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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Wende des Naturalismus

einfach und eindeutig wollte, ist etwas anderes geworden: ein wildes
dämonisches Wesen, großartig noch in der Hysterie seiner Leidenschaft, aber in
diesen einfachen strengen Räumen dieser Kunst ein fremder, exotischer Gast.

Alte und neue Schauspielkunst! Nicht um die eine gegen die andere aus¬
zuspielen, schrieb ich es auf. Was dieses Spiel äußersten Realismus im modernen
Drama leistet, braucht hier nicht erörtert zu werden. Bei Shakespeare, dessen
Realismus der vorigen Generation noch verborgen war, hat es uns ein völlig
neues Verstehen seiner Menschen geschenkt. In jedem Wort entdeckt es heute
dort neue seelische Offenbarung, und so will dort jedes Wort anders behandelt,
anders von der Geste verdolmetscht werden als in Deutschlands Klassik. Deren
Menschen werden von einfacheren Federn getrieben, sagen nicht jedem etwas
anderes, sind ganz bewußt und eindeutig auf Stil und gemessenes Pathos
gestellt. Verführerisch ist es sür das an Shakespeare geschulte, moderne Auge,
auch hier in jedem Worte nach neuem realen Sinn zu forschen, die Menschen,
deren Fühlen uns heute ferner erscheint, gewaltsam näher zu zerren (vergleiche
Hauptmanns Tellregie). Verführerisch und verderblich. Wer gegen die Wände
dieser strengen, ernsten Hallen mit der Wucht des modernen Verismus anrennt,
zersprengt die Räume. In diesem Beginnen aber liegt eine Schuld jenes
Spieles, wie es der Naturalismus schuf. Nach Paul Goldmanns Vorbild ihm
die ganze Theatermüdigkeit unserer Zeit zuzuschreiben, ist freilich lächerlich.
Die große Begriffverwirrung im Spiel, die der Naturalismus schuf, kann kein
Einsichtiger leugnen. Er sprengte die Einheitlichkeit der Erziehung zur
Bühne, mischt heute auf fast allen die unvereinbarer Gegenstände modernen
und stilisierten Spieles, wie ich sie vorhin schilderte, durcheinander. Das
empfindet man im Zuschauerraum peinlicher, als man es hinter der Szene
glaubt. Nur wenige große Mimen haben es bewiesen, daß sie beide Welten,
altes und neues Spiel, will sagen naturalistisches und stilisiertes, mit ihrer Kunst
umfassen konnten. Ob es der Masse der Schauspieler, auf die es in dieser
Frage doch ankommt, je gelingen wird, ist zweifelhaft. Erweist es sich aber
als unmöglich, was tut es? Wir werden eben Klassik und Moderne auf
anderen Bühnen mit anders erzogenen Menschen spielen. Brahm hatte das
früh genug erkannt. Was er in seinen Schriften verlangte -- die Übertragung
modernen Spiels auch auf die Klassik -- hat er als Bühnenleiter nie in die
Tat umgesetzt. In der Praxis hat er sich auf die eine Welt beschränkt und vor
der anderen Halt gemacht. Er war sich nur des einen Triebes bewußt und
hat sich auf diese Weise größeren Dank verdient. Denn wer ihn heute deswegen
schilt, verkennt, daß er so gerade die klare Erkenntnis schuf, wie unvereinbar
beide Welten sind. Wird die Welt um diese Spezialisierung reicher, was tut
es? Was wir auf allen Gebieten menschlichen Könnens sehen, wird kein Ver¬
ständiger der Bühnenkunst vorenthalten wollen.

Ob diese Spezialisierung notwendig ist oder nicht, ist schließlich gleichgültig;
wichtiger, daß der Schaden, den der Naturalismus heute im Bühnenspiel an-


Die Wende des Naturalismus

einfach und eindeutig wollte, ist etwas anderes geworden: ein wildes
dämonisches Wesen, großartig noch in der Hysterie seiner Leidenschaft, aber in
diesen einfachen strengen Räumen dieser Kunst ein fremder, exotischer Gast.

