Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur greifen. Nur das eine muß gesagt werden: unsere zeitgenössischen Philosophen "Es ist üblich geworden, daß die Naturforscher selbst ihren Bedarf an Phi¬ Diese Worte O. Külpes kommen mir stets in den Sinn, wenn ich in den Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur greifen. Nur das eine muß gesagt werden: unsere zeitgenössischen Philosophen „Es ist üblich geworden, daß die Naturforscher selbst ihren Bedarf an Phi¬ Diese Worte O. Külpes kommen mir stets in den Sinn, wenn ich in den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327919"/> <fw type="header" place="top"> Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur</fw><lb/> <p xml:id="ID_2105" prev="#ID_2104"> greifen. Nur das eine muß gesagt werden: unsere zeitgenössischen Philosophen<lb/> und Psychologen täuschen sich über die theoretische und praktische Bedeutung dieser<lb/> Bestrebung, wenn sie glauben, sie als ein „Kuriosum" behandeln zu dürfen, mit<lb/> dem man sich nicht ernsthaft auseinanderzusetzen brauche. Ich betone hier aus-<lb/> drücklich, daß ich selbst keineswegs „Freudianer" bin. Ich verstehe von diesen<lb/> Dingen vorläufig noch zu wenig, bzw. ich habe noch zu wenig praktischen Einblick<lb/> in sie. Mancher, dem es ebenso geht, wie mir, hält trotzdem nicht mit seinem —<lb/> ablehnenden — Urteil zurück. Noch öfter aber macht man den Grundsätzen der<lb/> Psychoanalyse ein Zugeständnis, das für diese schlimmer ist, als eine radikale Ab¬<lb/> lehnung. Man sagt (namentlich etwa mit Bezug auf die das Sexuelle betreffende<lb/> Seite dieser Lehre): ich gestehe ja zu, daß „etwas Richtiges" an dieser Bestrebung<lb/> ist. aber dieses Nichtige verliert seinen Wert durch maßlose Übertreibung. Eine<lb/> solche Redeweise scheint mir auf Unkenntnis oder Mißverständnis der Freudschen<lb/> Grundsätze zu beruhen. Mir scheint, daß man hier nicht von einem „mehr oder<lb/> weniger", sondern nur von einem „entweder—oder" reden kann. Entweder sind<lb/> die Prinzipien der psychoanalytischen Forschung richtig, oder sie sind falsch. Halb<lb/> richtig bzw. nur durch ihre Übertreibung falsch können sie nicht sein. Denn sie<lb/> bedeuten eine grundsätzliche Umwälzung der bisherigen psychologischen oder psycho¬<lb/> therapeutischen Betrachtungsweise. Bei solchen Änderungen in den Prinzipien<lb/> aber heißt es: aut-mit. Es ist unmöglich, daß der Anhänger des geozentrischen<lb/> Weltbildes zum Heliozentristen sagt: deine Lehre hat „etwas Wahres an sich",<lb/> aber sie ist übertrieben. Er verwirft diese Lehre vielmehr ganz, oder er läßt sich<lb/> völlig überzeuge« l</p><lb/> <p xml:id="ID_2106"> „Es ist üblich geworden, daß die Naturforscher selbst ihren Bedarf an Phi¬<lb/> losophie bestreiten, und daß die Philosophen sich der besonderen Aufgabe einer<lb/> Naturphilosophie nur in dem allgemeineren Rahmen der Metaphysik oder der<lb/> Erkenntnistheorie und Logik annehmen. Man wird nicht behaupten können, daß<lb/> dieser Zustand besonders erfreulich oder förderlich sei. Denn was von Vertretern<lb/> der Naturwissenschaft an philosophischen Ideen produziert wird, leidet zumeist<lb/> unter der Unkenntnis der vorausgegangenen philosophischen Entwicklung und an<lb/> einer einseitigen Überschätzung der Folgerungen, die sich aus den Voraussetzungen<lb/> und Ergebnissen des besonderen Gebietes ziehen lassen."</p><lb/> <p xml:id="ID_2107" next="#ID_2108"> Diese Worte O. Külpes kommen mir stets in den Sinn, wenn ich in den<lb/> Philosophischen und psychologischen Schriften des philosophierenden Physiologen<lb/> Max Verworn lese, etwa in der „Mechanik des Geisteslebens". Sie fielen mir<lb/> auch wieder ein, als mir eine neuere Schrift zu Gesicht kam, in der von natur¬<lb/> wissenschaftlicher Seite gegen die „Weltanschauung" Verworns — er nennt sie<lb/> »Konditionismus" (denn ohne ein Schlag wort mit ... ismus geht es ja heute nicht<lb/> mehr abi) — zu Felde gezogen wird; nämlich Wilhelm Roux' Schrift: „Über<lb/> kausale und konditionale Weltanschauung und deren Stellung zur Ent¬<lb/> wicklungsmechanik" (Leipzig 1913, W. Engelmann). Roux hat mit dem Grund-<lb/> gedanken seiner Schrift völlig recht: es ist ein hoffnungsloses Unternehmen, den<lb/> Ursachbegriff aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausschalten und durch den<lb/> Bedingungsbegriff ersetzen zu wollen. Der Entwicklungsmechanik ist ihre in der<lb/> Ursachenlehre liegende Stütze durch Verworn nicht genommen worden. Roux hat<lb/> ferner recht mit seiner Ablehnung des Gedankens von einer Wiederanknüpfung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0453]
Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur
greifen. Nur das eine muß gesagt werden: unsere zeitgenössischen Philosophen
und Psychologen täuschen sich über die theoretische und praktische Bedeutung dieser
Bestrebung, wenn sie glauben, sie als ein „Kuriosum" behandeln zu dürfen, mit
dem man sich nicht ernsthaft auseinanderzusetzen brauche. Ich betone hier aus-
drücklich, daß ich selbst keineswegs „Freudianer" bin. Ich verstehe von diesen
Dingen vorläufig noch zu wenig, bzw. ich habe noch zu wenig praktischen Einblick
in sie. Mancher, dem es ebenso geht, wie mir, hält trotzdem nicht mit seinem —
ablehnenden — Urteil zurück. Noch öfter aber macht man den Grundsätzen der
Psychoanalyse ein Zugeständnis, das für diese schlimmer ist, als eine radikale Ab¬
lehnung. Man sagt (namentlich etwa mit Bezug auf die das Sexuelle betreffende
Seite dieser Lehre): ich gestehe ja zu, daß „etwas Richtiges" an dieser Bestrebung
ist. aber dieses Nichtige verliert seinen Wert durch maßlose Übertreibung. Eine
solche Redeweise scheint mir auf Unkenntnis oder Mißverständnis der Freudschen
Grundsätze zu beruhen. Mir scheint, daß man hier nicht von einem „mehr oder
weniger", sondern nur von einem „entweder—oder" reden kann. Entweder sind
die Prinzipien der psychoanalytischen Forschung richtig, oder sie sind falsch. Halb
richtig bzw. nur durch ihre Übertreibung falsch können sie nicht sein. Denn sie
bedeuten eine grundsätzliche Umwälzung der bisherigen psychologischen oder psycho¬
therapeutischen Betrachtungsweise. Bei solchen Änderungen in den Prinzipien
aber heißt es: aut-mit. Es ist unmöglich, daß der Anhänger des geozentrischen
Weltbildes zum Heliozentristen sagt: deine Lehre hat „etwas Wahres an sich",
aber sie ist übertrieben. Er verwirft diese Lehre vielmehr ganz, oder er läßt sich
völlig überzeuge« l
„Es ist üblich geworden, daß die Naturforscher selbst ihren Bedarf an Phi¬
losophie bestreiten, und daß die Philosophen sich der besonderen Aufgabe einer
Naturphilosophie nur in dem allgemeineren Rahmen der Metaphysik oder der
Erkenntnistheorie und Logik annehmen. Man wird nicht behaupten können, daß
dieser Zustand besonders erfreulich oder förderlich sei. Denn was von Vertretern
der Naturwissenschaft an philosophischen Ideen produziert wird, leidet zumeist
unter der Unkenntnis der vorausgegangenen philosophischen Entwicklung und an
einer einseitigen Überschätzung der Folgerungen, die sich aus den Voraussetzungen
und Ergebnissen des besonderen Gebietes ziehen lassen."
Diese Worte O. Külpes kommen mir stets in den Sinn, wenn ich in den
Philosophischen und psychologischen Schriften des philosophierenden Physiologen
Max Verworn lese, etwa in der „Mechanik des Geisteslebens". Sie fielen mir
auch wieder ein, als mir eine neuere Schrift zu Gesicht kam, in der von natur¬
wissenschaftlicher Seite gegen die „Weltanschauung" Verworns — er nennt sie
»Konditionismus" (denn ohne ein Schlag wort mit ... ismus geht es ja heute nicht
mehr abi) — zu Felde gezogen wird; nämlich Wilhelm Roux' Schrift: „Über
kausale und konditionale Weltanschauung und deren Stellung zur Ent¬
wicklungsmechanik" (Leipzig 1913, W. Engelmann). Roux hat mit dem Grund-
gedanken seiner Schrift völlig recht: es ist ein hoffnungsloses Unternehmen, den
Ursachbegriff aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausschalten und durch den
Bedingungsbegriff ersetzen zu wollen. Der Entwicklungsmechanik ist ihre in der
Ursachenlehre liegende Stütze durch Verworn nicht genommen worden. Roux hat
ferner recht mit seiner Ablehnung des Gedankens von einer Wiederanknüpfung
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |