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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Rüstungen

aber überaus schwer, in der Praxis einwandfrei zu entscheiden, wer der
Angreifer, wer der Verteidiger ist. Bei beinahe allen Kriegen der letzten
Jahrzehnte wie früherer Zeiten hielten sich beide Teile für den Angegriffenen.
Die Frage, wo bei der Angelegenheit, die den Anlaß zum Kriege bot, das
objektive Recht war, wird eben von beiden Teilen verschieden beantwortet. Es
gibt keine andere Instanz dafür, was ein Staat als sein Recht beanspruchen
darf, als das Interesse der Staaten selber: wenn dieses Interesse Rücksicht zu
nehmen hat auf die Grundsätze des Völkerrechts und das Kulturempfinden der
Zeit, so sind doch sowohl dieses Kultnrempfinden als jene Grundsätze so vage
und voller Widersprüche, daß sie der Interpretation weitesten Spielraum lassen
und schließlich nur die Methode, nicht aber das Ziel des Vorgehens beeinflussen.
Letzten Endes wird ja auch die Gültigkeit des Völkerrechts nur getragen durch
die Rüstungen der Staaten, die die Abmachungen geschlossen haben.

Man kann also ruhig an den defensiven Charakter der modernen Rüstungen
glauben, wenn man darunter versteht, daß nirgends die Absicht auf kriegerische
Eroberung hinter ihnen lauert. Die modernen Staaten bedürfen ihrer, um bei
der Konkurrenz des Nebeneinander der Stimme ihrer Unterhändler Gewicht zu
verleihen, um auf ein mögliches Gegeneinander, das sie, solange die Kon¬
stellation des Nebeneinander dauert, vermeiden wollen, vorbereitet zu sein.
Daher ist unser Zeitalter das der größten Kriegsrüstungen und des längsten
Friedens. Dieser eigenartige Zustand erscheint vielen als widersinnig, ist es
aber nicht. Es ist nicht wahr, daß die modernen Großstaaten zwar rüsten, aber
von ihren Rüstungen keinen Gebrauch machen. Die Kriege werden zwar nicht
mehr gefochten, aber kalkuliere -- und das Ergebnis der Kalkulationen ent¬
scheidet heute, wie früher das Ergebnis der Schlachten, über die Vorteile, die
der eine erringt, oder die Beeinträchtigung, die der andere auf sich nehmen muß.
Die Kanonen schießen nicht, aber sie reden mit in den Verhandlungen. Die
Abschätzung der eigenen militärischen Macht und der des Gegners entscheidet
-- zusammen mit den verwickelten Faktoren der diplomatischen Gesamtlage --
über das Maß der Zugeständnisse, das man selbst zugestehen oder vom Gegner
M fordern vermag. Diese Abschätzung aber ist die Kalkulation des Krieges.
Die Rüstungen nun haben den Zweck, die Kalkulation des Krieges, das heißt
diesen bei den Verhandlungen so wichtigen Faktor, .zu eigenen Gunsten und zu¬
ungunsten des Gegners zu verschieben. Die Überlegenheit wird erstrebt, weniger
um siegreiche Kriege kämpfen, als um sie denken und vom Gegner denken lassen
zu können. Da aber jeder Staat das gleiche Streben hat, wird das Rüster
ein allgemeiner Wettlauf.

Das Paradoxon, daß in unserer Zeit an Stelle der Kriege die Rüstungen
getreten seien, enthält also einen Kern Wahrheit. Das Kalkül des Krieges setzt
sich aus zwei Rechnungen zusammen. Die eine Rechnung betrifft das Ver¬
hältnis der Vorteile eines Sieges zu den Kosten eines Sieges ans der einen,
den Kosten einer Niederlage auf der anderen Seite. Die zweite Rechnung


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Die Rüstungen

aber überaus schwer, in der Praxis einwandfrei zu entscheiden, wer der
Angreifer, wer der Verteidiger ist. Bei beinahe allen Kriegen der letzten
Jahrzehnte wie früherer Zeiten hielten sich beide Teile für den Angegriffenen.
Die Frage, wo bei der Angelegenheit, die den Anlaß zum Kriege bot, das
objektive Recht war, wird eben von beiden Teilen verschieden beantwortet. Es
gibt keine andere Instanz dafür, was ein Staat als sein Recht beanspruchen
darf, als das Interesse der Staaten selber: wenn dieses Interesse Rücksicht zu
nehmen hat auf die Grundsätze des Völkerrechts und das Kulturempfinden der
Zeit, so sind doch sowohl dieses Kultnrempfinden als jene Grundsätze so vage
und voller Widersprüche, daß sie der Interpretation weitesten Spielraum lassen
und schließlich nur die Methode, nicht aber das Ziel des Vorgehens beeinflussen.
Letzten Endes wird ja auch die Gültigkeit des Völkerrechts nur getragen durch
die Rüstungen der Staaten, die die Abmachungen geschlossen haben.