Alte und neue Schauspielkunst! Nicht um die eine gegen die andere aus¬
zuspielen, schrieb ich es auf. Was dieses Spiel äußersten Realismus im modernen
Drama leistet, braucht hier nicht erörtert zu werden. Bei Shakespeare, dessen
Realismus der vorigen Generation noch verborgen war, hat es uns ein völlig
neues Verstehen seiner Menschen geschenkt. In jedem Wort entdeckt es heute
dort neue seelische Offenbarung, und so will dort jedes Wort anders behandelt,
anders von der Geste verdolmetscht werden als in Deutschlands Klassik. Deren
Menschen werden von einfacheren Federn getrieben, sagen nicht jedem etwas
anderes, sind ganz bewußt und eindeutig auf Stil und gemessenes Pathos
gestellt. Verführerisch ist es sür das an Shakespeare geschulte, moderne Auge,
auch hier in jedem Worte nach neuem realen Sinn zu forschen, die Menschen,
deren Fühlen uns heute ferner erscheint, gewaltsam näher zu zerren (vergleiche
Hauptmanns Tellregie). Verführerisch und verderblich. Wer gegen die Wände
dieser strengen, ernsten Hallen mit der Wucht des modernen Verismus anrennt,
zersprengt die Räume. In diesem Beginnen aber liegt eine Schuld jenes
Spieles, wie es der Naturalismus schuf. Nach Paul Goldmanns Vorbild ihm
die ganze Theatermüdigkeit unserer Zeit zuzuschreiben, ist freilich lächerlich.
Die große Begriffverwirrung im Spiel, die der Naturalismus schuf, kann kein
Einsichtiger leugnen. Er sprengte die Einheitlichkeit der Erziehung zur
Bühne, mischt heute auf fast allen die unvereinbarer Gegenstände modernen
und stilisierten Spieles, wie ich sie vorhin schilderte, durcheinander. Das
empfindet man im Zuschauerraum peinlicher, als man es hinter der Szene
glaubt. Nur wenige große Mimen haben es bewiesen, daß sie beide Welten,
altes und neues Spiel, will sagen naturalistisches und stilisiertes, mit ihrer Kunst
umfassen konnten. Ob es der Masse der Schauspieler, auf die es in dieser
Frage doch ankommt, je gelingen wird, ist zweifelhaft. Erweist es sich aber
als unmöglich, was tut es? Wir werden eben Klassik und Moderne auf
anderen Bühnen mit anders erzogenen Menschen spielen. Brahm hatte das
früh genug erkannt. Was er in seinen Schriften verlangte — die Übertragung
modernen Spiels auch auf die Klassik — hat er als Bühnenleiter nie in die
Tat umgesetzt. In der Praxis hat er sich auf die eine Welt beschränkt und vor
der anderen Halt gemacht. Er war sich nur des einen Triebes bewußt und
hat sich auf diese Weise größeren Dank verdient. Denn wer ihn heute deswegen
schilt, verkennt, daß er so gerade die klare Erkenntnis schuf, wie unvereinbar
beide Welten sind. Wird die Welt um diese Spezialisierung reicher, was tut
es? Was wir auf allen Gebieten menschlichen Könnens sehen, wird kein Ver¬
ständiger der Bühnenkunst vorenthalten wollen.

Ob diese Spezialisierung notwendig ist oder nicht, ist schließlich gleichgültig;
wichtiger, daß der Schaden, den der Naturalismus heute im Bühnenspiel an-


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[0530] Die Wende des Naturalismus einfach und eindeutig wollte, ist etwas anderes geworden: ein wildes dämonisches Wesen, großartig noch in der Hysterie seiner Leidenschaft, aber in diesen einfachen strengen Räumen dieser Kunst ein fremder, exotischer Gast. Alte und neue Schauspielkunst! Nicht um die eine gegen die andere aus¬ zuspielen, schrieb ich es auf. Was dieses Spiel äußersten Realismus im modernen Drama leistet, braucht hier nicht erörtert zu werden. Bei Shakespeare, dessen Realismus der vorigen Generation noch verborgen war, hat es uns ein völlig neues Verstehen seiner Menschen geschenkt. In jedem Wort entdeckt es heute dort neue seelische Offenbarung, und so will dort jedes Wort anders behandelt, anders von der Geste verdolmetscht werden als in Deutschlands Klassik. Deren Menschen werden von einfacheren Federn getrieben, sagen nicht jedem etwas anderes, sind ganz bewußt und eindeutig auf Stil und gemessenes Pathos gestellt. Verführerisch ist es sür das an Shakespeare geschulte, moderne Auge, auch hier in jedem Worte nach neuem realen Sinn zu forschen, die Menschen, deren Fühlen uns heute ferner erscheint, gewaltsam näher zu zerren (vergleiche Hauptmanns Tellregie). Verführerisch und verderblich. Wer gegen die Wände dieser strengen, ernsten Hallen mit der Wucht des modernen Verismus anrennt, zersprengt die Räume. In diesem Beginnen aber liegt eine Schuld jenes Spieles, wie es der Naturalismus schuf. Nach Paul Goldmanns Vorbild ihm die ganze Theatermüdigkeit unserer Zeit zuzuschreiben, ist freilich lächerlich. Die große Begriffverwirrung im Spiel, die der Naturalismus schuf, kann kein Einsichtiger leugnen. Er sprengte die Einheitlichkeit der Erziehung zur Bühne, mischt heute auf fast allen die unvereinbarer Gegenstände modernen und stilisierten Spieles, wie ich sie vorhin schilderte, durcheinander. Das empfindet man im Zuschauerraum peinlicher, als man es hinter der Szene glaubt. Nur wenige große Mimen haben es bewiesen, daß sie beide Welten, altes und neues Spiel, will sagen naturalistisches und stilisiertes, mit ihrer Kunst umfassen konnten. Ob es der Masse der Schauspieler, auf die es in dieser Frage doch ankommt, je gelingen wird, ist zweifelhaft. Erweist es sich aber als unmöglich, was tut es? Wir werden eben Klassik und Moderne auf anderen Bühnen mit anders erzogenen Menschen spielen. Brahm hatte das früh genug erkannt. Was er in seinen Schriften verlangte — die Übertragung modernen Spiels auch auf die Klassik — hat er als Bühnenleiter nie in die Tat umgesetzt. In der Praxis hat er sich auf die eine Welt beschränkt und vor der anderen Halt gemacht. Er war sich nur des einen Triebes bewußt und hat sich auf diese Weise größeren Dank verdient. Denn wer ihn heute deswegen schilt, verkennt, daß er so gerade die klare Erkenntnis schuf, wie unvereinbar beide Welten sind. Wird die Welt um diese Spezialisierung reicher, was tut es? Was wir auf allen Gebieten menschlichen Könnens sehen, wird kein Ver¬ ständiger der Bühnenkunst vorenthalten wollen. Ob diese Spezialisierung notwendig ist oder nicht, ist schließlich gleichgültig; wichtiger, daß der Schaden, den der Naturalismus heute im Bühnenspiel an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/530>, abgerufen am 29.12.2024.