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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Rumcinenfrcigo in Ungarn

Ergebnis der Volkszählung 1910) oder mit 3 500 000 (was der Wahrheit naher
kommen dürfte) veranschlagt werden. Alle ihre Klagen lassen sich aber unter
einem Gesichtspunkt zusammenfassen: das herrschende Regime möge endlich von
den ganz aussichtslosen Versuchen ablassen, sie magyarisieren zu wollen. Denn
diese Versuche sind die Quelle zahlloser Schikanen, Vergewaltigungen und Mi߬
handlungen, unter denen die rumänische Bevölkerung Ungarns ebenso wie die
übrige nichtmagyarische Bevölkerung des Landes heute zu leiden hat.

Den psychologischen Kern der Magyarisieruugspolitik hat kürzlich der frühere
Ministerpräsident Szell in einem Satze sehr anschaulich enthüllt; er hielt eine
große Rede über die Nationalitätenfrage und richtete an seine Zuhörer die
rethorische Frage: Glauben Sie nicht, daß es um die ungarische Staatlichkeit
besser bestellt wäre, wenn in diesem Lande zwanzig Millionen Magyaren kom¬
pakt wohnen würden? Man könnte Herrn von Szell noch mit einer Menge
verwandter politischer Weisheiten dienen: daß eS z. B. in Enropa sehr viel fried¬
licher zuginge und es in diesem Erdteil viel angenehmer zu wohnen wäre, wenn er
nur mit Deutschen oder Engländern oder irgendeiner anderen Nation besiedelt
wäre. Aber man täte Herrn von Szell und seinen Gesinnungsgenossen Unrecht,
wollte man sie mit dieser Parallele abfertigen; sie können in der Tat von ihrem
Standpunkte aus noch triftigere Argumente für ihren Wunsch ins Feld führen,
als die Bequemlichkeit des Regierend Die Magyaren fürchten sich vor zwei
Dingen: dem Panslavismus einerseits und all den Einflüssen, die man in Ungarn
unter dem Sammelnamen "Wien" zusammenfaßt, also die gesamtstaatlichen
Tendenzen; wobei es ja freilich für sie unerquicklich genug ist, daß gerade diese
von ihnen bekämpfte Gemeinsamkeit mit der westlichen Reichshälfte ihnen den
besten Schutz gegen Nußland und den Panslavismus bietet. In Zeitläuften,
wie den jetzigen, wo das panslavistische Gespenst ihnen besonders bedrohlich
erscheint, ist ja dann auch meist ein starkes Abflauen der separatistischen Tendenzen
Zu bemerken. Ihr Mißtrauen gegen "Wien" wird dadurch aber nicht gemildert:
und insofern beurteilen sie ihre Lage ganz richtig, als sie die Gefahr wohl
erkennen, daß einmal die Dynastie sich der nichtmagyarischen Nationalitäten
bedienen könnte, um den Widerstand der Magyaren gegen eine straffere Zu¬
sammenfassung des Gesamtstaates zu brechen. Gegenüber der Vergangenheit
ist diese Gefahr jedenfalls in dein Maße gewachsen, als demokratische Ideen
nicht nur in der österreichischen Reichshälfte, sondern auch sonst in der Welt
an Kraft und Einfluß gewonnen haben.

Graf Tisza hat es nun in seiner bereits erwähnten Rede so dargestellt,
als stände im Mittelpunkt des von ihm gegenüber den rumänischen Wünschen
"erfochtenen Besitzstandes der zertralistisch organisierte Staat, die "einheitliche
ungarische Nation", wie der Autdruck nicht ohne Absicht in den ungarischen
Verfassungsgesetzen des Jahres 1867 lautet, eine Zweideutigkeit des Ausdrucks,
°le vom herrschenden Magyarentum ähnlich ausgenutzt wird, wie der Umstand,
daß die magyarische Sprache nur ein Wort für den geographischen Begriff des


Die Rumcinenfrcigo in Ungarn

Ergebnis der Volkszählung 1910) oder mit 3 500 000 (was der Wahrheit naher
kommen dürfte) veranschlagt werden. Alle ihre Klagen lassen sich aber unter
einem Gesichtspunkt zusammenfassen: das herrschende Regime möge endlich von
den ganz aussichtslosen Versuchen ablassen, sie magyarisieren zu wollen. Denn
diese Versuche sind die Quelle zahlloser Schikanen, Vergewaltigungen und Mi߬
handlungen, unter denen die rumänische Bevölkerung Ungarns ebenso wie die
übrige nichtmagyarische Bevölkerung des Landes heute zu leiden hat.

