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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Grundfragen des Aindcrschutzes

oder -- wenn wir die gleichen Gegensätze nebeneinander sehen --, welche
andere Gestaltung der Kinderfürsorge in den zerstreuten, fast ganz auf sich ge¬
stellten Hofsiedlungen des fernen Islands und einer modernen Großstadt! Dort
in dem eng geschlossenen Gehöft ist die Familie so gut wie der ganze Nahmen
der Kinderfürsorge. Das Haupt dieser Familie bestimmt darüber, was an
Erziehung und Ausbildung für die heranwachsenden Kinder notwendig sei und
diese Familie verfügt zugleich über die genügenden Mittel, dieses Maß an Aus¬
bildung und Erziehung durchzuführen. Ist doch dort noch ein großer Teil des
Unterrichts Sache des Hauses, Aufgabe der Mutter. Die wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Umwälzungen, die von da bis zu den Kasernenwohnungen der
Großstädte führen, haben von zwei ganz verschiedenen Richtungen aus die
Kinderfürsorge beeinflußt. Nicht nur die erwähnten Einflüsse von Vater und
Mutter, sowie die Einflüsse jener Wirtschaft selbst auf die Kinder sind enger
und kleiner geworden, vielmehr brauchen wir nur an die Wohnungsverhältnisse
unserer großen Städte zu denken, an jene Einengung des Bewegungsraumes
für die Kinder, um zu erkennen, wieviel Leistungsfähigkeit die Familie allein
durch die äußere Änderung der Siedlungsform verloren hat.

Dem steht gegenüber, daß die Anforderungen an die Erziehung in der¬
selben Zeit gewaltig gestiegen sind. Wenn man noch im ausgehenden Mittel-
alter zur Bekämpfung der Bettelei Eltern und Kinder trennen will, so wählt
man dazu den Zeitpunkt, wo die Kinder auf eigenen Füßen stehen, selbständig
untergebracht werden können, d. h. etwa das dreizehnte Lebensjahr. Dann ist
der junge Mensch imstande, sich selbst zu erhalten. Bei der seltsamen Zähig¬
keit, mit der solche alten Anschauungen lebendig bleiben, tun wir heute noch so,
als könnte der junge Mensch nach der Schulentlassung auf eigene Füße gestellt
werden, während schon längst die Notwendigkeit einer ordentlichen Berufsaus¬
bildung nach der Schule anerkannt werden muß. In einem ganz ähnlichen
Gedankengange hatten wir im letzten Jahrhundert die Notwendigkeit eines
Schulunterrichts für alle Kinder erkannt. Die Bestimmung über Wesen und
Inhalt der Erziehung ist der Familie in weitem Umfange genommen worden;
es gibt allgemeine und gesetzliche Normen über das, was jedes Kind an Er¬
flehung erhalten muß, und diese Normen werden auch gegen den Willen der
Familien durchgesetzt. Welche Fülle von Widerwärtigkeiten hat allein der Volks¬
schulzwang zu überwinden gehabt, bis wir unseren heutigen Standpunkt erreichten,
wo die Eltern nicht im geringsten mehr gefragt werden, ob sie diesen Unter¬
richt für zweckmäßig oder für nötig halten. Auf vielen Gebieten macht sich
dieser Übergang geltend und führt zu einer Menge kleiner und kleinster Ver¬
schiebungen, läßt neue Bedürfnisse der Jugendfürsorge entstehen und allgemeine
Anerkennung finden, denen die Familie nicht gewachsen ist.

Bei einem allgemeinen Urteil über den Jugendschutz unserer Tage darf
man niemals diese Bewegung vergessen. So mancher, der heute mehr Kinder¬
fürsorge verlangt, begründet dies eifrig damit, daß die Jugend heutzutage


Grundfragen des Aindcrschutzes

oder — wenn wir die gleichen Gegensätze nebeneinander sehen —, welche
andere Gestaltung der Kinderfürsorge in den zerstreuten, fast ganz auf sich ge¬
stellten Hofsiedlungen des fernen Islands und einer modernen Großstadt! Dort
in dem eng geschlossenen Gehöft ist die Familie so gut wie der ganze Nahmen
der Kinderfürsorge. Das Haupt dieser Familie bestimmt darüber, was an
Erziehung und Ausbildung für die heranwachsenden Kinder notwendig sei und
diese Familie verfügt zugleich über die genügenden Mittel, dieses Maß an Aus¬
bildung und Erziehung durchzuführen. Ist doch dort noch ein großer Teil des
Unterrichts Sache des Hauses, Aufgabe der Mutter. Die wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Umwälzungen, die von da bis zu den Kasernenwohnungen der
Großstädte führen, haben von zwei ganz verschiedenen Richtungen aus die
Kinderfürsorge beeinflußt. Nicht nur die erwähnten Einflüsse von Vater und
Mutter, sowie die Einflüsse jener Wirtschaft selbst auf die Kinder sind enger
und kleiner geworden, vielmehr brauchen wir nur an die Wohnungsverhältnisse
unserer großen Städte zu denken, an jene Einengung des Bewegungsraumes
für die Kinder, um zu erkennen, wieviel Leistungsfähigkeit die Familie allein
durch die äußere Änderung der Siedlungsform verloren hat.