Man kann also ruhig an den defensiven Charakter der modernen Rüstungen
glauben, wenn man darunter versteht, daß nirgends die Absicht auf kriegerische
Eroberung hinter ihnen lauert. Die modernen Staaten bedürfen ihrer, um bei
der Konkurrenz des Nebeneinander der Stimme ihrer Unterhändler Gewicht zu
verleihen, um auf ein mögliches Gegeneinander, das sie, solange die Kon¬
stellation des Nebeneinander dauert, vermeiden wollen, vorbereitet zu sein.
Daher ist unser Zeitalter das der größten Kriegsrüstungen und des längsten
Friedens. Dieser eigenartige Zustand erscheint vielen als widersinnig, ist es
aber nicht. Es ist nicht wahr, daß die modernen Großstaaten zwar rüsten, aber
von ihren Rüstungen keinen Gebrauch machen. Die Kriege werden zwar nicht
mehr gefochten, aber kalkuliere — und das Ergebnis der Kalkulationen ent¬
scheidet heute, wie früher das Ergebnis der Schlachten, über die Vorteile, die
der eine erringt, oder die Beeinträchtigung, die der andere auf sich nehmen muß.
Die Kanonen schießen nicht, aber sie reden mit in den Verhandlungen. Die
Abschätzung der eigenen militärischen Macht und der des Gegners entscheidet
— zusammen mit den verwickelten Faktoren der diplomatischen Gesamtlage —
über das Maß der Zugeständnisse, das man selbst zugestehen oder vom Gegner
M fordern vermag. Diese Abschätzung aber ist die Kalkulation des Krieges.
Die Rüstungen nun haben den Zweck, die Kalkulation des Krieges, das heißt
diesen bei den Verhandlungen so wichtigen Faktor, .zu eigenen Gunsten und zu¬
ungunsten des Gegners zu verschieben. Die Überlegenheit wird erstrebt, weniger
um siegreiche Kriege kämpfen, als um sie denken und vom Gegner denken lassen
zu können. Da aber jeder Staat das gleiche Streben hat, wird das Rüster
ein allgemeiner Wettlauf.

Das Paradoxon, daß in unserer Zeit an Stelle der Kriege die Rüstungen
getreten seien, enthält also einen Kern Wahrheit. Das Kalkül des Krieges setzt
sich aus zwei Rechnungen zusammen. Die eine Rechnung betrifft das Ver¬
hältnis der Vorteile eines Sieges zu den Kosten eines Sieges ans der einen,
den Kosten einer Niederlage auf der anderen Seite. Die zweite Rechnung


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[0447] Die Rüstungen aber überaus schwer, in der Praxis einwandfrei zu entscheiden, wer der Angreifer, wer der Verteidiger ist. Bei beinahe allen Kriegen der letzten Jahrzehnte wie früherer Zeiten hielten sich beide Teile für den Angegriffenen. Die Frage, wo bei der Angelegenheit, die den Anlaß zum Kriege bot, das objektive Recht war, wird eben von beiden Teilen verschieden beantwortet. Es gibt keine andere Instanz dafür, was ein Staat als sein Recht beanspruchen darf, als das Interesse der Staaten selber: wenn dieses Interesse Rücksicht zu nehmen hat auf die Grundsätze des Völkerrechts und das Kulturempfinden der Zeit, so sind doch sowohl dieses Kultnrempfinden als jene Grundsätze so vage und voller Widersprüche, daß sie der Interpretation weitesten Spielraum lassen und schließlich nur die Methode, nicht aber das Ziel des Vorgehens beeinflussen. Letzten Endes wird ja auch die Gültigkeit des Völkerrechts nur getragen durch die Rüstungen der Staaten, die die Abmachungen geschlossen haben. Man kann also ruhig an den defensiven Charakter der modernen Rüstungen glauben, wenn man darunter versteht, daß nirgends die Absicht auf kriegerische Eroberung hinter ihnen lauert. Die modernen Staaten bedürfen ihrer, um bei der Konkurrenz des Nebeneinander der Stimme ihrer Unterhändler Gewicht zu verleihen, um auf ein mögliches Gegeneinander, das sie, solange die Kon¬ stellation des Nebeneinander dauert, vermeiden wollen, vorbereitet zu sein. Daher ist unser Zeitalter das der größten Kriegsrüstungen und des längsten Friedens. Dieser eigenartige Zustand erscheint vielen als widersinnig, ist es aber nicht. Es ist nicht wahr, daß die modernen Großstaaten zwar rüsten, aber von ihren Rüstungen keinen Gebrauch machen. Die Kriege werden zwar nicht mehr gefochten, aber kalkuliere — und das Ergebnis der Kalkulationen ent¬ scheidet heute, wie früher das Ergebnis der Schlachten, über die Vorteile, die der eine erringt, oder die Beeinträchtigung, die der andere auf sich nehmen muß. Die Kanonen schießen nicht, aber sie reden mit in den Verhandlungen. Die Abschätzung der eigenen militärischen Macht und der des Gegners entscheidet — zusammen mit den verwickelten Faktoren der diplomatischen Gesamtlage — über das Maß der Zugeständnisse, das man selbst zugestehen oder vom Gegner M fordern vermag. Diese Abschätzung aber ist die Kalkulation des Krieges. Die Rüstungen nun haben den Zweck, die Kalkulation des Krieges, das heißt diesen bei den Verhandlungen so wichtigen Faktor, .zu eigenen Gunsten und zu¬ ungunsten des Gegners zu verschieben. Die Überlegenheit wird erstrebt, weniger um siegreiche Kriege kämpfen, als um sie denken und vom Gegner denken lassen zu können. Da aber jeder Staat das gleiche Streben hat, wird das Rüster ein allgemeiner Wettlauf. Das Paradoxon, daß in unserer Zeit an Stelle der Kriege die Rüstungen getreten seien, enthält also einen Kern Wahrheit. Das Kalkül des Krieges setzt sich aus zwei Rechnungen zusammen. Die eine Rechnung betrifft das Ver¬ hältnis der Vorteile eines Sieges zu den Kosten eines Sieges ans der einen, den Kosten einer Niederlage auf der anderen Seite. Die zweite Rechnung 28'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/447>, abgerufen am 01.01.2025.