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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Grundfragen des Kinderschuhe?

Frau -- sie ist zu allen Zeiten in der Produktion tätig, also auch erwerbs¬
tätig gewesen -- aus dem Hause hinaus verlegt und mit dieser Verlegung des
Produktionsortes wird auch die Frau aus dem Hause herausgezogen gleich dem
Mann. Welcher dieser beiden Vorgänge für die Erziehungsleistung der Familie
bedeutsamer war, ist heute gar nicht sicher zu beurteilen, da wir den persön¬
lichen Einfluß, vor allem den unwillkürlichen Einfluß der Berührung mit dem
väterlichen Gewerbe im Hause auf das heranwachsende Kind keineswegs unter¬
schätzen und den Einfluß der im Hause arbeitenden Mutter nicht überschätzen
dürfen. Was der eine mehr für das persönliche innere Leben des Kindes gibt,
das gibt der andere mehr an sozialem Gehalt, an Förderung für das wirt¬
schaftliche und gesellschaftliche Leben. In den Schwierigkeiten der Berufswahl,
die eigentlich erst in neuester Zeit gewürdigt werden, zeigt sich der Einfluß
jener veränderten Stellung des Vaters in der Erziehung in seiner schärfsten
Gestaltung.

Dieses Beispiel will nur den Blick öffnen dafür, wie schwer es ist, aus
dem allgemeinen Satz, daß die heutige Kinderfürsorge ihre Formen durch den
Übergang größerer Aufgaben der Familie auf andere Organe, in letzter Linie
auf den Staat, erhält, wirklich richtige Folgerungen zu ziehen und unter diesen
Folgerungen die wichtigsten herauszuheben. Dabei ist von der rein gefühls¬
mäßigen Wertung dieser Dinge abzusehen und eine möglichst ruhige, sachliche
Würdigung der gegebenen Tatsachen zu erstreben.

Gehen wir von der allgemeinen Bedeutung der Fürsorge aus, die überall
dort eintritt, wo die Mittel und Kräfte des einzelnen nicht ausreichen, um seine
persönlichen und gesellschaftlichen Aufgaben zu erfüllen, wo dazu auf irgend
einem Wege fremde Mittel ohne Entgelt dargeboten werden müssen, so ist das
Kind an sich überhaupt fürsorgebedürftig. Als das hilfsloseste aller Lebewesen
kommt es in die Welt und bleibt am längsten von allen in diesem fürsorge¬
bedürftigen Zustand. So würde im letzten Sinne Kinderfürsorge alles umfassen,
was zum Schutze, zur Heranbildung und Erziehung der jungen Generation
geschieht. In diesem Sinne war die Tätigkeit der Familie Fürsorge im höchsten
Sinn; in diesem Sinne ist Kinderfiirsorge mit dem Begriff der Menschheit über¬
haupt eng verbunden und diese ohne ihn nicht denkbar. Abgesehen von primi¬
tiven Gesellschaftsformen finden wir überall in der Heranbildung des jungen
Geschlechts eine Arbeitsteilung zwischen den Familienformen und anderen
darüber hinausgehenden Gesellschaftsbildungen, die sich des Nachwuchses an¬
nehmen. Unsere heutige Kinderfürsorge ist gleich all diesen Bildungen auf dem
Wege einer Ausscheidung immer weiterer Aufgaben der Kinderfürsorge aus dem
Rahmen der Familienleistungen heraus entstanden, und ihrem Wesen werden
wir am ehesten näherkommen, wenn wir diesen Vorgang im einzelnen zu ver¬
stehen suchen.

Welchen weiten Weg hat die Entwicklung gemacht, allein schon von der
geschlossenen Gutswirtschaft des früheren Mittelalters an bis zur Gegenwart,


Grundfragen des Kinderschuhe?

Frau — sie ist zu allen Zeiten in der Produktion tätig, also auch erwerbs¬
tätig gewesen — aus dem Hause hinaus verlegt und mit dieser Verlegung des
Produktionsortes wird auch die Frau aus dem Hause herausgezogen gleich dem
Mann. Welcher dieser beiden Vorgänge für die Erziehungsleistung der Familie
bedeutsamer war, ist heute gar nicht sicher zu beurteilen, da wir den persön¬
lichen Einfluß, vor allem den unwillkürlichen Einfluß der Berührung mit dem
väterlichen Gewerbe im Hause auf das heranwachsende Kind keineswegs unter¬
schätzen und den Einfluß der im Hause arbeitenden Mutter nicht überschätzen
dürfen. Was der eine mehr für das persönliche innere Leben des Kindes gibt,
das gibt der andere mehr an sozialem Gehalt, an Förderung für das wirt¬
schaftliche und gesellschaftliche Leben. In den Schwierigkeiten der Berufswahl,
die eigentlich erst in neuester Zeit gewürdigt werden, zeigt sich der Einfluß
jener veränderten Stellung des Vaters in der Erziehung in seiner schärfsten
Gestaltung.

Dieses Beispiel will nur den Blick öffnen dafür, wie schwer es ist, aus
dem allgemeinen Satz, daß die heutige Kinderfürsorge ihre Formen durch den
Übergang größerer Aufgaben der Familie auf andere Organe, in letzter Linie
auf den Staat, erhält, wirklich richtige Folgerungen zu ziehen und unter diesen
Folgerungen die wichtigsten herauszuheben. Dabei ist von der rein gefühls¬
mäßigen Wertung dieser Dinge abzusehen und eine möglichst ruhige, sachliche
Würdigung der gegebenen Tatsachen zu erstreben.