Dem steht gegenüber, daß die Anforderungen an die Erziehung in der¬
selben Zeit gewaltig gestiegen sind. Wenn man noch im ausgehenden Mittel-
alter zur Bekämpfung der Bettelei Eltern und Kinder trennen will, so wählt
man dazu den Zeitpunkt, wo die Kinder auf eigenen Füßen stehen, selbständig
untergebracht werden können, d. h. etwa das dreizehnte Lebensjahr. Dann ist
der junge Mensch imstande, sich selbst zu erhalten. Bei der seltsamen Zähig¬
keit, mit der solche alten Anschauungen lebendig bleiben, tun wir heute noch so,
als könnte der junge Mensch nach der Schulentlassung auf eigene Füße gestellt
werden, während schon längst die Notwendigkeit einer ordentlichen Berufsaus¬
bildung nach der Schule anerkannt werden muß. In einem ganz ähnlichen
Gedankengange hatten wir im letzten Jahrhundert die Notwendigkeit eines
Schulunterrichts für alle Kinder erkannt. Die Bestimmung über Wesen und
Inhalt der Erziehung ist der Familie in weitem Umfange genommen worden;
es gibt allgemeine und gesetzliche Normen über das, was jedes Kind an Er¬
flehung erhalten muß, und diese Normen werden auch gegen den Willen der
Familien durchgesetzt. Welche Fülle von Widerwärtigkeiten hat allein der Volks¬
schulzwang zu überwinden gehabt, bis wir unseren heutigen Standpunkt erreichten,
wo die Eltern nicht im geringsten mehr gefragt werden, ob sie diesen Unter¬
richt für zweckmäßig oder für nötig halten. Auf vielen Gebieten macht sich
dieser Übergang geltend und führt zu einer Menge kleiner und kleinster Ver¬
schiebungen, läßt neue Bedürfnisse der Jugendfürsorge entstehen und allgemeine
Anerkennung finden, denen die Familie nicht gewachsen ist.

Bei einem allgemeinen Urteil über den Jugendschutz unserer Tage darf
man niemals diese Bewegung vergessen. So mancher, der heute mehr Kinder¬
fürsorge verlangt, begründet dies eifrig damit, daß die Jugend heutzutage


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[0515] Grundfragen des Aindcrschutzes oder — wenn wir die gleichen Gegensätze nebeneinander sehen —, welche andere Gestaltung der Kinderfürsorge in den zerstreuten, fast ganz auf sich ge¬ stellten Hofsiedlungen des fernen Islands und einer modernen Großstadt! Dort in dem eng geschlossenen Gehöft ist die Familie so gut wie der ganze Nahmen der Kinderfürsorge. Das Haupt dieser Familie bestimmt darüber, was an Erziehung und Ausbildung für die heranwachsenden Kinder notwendig sei und diese Familie verfügt zugleich über die genügenden Mittel, dieses Maß an Aus¬ bildung und Erziehung durchzuführen. Ist doch dort noch ein großer Teil des Unterrichts Sache des Hauses, Aufgabe der Mutter. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die von da bis zu den Kasernenwohnungen der Großstädte führen, haben von zwei ganz verschiedenen Richtungen aus die Kinderfürsorge beeinflußt. Nicht nur die erwähnten Einflüsse von Vater und Mutter, sowie die Einflüsse jener Wirtschaft selbst auf die Kinder sind enger und kleiner geworden, vielmehr brauchen wir nur an die Wohnungsverhältnisse unserer großen Städte zu denken, an jene Einengung des Bewegungsraumes für die Kinder, um zu erkennen, wieviel Leistungsfähigkeit die Familie allein durch die äußere Änderung der Siedlungsform verloren hat. Dem steht gegenüber, daß die Anforderungen an die Erziehung in der¬ selben Zeit gewaltig gestiegen sind. Wenn man noch im ausgehenden Mittel- alter zur Bekämpfung der Bettelei Eltern und Kinder trennen will, so wählt man dazu den Zeitpunkt, wo die Kinder auf eigenen Füßen stehen, selbständig untergebracht werden können, d. h. etwa das dreizehnte Lebensjahr. Dann ist der junge Mensch imstande, sich selbst zu erhalten. Bei der seltsamen Zähig¬ keit, mit der solche alten Anschauungen lebendig bleiben, tun wir heute noch so, als könnte der junge Mensch nach der Schulentlassung auf eigene Füße gestellt werden, während schon längst die Notwendigkeit einer ordentlichen Berufsaus¬ bildung nach der Schule anerkannt werden muß. In einem ganz ähnlichen Gedankengange hatten wir im letzten Jahrhundert die Notwendigkeit eines Schulunterrichts für alle Kinder erkannt. Die Bestimmung über Wesen und Inhalt der Erziehung ist der Familie in weitem Umfange genommen worden; es gibt allgemeine und gesetzliche Normen über das, was jedes Kind an Er¬ flehung erhalten muß, und diese Normen werden auch gegen den Willen der Familien durchgesetzt. Welche Fülle von Widerwärtigkeiten hat allein der Volks¬ schulzwang zu überwinden gehabt, bis wir unseren heutigen Standpunkt erreichten, wo die Eltern nicht im geringsten mehr gefragt werden, ob sie diesen Unter¬ richt für zweckmäßig oder für nötig halten. Auf vielen Gebieten macht sich dieser Übergang geltend und führt zu einer Menge kleiner und kleinster Ver¬ schiebungen, läßt neue Bedürfnisse der Jugendfürsorge entstehen und allgemeine Anerkennung finden, denen die Familie nicht gewachsen ist. Bei einem allgemeinen Urteil über den Jugendschutz unserer Tage darf man niemals diese Bewegung vergessen. So mancher, der heute mehr Kinder¬ fürsorge verlangt, begründet dies eifrig damit, daß die Jugend heutzutage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/515>, abgerufen am 01.01.2025.