Den psychologischen Kern der Magyarisieruugspolitik hat kürzlich der frühere
Ministerpräsident Szell in einem Satze sehr anschaulich enthüllt; er hielt eine
große Rede über die Nationalitätenfrage und richtete an seine Zuhörer die
rethorische Frage: Glauben Sie nicht, daß es um die ungarische Staatlichkeit
besser bestellt wäre, wenn in diesem Lande zwanzig Millionen Magyaren kom¬
pakt wohnen würden? Man könnte Herrn von Szell noch mit einer Menge
verwandter politischer Weisheiten dienen: daß eS z. B. in Enropa sehr viel fried¬
licher zuginge und es in diesem Erdteil viel angenehmer zu wohnen wäre, wenn er
nur mit Deutschen oder Engländern oder irgendeiner anderen Nation besiedelt
wäre. Aber man täte Herrn von Szell und seinen Gesinnungsgenossen Unrecht,
wollte man sie mit dieser Parallele abfertigen; sie können in der Tat von ihrem
Standpunkte aus noch triftigere Argumente für ihren Wunsch ins Feld führen,
als die Bequemlichkeit des Regierend Die Magyaren fürchten sich vor zwei
Dingen: dem Panslavismus einerseits und all den Einflüssen, die man in Ungarn
unter dem Sammelnamen „Wien" zusammenfaßt, also die gesamtstaatlichen
Tendenzen; wobei es ja freilich für sie unerquicklich genug ist, daß gerade diese
von ihnen bekämpfte Gemeinsamkeit mit der westlichen Reichshälfte ihnen den
besten Schutz gegen Nußland und den Panslavismus bietet. In Zeitläuften,
wie den jetzigen, wo das panslavistische Gespenst ihnen besonders bedrohlich
erscheint, ist ja dann auch meist ein starkes Abflauen der separatistischen Tendenzen
Zu bemerken. Ihr Mißtrauen gegen „Wien" wird dadurch aber nicht gemildert:
und insofern beurteilen sie ihre Lage ganz richtig, als sie die Gefahr wohl
erkennen, daß einmal die Dynastie sich der nichtmagyarischen Nationalitäten
bedienen könnte, um den Widerstand der Magyaren gegen eine straffere Zu¬
sammenfassung des Gesamtstaates zu brechen. Gegenüber der Vergangenheit
ist diese Gefahr jedenfalls in dein Maße gewachsen, als demokratische Ideen
nicht nur in der österreichischen Reichshälfte, sondern auch sonst in der Welt
an Kraft und Einfluß gewonnen haben.

Graf Tisza hat es nun in seiner bereits erwähnten Rede so dargestellt,
als stände im Mittelpunkt des von ihm gegenüber den rumänischen Wünschen
"erfochtenen Besitzstandes der zertralistisch organisierte Staat, die „einheitliche
ungarische Nation", wie der Autdruck nicht ohne Absicht in den ungarischen
Verfassungsgesetzen des Jahres 1867 lautet, eine Zweideutigkeit des Ausdrucks,
°le vom herrschenden Magyarentum ähnlich ausgenutzt wird, wie der Umstand,
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[0495] Die Rumcinenfrcigo in Ungarn Ergebnis der Volkszählung 1910) oder mit 3 500 000 (was der Wahrheit naher kommen dürfte) veranschlagt werden. Alle ihre Klagen lassen sich aber unter einem Gesichtspunkt zusammenfassen: das herrschende Regime möge endlich von den ganz aussichtslosen Versuchen ablassen, sie magyarisieren zu wollen. Denn diese Versuche sind die Quelle zahlloser Schikanen, Vergewaltigungen und Mi߬ handlungen, unter denen die rumänische Bevölkerung Ungarns ebenso wie die übrige nichtmagyarische Bevölkerung des Landes heute zu leiden hat. Den psychologischen Kern der Magyarisieruugspolitik hat kürzlich der frühere Ministerpräsident Szell in einem Satze sehr anschaulich enthüllt; er hielt eine große Rede über die Nationalitätenfrage und richtete an seine Zuhörer die rethorische Frage: Glauben Sie nicht, daß es um die ungarische Staatlichkeit besser bestellt wäre, wenn in diesem Lande zwanzig Millionen Magyaren kom¬ pakt wohnen würden? Man könnte Herrn von Szell noch mit einer Menge verwandter politischer Weisheiten dienen: daß eS z. B. in Enropa sehr viel fried¬ licher zuginge und es in diesem Erdteil viel angenehmer zu wohnen wäre, wenn er nur mit Deutschen oder Engländern oder irgendeiner anderen Nation besiedelt wäre. Aber man täte Herrn von Szell und seinen Gesinnungsgenossen Unrecht, wollte man sie mit dieser Parallele abfertigen; sie können in der Tat von ihrem Standpunkte aus noch triftigere Argumente für ihren Wunsch ins Feld führen, als die Bequemlichkeit des Regierend Die Magyaren fürchten sich vor zwei Dingen: dem Panslavismus einerseits und all den Einflüssen, die man in Ungarn unter dem Sammelnamen „Wien" zusammenfaßt, also die gesamtstaatlichen Tendenzen; wobei es ja freilich für sie unerquicklich genug ist, daß gerade diese von ihnen bekämpfte Gemeinsamkeit mit der westlichen Reichshälfte ihnen den besten Schutz gegen Nußland und den Panslavismus bietet. In Zeitläuften, wie den jetzigen, wo das panslavistische Gespenst ihnen besonders bedrohlich erscheint, ist ja dann auch meist ein starkes Abflauen der separatistischen Tendenzen Zu bemerken. Ihr Mißtrauen gegen „Wien" wird dadurch aber nicht gemildert: und insofern beurteilen sie ihre Lage ganz richtig, als sie die Gefahr wohl erkennen, daß einmal die Dynastie sich der nichtmagyarischen Nationalitäten bedienen könnte, um den Widerstand der Magyaren gegen eine straffere Zu¬ sammenfassung des Gesamtstaates zu brechen. Gegenüber der Vergangenheit ist diese Gefahr jedenfalls in dein Maße gewachsen, als demokratische Ideen nicht nur in der österreichischen Reichshälfte, sondern auch sonst in der Welt an Kraft und Einfluß gewonnen haben. Graf Tisza hat es nun in seiner bereits erwähnten Rede so dargestellt, als stände im Mittelpunkt des von ihm gegenüber den rumänischen Wünschen "erfochtenen Besitzstandes der zertralistisch organisierte Staat, die „einheitliche ungarische Nation", wie der Autdruck nicht ohne Absicht in den ungarischen Verfassungsgesetzen des Jahres 1867 lautet, eine Zweideutigkeit des Ausdrucks, °le vom herrschenden Magyarentum ähnlich ausgenutzt wird, wie der Umstand, daß die magyarische Sprache nur ein Wort für den geographischen Begriff des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/495>, abgerufen am 01.01.2025.