Gehen wir von der allgemeinen Bedeutung der Fürsorge aus, die überall
dort eintritt, wo die Mittel und Kräfte des einzelnen nicht ausreichen, um seine
persönlichen und gesellschaftlichen Aufgaben zu erfüllen, wo dazu auf irgend
einem Wege fremde Mittel ohne Entgelt dargeboten werden müssen, so ist das
Kind an sich überhaupt fürsorgebedürftig. Als das hilfsloseste aller Lebewesen
kommt es in die Welt und bleibt am längsten von allen in diesem fürsorge¬
bedürftigen Zustand. So würde im letzten Sinne Kinderfürsorge alles umfassen,
was zum Schutze, zur Heranbildung und Erziehung der jungen Generation
geschieht. In diesem Sinne war die Tätigkeit der Familie Fürsorge im höchsten
Sinn; in diesem Sinne ist Kinderfiirsorge mit dem Begriff der Menschheit über¬
haupt eng verbunden und diese ohne ihn nicht denkbar. Abgesehen von primi¬
tiven Gesellschaftsformen finden wir überall in der Heranbildung des jungen
Geschlechts eine Arbeitsteilung zwischen den Familienformen und anderen
darüber hinausgehenden Gesellschaftsbildungen, die sich des Nachwuchses an¬
nehmen. Unsere heutige Kinderfürsorge ist gleich all diesen Bildungen auf dem
Wege einer Ausscheidung immer weiterer Aufgaben der Kinderfürsorge aus dem
Rahmen der Familienleistungen heraus entstanden, und ihrem Wesen werden
wir am ehesten näherkommen, wenn wir diesen Vorgang im einzelnen zu ver¬
stehen suchen.

Welchen weiten Weg hat die Entwicklung gemacht, allein schon von der
geschlossenen Gutswirtschaft des früheren Mittelalters an bis zur Gegenwart,


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[0514] Grundfragen des Kinderschuhe? Frau — sie ist zu allen Zeiten in der Produktion tätig, also auch erwerbs¬ tätig gewesen — aus dem Hause hinaus verlegt und mit dieser Verlegung des Produktionsortes wird auch die Frau aus dem Hause herausgezogen gleich dem Mann. Welcher dieser beiden Vorgänge für die Erziehungsleistung der Familie bedeutsamer war, ist heute gar nicht sicher zu beurteilen, da wir den persön¬ lichen Einfluß, vor allem den unwillkürlichen Einfluß der Berührung mit dem väterlichen Gewerbe im Hause auf das heranwachsende Kind keineswegs unter¬ schätzen und den Einfluß der im Hause arbeitenden Mutter nicht überschätzen dürfen. Was der eine mehr für das persönliche innere Leben des Kindes gibt, das gibt der andere mehr an sozialem Gehalt, an Förderung für das wirt¬ schaftliche und gesellschaftliche Leben. In den Schwierigkeiten der Berufswahl, die eigentlich erst in neuester Zeit gewürdigt werden, zeigt sich der Einfluß jener veränderten Stellung des Vaters in der Erziehung in seiner schärfsten Gestaltung. Dieses Beispiel will nur den Blick öffnen dafür, wie schwer es ist, aus dem allgemeinen Satz, daß die heutige Kinderfürsorge ihre Formen durch den Übergang größerer Aufgaben der Familie auf andere Organe, in letzter Linie auf den Staat, erhält, wirklich richtige Folgerungen zu ziehen und unter diesen Folgerungen die wichtigsten herauszuheben. Dabei ist von der rein gefühls¬ mäßigen Wertung dieser Dinge abzusehen und eine möglichst ruhige, sachliche Würdigung der gegebenen Tatsachen zu erstreben. Gehen wir von der allgemeinen Bedeutung der Fürsorge aus, die überall dort eintritt, wo die Mittel und Kräfte des einzelnen nicht ausreichen, um seine persönlichen und gesellschaftlichen Aufgaben zu erfüllen, wo dazu auf irgend einem Wege fremde Mittel ohne Entgelt dargeboten werden müssen, so ist das Kind an sich überhaupt fürsorgebedürftig. Als das hilfsloseste aller Lebewesen kommt es in die Welt und bleibt am längsten von allen in diesem fürsorge¬ bedürftigen Zustand. So würde im letzten Sinne Kinderfürsorge alles umfassen, was zum Schutze, zur Heranbildung und Erziehung der jungen Generation geschieht. In diesem Sinne war die Tätigkeit der Familie Fürsorge im höchsten Sinn; in diesem Sinne ist Kinderfiirsorge mit dem Begriff der Menschheit über¬ haupt eng verbunden und diese ohne ihn nicht denkbar. Abgesehen von primi¬ tiven Gesellschaftsformen finden wir überall in der Heranbildung des jungen Geschlechts eine Arbeitsteilung zwischen den Familienformen und anderen darüber hinausgehenden Gesellschaftsbildungen, die sich des Nachwuchses an¬ nehmen. Unsere heutige Kinderfürsorge ist gleich all diesen Bildungen auf dem Wege einer Ausscheidung immer weiterer Aufgaben der Kinderfürsorge aus dem Rahmen der Familienleistungen heraus entstanden, und ihrem Wesen werden wir am ehesten näherkommen, wenn wir diesen Vorgang im einzelnen zu ver¬ stehen suchen. Welchen weiten Weg hat die Entwicklung gemacht, allein schon von der geschlossenen Gutswirtschaft des früheren Mittelalters an bis zur Gegenwart,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/514>, abgerufen am 29.12.2024.