuen Kunst auseinandersetzen mußte, versagt blieb, wird
dem kräftigeren Erben wieder gelingen, der längst von der Theorie zur Tat
übergegangen ist, der in dem Leben unserer Tage weniger das Problem sieht,
als neue Möglichkeiten des Schaffens.

Geweitet aber ist schon heute das Feld.- Nicht nur. was einen Anspruch
auf Eleganz hat. darf, wie einst bei den Franzosen, den Saal betreten. Aus
dem ganzen Leben dürfen wir schöpfen. Brauchen nicht unbedingt Götter und
Helden zu bemühen, dürfen mit schärferen Augen auch in die innersten Winkel
schauen, in die selbst Shakespeare nur in seinen Prosadialogen hineinleuchten
durfte. Und sollten wir nun nicht wieder danach verlangen, die Karten so
geschickt zu mischen, daß niemand als Zuschauer beim Spiel fehlen mag?




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[0532] Die Wende des Naturalismus kriegerische Zeitläufte? Sind wir glücklich soweit, daß brutal und effekthaschend gescholten wird, wer sich an den Begriff erinnert, von dem das Wort Drama seinen Namen hat? Kleine Schreier mögen mit Herrn Paul Goldmann Gerhard Hauptmann einen Schwächling schelten, was der deutsche Naturalismus bildete ein einziges Zerstören nennen, weil sein feinster Künstler zartere Gebilde schuf, als der fanatische Norweger, weil in Hauptmann der Lyriker reichlicher spendete, als der Dramatiker versagte. Aber niemand, der in der Schaubühne das wundervollste Instrument künstlerischen Wollens sieht, niemand, der die bitteren Nöte deutscher Bühnenkunst kennt, kann dulden, daß die Grundbegriffe ihres Wirkens verwirrt bleiben. Entweder wir besinnen uns darauf, daß Lyrik und Epos im besten Falle des gesprochenen oder gesungenen Wortes bedürfen, daß aber der Raum, die nachgeahmte oder angedeutete Natur menschliches Leben, das ist Geschehen, verlangt. Oder wir lassen besser das Theater über¬ haupt sterben und überlassen alles, was das Verlangen hegt, das Spiel mensch¬ lichen Lebens vorbeiziehen zu sehen, dem Rummelplatz und der Lichtmühle. Ein anderes gibt es nicht. Wo die Dramatik auf das Geschehen verzichtet, gräbt sie sich das Grab. Was einem Geschlecht, das sich zunächst mit der Idee der neuen Zeit und der neuen Kunst auseinandersetzen mußte, versagt blieb, wird dem kräftigeren Erben wieder gelingen, der längst von der Theorie zur Tat übergegangen ist, der in dem Leben unserer Tage weniger das Problem sieht, als neue Möglichkeiten des Schaffens. Geweitet aber ist schon heute das Feld.- Nicht nur. was einen Anspruch auf Eleganz hat. darf, wie einst bei den Franzosen, den Saal betreten. Aus dem ganzen Leben dürfen wir schöpfen. Brauchen nicht unbedingt Götter und Helden zu bemühen, dürfen mit schärferen Augen auch in die innersten Winkel schauen, in die selbst Shakespeare nur in seinen Prosadialogen hineinleuchten durfte. Und sollten wir nun nicht wieder danach verlangen, die Karten so geschickt zu mischen, daß niemand als Zuschauer beim Spiel fehlen mag?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/532>, abgerufen am 01.01.2025.