Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Victor BlntlMN einer mehr auf allgemeinen Anschauungen aufgebauten Lebensrealistik, wie wir sie Freilich, vom reinen Kunststandpunkte aus. auf den doch immer wieder hin¬ Victor BlntlMN einer mehr auf allgemeinen Anschauungen aufgebauten Lebensrealistik, wie wir sie Freilich, vom reinen Kunststandpunkte aus. auf den doch immer wieder hin¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0051" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327517"/> <fw type="header" place="top"> Victor BlntlMN</fw><lb/> <p xml:id="ID_122" prev="#ID_121"> einer mehr auf allgemeinen Anschauungen aufgebauten Lebensrealistik, wie wir sie<lb/> bei Spielhagen und Hackländer anzutreffen gewohnt sind. In diese Lebensrealität<lb/> wird um der Handlung und der „besonderen" Charaktere willen ein reichlicher<lb/> Zuschuß Phantasie eingeführt, so daß eine gewisse Romantik entsteht, die wir<lb/> Romanhastigkeit nennen. Buche die Realistik für sich, so würde sie echt wirken;<lb/> im Bunde mit der stark sich hervordrängenden Phantasie ist sie aber zum großen<lb/> Teile an sich und auch psychologisch unwahrscheinlich. Wilhelm Raabe besaß in<lb/> den Werken seiner Frühzeit sehr viel Romanhaftes. Man braucht nur Blüthgens<lb/> 1848-Roman „Aus gärender Zeit" vorzunehmen, um sofort zu fühlen, daß ich<lb/> nicht etwa die Marlittsche Art im Sinne habe. Mit ihr hängt vielmehr das be-<lb/> wußte und vom offensten Willen gelenkte Streben zusammen, unterhaltend sein<lb/> zu wollen. Daher kommt der Anlaß, besonders stofflich reich zu sein, möglichst<lb/> viel Situationen zu geben, den Dialog kurz, knapp und lebendig, wenn auch<lb/> inhaltlich unwirklich zu führen, die Figuren rein äußerlich gegeneinander abzu¬<lb/> stimmen und die Handlung aus Gegensätzen zu entwickeln. Da solche Unter¬<lb/> haltungsformen aber mit gut gezogenem Geschmacke gepflegt werden, erreichten<lb/> ihre Werke meist eine angenehme Volkstümlichkeit, die dem heutigen Roman —<lb/> abgesehen von den Büchern unserer modischen Gesellschaftsschilderer Ompteda,<lb/> Zobeltitz, Stratz — zumeist fehlt. Ästhetische Ansprüche an sich waren bei dieser<lb/> Art Romane zu schreiben, die die Zeit nach dem großen Kriege geradezu kenn¬<lb/> zeichnet, durchaus nicht ausschlaggebend, sondern die Wirkung. Und wie groß diese<lb/> war kann man sich vorstellen, wenn man hört, daß ein Roman Blüthgens wie<lb/> „Der Friedensstörer", der 1883 erschien, in mehr als fünfzigtausend Exemplaren<lb/> gekauft wurde und zwar zu einer Zeit, da man noch nicht allgemein wie heute<lb/> Bücher erwarb.</p><lb/> <p xml:id="ID_123" next="#ID_124"> Freilich, vom reinen Kunststandpunkte aus. auf den doch immer wieder hin¬<lb/> zuarbeiten ist, werden wir nur einzelnen von Blüthgens Romanen einen größeren<lb/> Wert zuerkennen können. „Die Spiritisten" z. B., die 1902 erschienen, bestehen<lb/> noch vorzüglich aus stofflichen Gehalte: es ist ein bestimmter Jdeenkreis, in den<lb/> der Autor einmal hineingeraten war und den er nun in erfundenen Gestalten sich<lb/> auswirken läßt; man liest den Roman, der einst viel Aufsehen erregte, um dieses<lb/> Ideenkreises, nicht um der Menschenschilderung, nicht um des Erlebnisses willen,<lb/> das der Jdeenkreis im Dichter hervorruft. Blüthgen enthüllt im Werke zugleich<lb/> glücklicherweise einen Teil seiner Weltanschauung, die nach Toleranz strebt: er tritt<lb/> weder für noch gegen die Okkultisten auf, denn warum sollen sich manche nicht<lb/> „ernsthaft mit dem Welträtsel beschäftigen und die Erfahrungen des Okkultismus<lb/> dafür in Betracht ziehen zu sollen glauben?" Er für sein Ich hält sich in der<lb/> Praxis doch immer wieder an Kants Wort: „Es ist ganz und gar nicht unserer<lb/> Bestimmung gemäß, uns um die künftige Welt viel zu kümmern, sondern wir<lb/> müssen den Kreis, zu dem wir hier bestimmt sind, vollenden und abwarten, wie<lb/> es in Ansehung der künftigen Welt sein wird." Neben diesem Roman wirkt die Er¬<lb/> zählung „Der Preuße" aus dem Jahre 1884 viel ansehnlicher und selbständiger.<lb/> Wohl verliert sich der zweite Teil noch ganz in romanhaften Erfindungen, um so<lb/> besser ist aber der erste gebaut und gearbeitet. Einmal wird da das andersartige<lb/> Milieu — wir sind in einem verlorenen, von deutschen Kolonisten durchsetzten<lb/> armseligen Karpathendorfe unter Polen, Nuthenen und Madjaren — sicher und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0051]
Victor BlntlMN
einer mehr auf allgemeinen Anschauungen aufgebauten Lebensrealistik, wie wir sie
bei Spielhagen und Hackländer anzutreffen gewohnt sind. In diese Lebensrealität
wird um der Handlung und der „besonderen" Charaktere willen ein reichlicher
Zuschuß Phantasie eingeführt, so daß eine gewisse Romantik entsteht, die wir
Romanhastigkeit nennen. Buche die Realistik für sich, so würde sie echt wirken;
im Bunde mit der stark sich hervordrängenden Phantasie ist sie aber zum großen
Teile an sich und auch psychologisch unwahrscheinlich. Wilhelm Raabe besaß in
den Werken seiner Frühzeit sehr viel Romanhaftes. Man braucht nur Blüthgens
1848-Roman „Aus gärender Zeit" vorzunehmen, um sofort zu fühlen, daß ich
nicht etwa die Marlittsche Art im Sinne habe. Mit ihr hängt vielmehr das be-
wußte und vom offensten Willen gelenkte Streben zusammen, unterhaltend sein
zu wollen. Daher kommt der Anlaß, besonders stofflich reich zu sein, möglichst
viel Situationen zu geben, den Dialog kurz, knapp und lebendig, wenn auch
inhaltlich unwirklich zu führen, die Figuren rein äußerlich gegeneinander abzu¬
stimmen und die Handlung aus Gegensätzen zu entwickeln. Da solche Unter¬
haltungsformen aber mit gut gezogenem Geschmacke gepflegt werden, erreichten
ihre Werke meist eine angenehme Volkstümlichkeit, die dem heutigen Roman —
abgesehen von den Büchern unserer modischen Gesellschaftsschilderer Ompteda,
Zobeltitz, Stratz — zumeist fehlt. Ästhetische Ansprüche an sich waren bei dieser
Art Romane zu schreiben, die die Zeit nach dem großen Kriege geradezu kenn¬
zeichnet, durchaus nicht ausschlaggebend, sondern die Wirkung. Und wie groß diese
war kann man sich vorstellen, wenn man hört, daß ein Roman Blüthgens wie
„Der Friedensstörer", der 1883 erschien, in mehr als fünfzigtausend Exemplaren
gekauft wurde und zwar zu einer Zeit, da man noch nicht allgemein wie heute
Bücher erwarb.
Freilich, vom reinen Kunststandpunkte aus. auf den doch immer wieder hin¬
zuarbeiten ist, werden wir nur einzelnen von Blüthgens Romanen einen größeren
Wert zuerkennen können. „Die Spiritisten" z. B., die 1902 erschienen, bestehen
noch vorzüglich aus stofflichen Gehalte: es ist ein bestimmter Jdeenkreis, in den
der Autor einmal hineingeraten war und den er nun in erfundenen Gestalten sich
auswirken läßt; man liest den Roman, der einst viel Aufsehen erregte, um dieses
Ideenkreises, nicht um der Menschenschilderung, nicht um des Erlebnisses willen,
das der Jdeenkreis im Dichter hervorruft. Blüthgen enthüllt im Werke zugleich
glücklicherweise einen Teil seiner Weltanschauung, die nach Toleranz strebt: er tritt
weder für noch gegen die Okkultisten auf, denn warum sollen sich manche nicht
„ernsthaft mit dem Welträtsel beschäftigen und die Erfahrungen des Okkultismus
dafür in Betracht ziehen zu sollen glauben?" Er für sein Ich hält sich in der
Praxis doch immer wieder an Kants Wort: „Es ist ganz und gar nicht unserer
Bestimmung gemäß, uns um die künftige Welt viel zu kümmern, sondern wir
müssen den Kreis, zu dem wir hier bestimmt sind, vollenden und abwarten, wie
es in Ansehung der künftigen Welt sein wird." Neben diesem Roman wirkt die Er¬
zählung „Der Preuße" aus dem Jahre 1884 viel ansehnlicher und selbständiger.
Wohl verliert sich der zweite Teil noch ganz in romanhaften Erfindungen, um so
besser ist aber der erste gebaut und gearbeitet. Einmal wird da das andersartige
Milieu — wir sind in einem verlorenen, von deutschen Kolonisten durchsetzten
armseligen Karpathendorfe unter Polen, Nuthenen und Madjaren — sicher und
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