Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Die Rüstungen betrifft das Wahrscheinlichkeitsverhältnis des Sieges zur Niederlage. Die Es mag scheinen, als handele es sich bei dieser Argumentation um ein Es kann nämlich unter den gegebenen Verhältnissen nur äußerst selten der Die Rüstungen betrifft das Wahrscheinlichkeitsverhältnis des Sieges zur Niederlage. Die Es mag scheinen, als handele es sich bei dieser Argumentation um ein Es kann nämlich unter den gegebenen Verhältnissen nur äußerst selten der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0448" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327914"/> <fw type="header" place="top"> Die Rüstungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_2093" prev="#ID_2092"> betrifft das Wahrscheinlichkeitsverhältnis des Sieges zur Niederlage. Die<lb/> Rüstungen sind der Versuch, die zweite Rechnung möglichst günstig zu gestalten.<lb/> Hier aber tritt das Eigentümliche ein — und das ist das wahre Dilemma des<lb/> Wettrüstens —, daß dieser Versuch, den zweiten Faktor günstig zu gestalten,<lb/> auf die Gestaltung der ersten Rechnung in einer für den Frieden günstigen<lb/> Weise zurückwirkt. Die erste Rechnung nämlich setzt sich aus zwei Elementen<lb/> zusammen, den Vorteilen des Sieges und seinen Kosten an Gut und Blut.<lb/> Das erste dieser beiden Elemente ist konstant. Das zweite aber, für den Frieden<lb/> sprechende, wird durch das allgemeine Wettrüsten in seinem Gewicht vermehrt, da<lb/> mit der Steigerung der Rüstungen die Schädigungen der Kriege auch für den<lb/> Sieger wachsen. Je mehr gerüstet wird, desto mehr verschiebt sich das Mi߬<lb/> verhältnis zwischen den Vorteilen eines Krieges und seinen Nachteilen zugunsten<lb/> der letzteren und damit zugunsten des Friedens. Eine Kalkulation kann also<lb/> nur dann die Nützlichkeit eines Krieges ergeben, wenn das Mißverhältnis in<lb/> der ersten Rechnung ausgeglichen wird durch ein entsprechendes Überwiegen der<lb/> Siegeschancen über das Risiko der Niederlage in der zweiten Rechnung. Oder:<lb/> je mehr gerüstet wird, desto größer muß die Überlegenheit des einen über den<lb/> anderen sein, wenn die Kalkulation zugunsten eines Krieges sprechen soll.</p><lb/> <p xml:id="ID_2094"> Es mag scheinen, als handele es sich bei dieser Argumentation um ein<lb/> Spiel mit Rechnungen. Natürlich ist diese ganze Rechnung eine Abstraktion —<lb/> in Wahrheit sind immer eine Unmenge von Nebenumständen in Betracht zu<lb/> ziehen, und nirgends wird eine solche Kalkulation rein angestellt. Und doch<lb/> liegt sie irgendwie unbewußt zugrunde. Dies Gerippe, so schematisch es ist, ist<lb/> für das Verständnis der inneren Eigenart der modernen Politik sehr wesentlich.</p><lb/> <p xml:id="ID_2095" next="#ID_2096"> Es kann nämlich unter den gegebenen Verhältnissen nur äußerst selten der<lb/> Fall eintreten, daß die Kalkulation die Nützlichkeit eines Krieges ergibt. Die<lb/> Kosten auch der siegreichen Kriege wachsen durch die Rüstungen und den Gesamt¬<lb/> charakter der wirtschaftlichen Entwicklung, während die Spannung zwischen den<lb/> Siegeschancen und dem Risiko der Niederlage dank der Allgemeinheit der<lb/> Rüstungen und dem Faktor der Bündnissysteme nirgends weit genug wird,<lb/> um unter jenen Umständen einen Krieg zu rechtfertigen. Daraus ergibt<lb/> sich für den politischen Gesamtcharakter der Zeit folgendes: Kriege zwischen<lb/> Großmächten werden nicht nur um der durch sie zu erringenden Vorteile<lb/> willen begonnen, sondern nur mehr aus Not. Der Fall der Not tritt für<lb/> eine Großmacht nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit ein, da kein Gegner<lb/> da ist, der ein Interesse daran hat, diesen Fall der Not herbeizuführen. Es ist<lb/> für die modernen Konflikte zwischen Großmächten durchaus typisch, daß keiner<lb/> der beiden streitenden Teile ein Interesse an einer kriegerischen Lösung hat. Bei<lb/> den Verhandlungen und der unausgesprochen entscheidenden Kalkulation handelt<lb/> es sich immer um die Frage, wer von beiden Teilen den Krieg, den beide nicht<lb/> wollen, mehr zu fürchten hat und wer ihn im Notfall leichter ertragen kann,<lb/> also nicht mehr um die Frage zwischen Nützlichkeit und Schädlichkeit des Krieges,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0448]
Die Rüstungen
betrifft das Wahrscheinlichkeitsverhältnis des Sieges zur Niederlage. Die
Rüstungen sind der Versuch, die zweite Rechnung möglichst günstig zu gestalten.
