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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Ähnlich liegen die Verhältnisse in allen andern Ländern. So sagte mir
vor einigen Tagen ein russischer Journalist, der vor 1905 noch zu den radikalen
Reformern seines Vaterlandes gehört hatte, er habe erst hier in Berlin, wo er
mittlerweile drei Jahre lebt, erkannt, wie absolut falsch das russische Publikum
einmal über die Verhältnisse in Deutschland unterrichtet worden sei und wie
falsch andererseits Deutschland über die russischen Zustände und innerpolitischen
Kräfteverhältnisse unterwiesen werde. Als roter Faden in der Berichterstattung
zieht sich tatsächlich die Diskreditierung der heimischen Einrichtungen, ganz be¬
sonders der beiderseitigen Armeen. Als die gemeinsame Quelle gab er mir
unaufgefordert die internationale Demokratie an und jeder, der weiß, welche
Macht die sozialdemokratische Literatur in Rußland gewonnen hat, wird auf
die Sozialdemokratie als die Quelle der Deutschland herabsetzenden Presseberichte
in erster Linie raten. Im Gegensatz hierzu hören wir aus Frankreich und
über die französische Armee herabsetzendes durch die französische Presse so gut
wie überhaupt nicht. In Frankreich bezeugen selbst die Blätter der Anti-
Militaristen der eigenen Armee gegenüber eine Zurückhaltung, die bei uns in
der demokratischen Presse nicht bekannt ist.

Ein Beispiel: es ist wohl öffentliches Geheimnis in Frankreich, in welchem
desolaten Zustande sich die beiden alten Waffen, die Infanterie und die Kavallerie,
im Falle einer Mobilmachung befinden würden. Die Armee macht zurzeit
tatsächlich eine schwere Krise durch; sie wäre kaum anders zu mobilisieren, als
daß man den zweiten Rekrutenjahrgang zurückließe und statt dessen Reservisten
einzöge. Nirgends bei den Kompagnien und Schwadronen gibt es eine genügend
große Zahl ausgebildeter Mannschaften; umsomehr Rekruten, die nicht intensiv
genug ausgebildet werden können; bei der Kavallerie tritt erschwerend der Mangel
gut durchgerittener Rekrutenpferde hinzu; daneben sind die unverhältnismäßig zahl¬
reichen Ankaufspferde schlecht. Kasernen und Ställe sind unzureichend. Und
doch liest man nichts davon in der Presse, hört davon nichts in den öffentlichen
Kammersitzungen, und selbstredend wird darüber auch nichts ins Ausland berichtet.
Wie wird dagegen jede Disziplinwidrigkeit im deutschen Heere, jeder Hitzschlag
und jedes Schießplatzunglück, jede noch so leichte Mißhandlung in Deutschland
verallgemeinert und als Zeichen des sich vorbereitenden Niederganges registriert!

Dies Verhalten der französischen Journalistik ist bei dem hochgeschraubten
nationalen Empfinden gewiß nicht auf Teilnahmlosigkeit zurückzuführen, eher
schon auf jenen starken nationalen Instinkt, der es dem Franzosen verbietet,
über sein Land öffentlich abfällige Kritik zu üben, wenn dadurch eine Schmälerung
des Ansehens im Auslande hervorgerufen werden könnte.

In England, wo allerdings die Armee eine ganz andere Stellung im
Volksbewußtsein hat, wie in den Kontinentalstaaten, ist die Haltung der Presse
militärischen Dingen gegenüber ähnlich wie in Frankreich.

Auch dort neigt man zu Verallgemeinerungen über Deutschland, vor denen
man sich heimischen Vorgängen gegenüber sehr hütet. Vergleicht man z. B. die


Reichsspiegel

Ähnlich liegen die Verhältnisse in allen andern Ländern. So sagte mir
vor einigen Tagen ein russischer Journalist, der vor 1905 noch zu den radikalen
Reformern seines Vaterlandes gehört hatte, er habe erst hier in Berlin, wo er
mittlerweile drei Jahre lebt, erkannt, wie absolut falsch das russische Publikum
einmal über die Verhältnisse in Deutschland unterrichtet worden sei und wie
falsch andererseits Deutschland über die russischen Zustände und innerpolitischen
Kräfteverhältnisse unterwiesen werde. Als roter Faden in der Berichterstattung
zieht sich tatsächlich die Diskreditierung der heimischen Einrichtungen, ganz be¬
sonders der beiderseitigen Armeen. Als die gemeinsame Quelle gab er mir
unaufgefordert die internationale Demokratie an und jeder, der weiß, welche
Macht die sozialdemokratische Literatur in Rußland gewonnen hat, wird auf
die Sozialdemokratie als die Quelle der Deutschland herabsetzenden Presseberichte
in erster Linie raten. Im Gegensatz hierzu hören wir aus Frankreich und
über die französische Armee herabsetzendes durch die französische Presse so gut
wie überhaupt nicht. In Frankreich bezeugen selbst die Blätter der Anti-
Militaristen der eigenen Armee gegenüber eine Zurückhaltung, die bei uns in
der demokratischen Presse nicht bekannt ist.

