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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Grundfragen des Ainderschuyes

ärger als je verwildere, daß sie viel roher und unbotmäßiger als früher sei.
In den verschiedensten Fassungen durchdröhnen solche Darlegungen unsere Presse,
unsere Versammlungen, unsere Parlamente, sie finden ihren Widerhall in den
Erlassen der Regierungen, wie auf den Kanzeln und Kathedern. Allein sie sind
schon ein wenig verdächtig, weil sie seit hundert Jahren, Jahrzehnt für Jahr¬
zehnt, fast mit denselben Worten wiederkehren. Wir haben Erlasse preußischer
Ministerien aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die man bei
geringen Änderungen für Erzeugnisse der allerletzten Jahre halten würde; ver¬
dächtig ist daneben, daß uns schon als Primanern der moralisierende Horaz
erzählte, wie seine Generation schlechter sei als die der Väter, die bereits
schlimmer waren als ihre Väter, und daß die nächste Generation noch lasterhafter
werde. Geht man den harten Urteilen über unsere Jugend im einzelnen nach,
so findet man doch unendlich viel von der Abneigung des Alters gegen die
neuen Regungen der Jugend. In dem dunklen Bild, das uns hier so oft mit
mehr oder weniger Geschick gezeichnet wird, stecken so viele Züge, die sich erst
auf dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse so schroff abheben.
Wie viele Jugendliche kommen vor den Strafrichter, weil die engen Wohnungs¬
und Lebensverhältnisse unserer Großstädte dem jugendlichen Bewegungsdrang
oft jeden Raum zur Betätigung verwehren. Es ist höchst wahrscheinlich, daß
nur wenige dieser Kinder aus der Großstadt stammen; sie selbst oder ihre
Eltern sind vom Lande in die Städte gezogen, in ganz neue, gerade der Jugend
so schädliche Verhältnisse versetzt worden. Denken wir daran, so verstehen wir,
duß sie nicht schlechter als ihre Väter sind, sondern daß sie einfach das unmög¬
liche nicht leisten können, sich ganz neuen ungünstigen Zuständen von heute auf
morgen anzupassen. Wenn schon vielen Erwachsenen die Anpassungsfähigkeit
ermangelt, die der Wechsel wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zustände erfordert,
so können wir uns nicht wundern, daß die Jugend in Zeiten raschen Wandels
und umfassender Wandlungen am meisten zu leiden hat.

Es ist ein arger Fehler z. B. immer nur vou der Verwilderung der
Arbeiterjugend oder der großstädtischen Jugend zu reden. In den höheren
Ständen sind jene Schwierigkeiten mindestens ebenso groß. Was in den unteren
Schichten Zwnngserziehungs- und ähnliche Anstalten und die Kinderfürsorge
leisten müssen, leisten in den oberen Schichten die zahlreichen Neformerziehungs-
anstalten, Schülerpensionate und schließlich in schwierigeren Fällen Heilerziehungs¬
heime. Sie alle sind doch in erster Linie ein Beweis, daß selbst in wohl¬
habenden Schichten weder das Haus noch die öffentlichen Schulen trotz aller
Fortschritte imstande sind, den Anforderungen an die Erziehung zu genügen.
Freilich hier, wo die Eltern Mittel besitzen, bedarf es keines Eingriffes der
Fürsorge; sie können selbst die richtigen Erziehungsformen suchen und sie selbst
bezahlen. Aber das Übel ist genau dasselbe wie unten. Sogar in dem Stück
ähneln sich die Unistände, daß böswillige und unfähige Eltern überall vertreten
sind, nur daß sie natürlich in den unteren Bcvölkerungsschtchten häufiger mit


Grundfragen des Ainderschuyes

ärger als je verwildere, daß sie viel roher und unbotmäßiger als früher sei.
In den verschiedensten Fassungen durchdröhnen solche Darlegungen unsere Presse,
unsere Versammlungen, unsere Parlamente, sie finden ihren Widerhall in den
Erlassen der Regierungen, wie auf den Kanzeln und Kathedern. Allein sie sind
schon ein wenig verdächtig, weil sie seit hundert Jahren, Jahrzehnt für Jahr¬
zehnt, fast mit denselben Worten wiederkehren. Wir haben Erlasse preußischer
Ministerien aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die man bei
geringen Änderungen für Erzeugnisse der allerletzten Jahre halten würde; ver¬
dächtig ist daneben, daß uns schon als Primanern der moralisierende Horaz
erzählte, wie seine Generation schlechter sei als die der Väter, die bereits
schlimmer waren als ihre Väter, und daß die nächste Generation noch lasterhafter
werde. Geht man den harten Urteilen über unsere Jugend im einzelnen nach,
so findet man doch unendlich viel von der Abneigung des Alters gegen die
neuen Regungen der Jugend. In dem dunklen Bild, das uns hier so oft mit
mehr oder weniger Geschick gezeichnet wird, stecken so viele Züge, die sich erst
auf dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse so schroff abheben.
Wie viele Jugendliche kommen vor den Strafrichter, weil die engen Wohnungs¬
und Lebensverhältnisse unserer Großstädte dem jugendlichen Bewegungsdrang
oft jeden Raum zur Betätigung verwehren. Es ist höchst wahrscheinlich, daß
nur wenige dieser Kinder aus der Großstadt stammen; sie selbst oder ihre
Eltern sind vom Lande in die Städte gezogen, in ganz neue, gerade der Jugend
so schädliche Verhältnisse versetzt worden. Denken wir daran, so verstehen wir,
duß sie nicht schlechter als ihre Väter sind, sondern daß sie einfach das unmög¬
liche nicht leisten können, sich ganz neuen ungünstigen Zuständen von heute auf
morgen anzupassen. Wenn schon vielen Erwachsenen die Anpassungsfähigkeit
ermangelt, die der Wechsel wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zustände erfordert,
so können wir uns nicht wundern, daß die Jugend in Zeiten raschen Wandels
und umfassender Wandlungen am meisten zu leiden hat.

Es ist ein arger Fehler z. B. immer nur vou der Verwilderung der
Arbeiterjugend oder der großstädtischen Jugend zu reden. In den höheren
Ständen sind jene Schwierigkeiten mindestens ebenso groß. Was in den unteren
Schichten Zwnngserziehungs- und ähnliche Anstalten und die Kinderfürsorge
leisten müssen, leisten in den oberen Schichten die zahlreichen Neformerziehungs-
anstalten, Schülerpensionate und schließlich in schwierigeren Fällen Heilerziehungs¬
heime. Sie alle sind doch in erster Linie ein Beweis, daß selbst in wohl¬
habenden Schichten weder das Haus noch die öffentlichen Schulen trotz aller
Fortschritte imstande sind, den Anforderungen an die Erziehung zu genügen.
Freilich hier, wo die Eltern Mittel besitzen, bedarf es keines Eingriffes der
Fürsorge; sie können selbst die richtigen Erziehungsformen suchen und sie selbst
bezahlen. Aber das Übel ist genau dasselbe wie unten. Sogar in dem Stück
ähneln sich die Unistände, daß böswillige und unfähige Eltern überall vertreten
sind, nur daß sie natürlich in den unteren Bcvölkerungsschtchten häufiger mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/516>, abgerufen am 04.01.2025.