Hier aber tritt das Eigentümliche ein — und das ist das wahre Dilemma des
Wettrüstens —, daß dieser Versuch, den zweiten Faktor günstig zu gestalten,
auf die Gestaltung der ersten Rechnung in einer für den Frieden günstigen
Weise zurückwirkt. Die erste Rechnung nämlich setzt sich aus zwei Elementen
zusammen, den Vorteilen des Sieges und seinen Kosten an Gut und Blut.
Das erste dieser beiden Elemente ist konstant. Das zweite aber, für den Frieden
sprechende, wird durch das allgemeine Wettrüsten in seinem Gewicht vermehrt, da
mit der Steigerung der Rüstungen die Schädigungen der Kriege auch für den
Sieger wachsen. Je mehr gerüstet wird, desto mehr verschiebt sich das Mi߬
verhältnis zwischen den Vorteilen eines Krieges und seinen Nachteilen zugunsten
der letzteren und damit zugunsten des Friedens. Eine Kalkulation kann also
nur dann die Nützlichkeit eines Krieges ergeben, wenn das Mißverhältnis in
der ersten Rechnung ausgeglichen wird durch ein entsprechendes Überwiegen der
Siegeschancen über das Risiko der Niederlage in der zweiten Rechnung. Oder:
je mehr gerüstet wird, desto größer muß die Überlegenheit des einen über den
anderen sein, wenn die Kalkulation zugunsten eines Krieges sprechen soll.
Es mag scheinen, als handele es sich bei dieser Argumentation um ein
Spiel mit Rechnungen. Natürlich ist diese ganze Rechnung eine Abstraktion —
in Wahrheit sind immer eine Unmenge von Nebenumständen in Betracht zu
ziehen, und nirgends wird eine solche Kalkulation rein angestellt. Und doch
liegt sie irgendwie unbewußt zugrunde. Dies Gerippe, so schematisch es ist, ist
für das Verständnis der inneren Eigenart der modernen Politik sehr wesentlich.
Es kann nämlich unter den gegebenen Verhältnissen nur äußerst selten der
Fall eintreten, daß die Kalkulation die Nützlichkeit eines Krieges ergibt. Die
Kosten auch der siegreichen Kriege wachsen durch die Rüstungen und den Gesamt¬
charakter der wirtschaftlichen Entwicklung, während die Spannung zwischen den
Siegeschancen und dem Risiko der Niederlage dank der Allgemeinheit der
Rüstungen und dem Faktor der Bündnissysteme nirgends weit genug wird,
um unter jenen Umständen einen Krieg zu rechtfertigen. Daraus ergibt
sich für den politischen Gesamtcharakter der Zeit folgendes: Kriege zwischen
Großmächten werden nicht nur um der durch sie zu erringenden Vorteile
willen begonnen, sondern nur mehr aus Not. Der Fall der Not tritt für
eine Großmacht nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit ein, da kein Gegner
da ist, der ein Interesse daran hat, diesen Fall der Not herbeizuführen. Es ist
für die modernen Konflikte zwischen Großmächten durchaus typisch, daß keiner
der beiden streitenden Teile ein Interesse an einer kriegerischen Lösung hat. Bei
den Verhandlungen und der unausgesprochen entscheidenden Kalkulation handelt
es sich immer um die Frage, wer von beiden Teilen den Krieg, den beide nicht
wollen, mehr zu fürchten hat und wer ihn im Notfall leichter ertragen kann,
also nicht mehr um die Frage zwischen Nützlichkeit und Schädlichkeit des Krieges,
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