Ein Beispiel: es ist wohl öffentliches Geheimnis in Frankreich, in welchem
desolaten Zustande sich die beiden alten Waffen, die Infanterie und die Kavallerie,
im Falle einer Mobilmachung befinden würden. Die Armee macht zurzeit
tatsächlich eine schwere Krise durch; sie wäre kaum anders zu mobilisieren, als
daß man den zweiten Rekrutenjahrgang zurückließe und statt dessen Reservisten
einzöge. Nirgends bei den Kompagnien und Schwadronen gibt es eine genügend
große Zahl ausgebildeter Mannschaften; umsomehr Rekruten, die nicht intensiv
genug ausgebildet werden können; bei der Kavallerie tritt erschwerend der Mangel
gut durchgerittener Rekrutenpferde hinzu; daneben sind die unverhältnismäßig zahl¬
reichen Ankaufspferde schlecht. Kasernen und Ställe sind unzureichend. Und
doch liest man nichts davon in der Presse, hört davon nichts in den öffentlichen
Kammersitzungen, und selbstredend wird darüber auch nichts ins Ausland berichtet.
Wie wird dagegen jede Disziplinwidrigkeit im deutschen Heere, jeder Hitzschlag
und jedes Schießplatzunglück, jede noch so leichte Mißhandlung in Deutschland
verallgemeinert und als Zeichen des sich vorbereitenden Niederganges registriert!

Dies Verhalten der französischen Journalistik ist bei dem hochgeschraubten
nationalen Empfinden gewiß nicht auf Teilnahmlosigkeit zurückzuführen, eher
schon auf jenen starken nationalen Instinkt, der es dem Franzosen verbietet,
über sein Land öffentlich abfällige Kritik zu üben, wenn dadurch eine Schmälerung
des Ansehens im Auslande hervorgerufen werden könnte.

In England, wo allerdings die Armee eine ganz andere Stellung im
Volksbewußtsein hat, wie in den Kontinentalstaaten, ist die Haltung der Presse
militärischen Dingen gegenüber ähnlich wie in Frankreich.

Auch dort neigt man zu Verallgemeinerungen über Deutschland, vor denen
man sich heimischen Vorgängen gegenüber sehr hütet. Vergleicht man z. B. die


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[0433] Reichsspiegel Ähnlich liegen die Verhältnisse in allen andern Ländern. So sagte mir vor einigen Tagen ein russischer Journalist, der vor 1905 noch zu den radikalen Reformern seines Vaterlandes gehört hatte, er habe erst hier in Berlin, wo er mittlerweile drei Jahre lebt, erkannt, wie absolut falsch das russische Publikum einmal über die Verhältnisse in Deutschland unterrichtet worden sei und wie falsch andererseits Deutschland über die russischen Zustände und innerpolitischen Kräfteverhältnisse unterwiesen werde. Als roter Faden in der Berichterstattung zieht sich tatsächlich die Diskreditierung der heimischen Einrichtungen, ganz be¬ sonders der beiderseitigen Armeen. Als die gemeinsame Quelle gab er mir unaufgefordert die internationale Demokratie an und jeder, der weiß, welche Macht die sozialdemokratische Literatur in Rußland gewonnen hat, wird auf die Sozialdemokratie als die Quelle der Deutschland herabsetzenden Presseberichte in erster Linie raten. Im Gegensatz hierzu hören wir aus Frankreich und über die französische Armee herabsetzendes durch die französische Presse so gut wie überhaupt nicht. In Frankreich bezeugen selbst die Blätter der Anti- Militaristen der eigenen Armee gegenüber eine Zurückhaltung, die bei uns in der demokratischen Presse nicht bekannt ist. Ein Beispiel: es ist wohl öffentliches Geheimnis in Frankreich, in welchem desolaten Zustande sich die beiden alten Waffen, die Infanterie und die Kavallerie, im Falle einer Mobilmachung befinden würden. Die Armee macht zurzeit tatsächlich eine schwere Krise durch; sie wäre kaum anders zu mobilisieren, als daß man den zweiten Rekrutenjahrgang zurückließe und statt dessen Reservisten einzöge. Nirgends bei den Kompagnien und Schwadronen gibt es eine genügend große Zahl ausgebildeter Mannschaften; umsomehr Rekruten, die nicht intensiv genug ausgebildet werden können; bei der Kavallerie tritt erschwerend der Mangel gut durchgerittener Rekrutenpferde hinzu; daneben sind die unverhältnismäßig zahl¬ reichen Ankaufspferde schlecht. Kasernen und Ställe sind unzureichend. Und doch liest man nichts davon in der Presse, hört davon nichts in den öffentlichen Kammersitzungen, und selbstredend wird darüber auch nichts ins Ausland berichtet. Wie wird dagegen jede Disziplinwidrigkeit im deutschen Heere, jeder Hitzschlag und jedes Schießplatzunglück, jede noch so leichte Mißhandlung in Deutschland verallgemeinert und als Zeichen des sich vorbereitenden Niederganges registriert! Dies Verhalten der französischen Journalistik ist bei dem hochgeschraubten nationalen Empfinden gewiß nicht auf Teilnahmlosigkeit zurückzuführen, eher schon auf jenen starken nationalen Instinkt, der es dem Franzosen verbietet, über sein Land öffentlich abfällige Kritik zu üben, wenn dadurch eine Schmälerung des Ansehens im Auslande hervorgerufen werden könnte. In England, wo allerdings die Armee eine ganz andere Stellung im Volksbewußtsein hat, wie in den Kontinentalstaaten, ist die Haltung der Presse militärischen Dingen gegenüber ähnlich wie in Frankreich. Auch dort neigt man zu Verallgemeinerungen über Deutschland, vor denen man sich heimischen Vorgängen gegenüber sehr hütet. Vergleicht man z. B. die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/433>, abgerufen am 01.01.2025.