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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Gin Lebendiger,

Ostade -- tritt die gewaltige Plastik Meunierscher Kraft, und wie durch ein
offenes Fenster glauben wir hinauszusehen in die steigenden Nebel des Morgens,
in das erwachende Leben der Höfe, über mondbeschienene Wälder und in die
lastende Mittagshitze, unter der Wiese und Felder zu sieden scheinen.

Aber neben dem Wald der Bäume und Sträucher erhebt sich der Wald
der Essen. Die Schlote haben die Eichen überwachsen. So steht neben "Ein
Mann" "Der eiserne Moloch", neben der Landwirtschaft die Industrie. Ein
gewaltiger, Ruß und Feuer speiender Götze, der die Wälder versengt, die Saaten
vernichtet. Es ist die Geschichte eines Walzwerkes, die Geschichte der Leiden¬
schaften seiner Bewohner, seines Elends und seiner Unglücksfälle, seiner Streiks
und Katastrophen. Auch hier steht im Mittelpunkt das Schicksal einer Liebe,
die Ehe des Arbeiters Jacques Huriaux, einer fleißigen, ehrlichen Natur, und
seines lasterhaften, verführerischen und seelisch verwahrlosten Weibes. Durch
alle Ereignisse des Walzwerkes, durch die mühselige Qual seines Alltages,
durch seine Todesfälle und Krankenstuben zieht sich diese schmutzige Geschichte
tierischer Brunst, stets betrügender, stets betrogener und nie müde nach neuen
Opfern hungernder Sinnlichkeit. Hinter all dem aber steht wie ein dunkler
Hintergrund das endlose Heer dienender Arbeitssklaven, die nichts sind als ein
gleichgültig hinuntergewürgtes, zermalmt und ausgesogen wieder von sich ge-
spieltes Mahl dieses Fleisch und Eisen fressenden Zyklopen.

Lemonnier war Naturalist, und mit im Hinblick auf dieses Werk hat man
ihn den belgischen Zola genannt. Der Vergleich mit "Germinal" liegt nahe.
Die großen dramatischen Katastrophen, an denen dieser Roman so reich ist,
wird man zwar nicht darin finden, wenn sie Lemonnier auch mitunter, wie die
Schilderung der nächtlichen Kesselexploston beweist, mit Geschick zu verwenden
wußte. Nie aber hat es Zola verstanden, die Gestalten des Arbeiterlebens mit
so feiner Psychologie, mit ihren Lastern aber auch mit ihren Tugenden, mit
ihrem Elend, aber auch mit ihrem beklagenswerten Glück, so warm, so blutvoll,
so -- lebendig zu formen. Nie ist es ihm gelungen, eine Frau wie Karoline
(man denke an Nanna, dieses Monstrum eines Weibes I), in all ihrer Ver¬
dorbenheit, in all ihrer widerlichen Gemeinheit so psychologisch verständlich zu
machen, so menschlich nahe zu bringen. Allzuoft blieb bei Zola etwas von
dem unkeuschen Drang des Journalisten zurück, der sich anschickt, die Sensation
eines neuen, lasterhaften Verbrechens zu schildern, während auf der andern
Seite die Gestalten seiner Romane leicht zu bloßen Typen herabsinken, die nicht
mehr sind als die Soffitten einer breit und ausführlich gemalten Landschaft.
Hier aber hebt sich aus der Masse deutlich die Gestalt des einzelnen hervor,
trotz alles Typischen individuell und eigenartig gebildet, und wird so zum
Symbol des Ganzen.

Neben diesen Meisterwerken stehen andere Romane wie "Der kleine
Nazarener" und das wie eine Autobiographie geschriebene Buch "Warum ich
Männerkleider trug", welches die deutsche Sammlung eröffnet. Es ist die Ge-


Grenzboten I 1914 27
Gin Lebendiger,

Ostade — tritt die gewaltige Plastik Meunierscher Kraft, und wie durch ein
offenes Fenster glauben wir hinauszusehen in die steigenden Nebel des Morgens,
in das erwachende Leben der Höfe, über mondbeschienene Wälder und in die
lastende Mittagshitze, unter der Wiese und Felder zu sieden scheinen.

Aber neben dem Wald der Bäume und Sträucher erhebt sich der Wald
der Essen. Die Schlote haben die Eichen überwachsen. So steht neben „Ein
Mann" „Der eiserne Moloch", neben der Landwirtschaft die Industrie. Ein
gewaltiger, Ruß und Feuer speiender Götze, der die Wälder versengt, die Saaten
vernichtet. Es ist die Geschichte eines Walzwerkes, die Geschichte der Leiden¬
schaften seiner Bewohner, seines Elends und seiner Unglücksfälle, seiner Streiks
und Katastrophen. Auch hier steht im Mittelpunkt das Schicksal einer Liebe,
die Ehe des Arbeiters Jacques Huriaux, einer fleißigen, ehrlichen Natur, und
seines lasterhaften, verführerischen und seelisch verwahrlosten Weibes. Durch
alle Ereignisse des Walzwerkes, durch die mühselige Qual seines Alltages,
durch seine Todesfälle und Krankenstuben zieht sich diese schmutzige Geschichte
tierischer Brunst, stets betrügender, stets betrogener und nie müde nach neuen
Opfern hungernder Sinnlichkeit. Hinter all dem aber steht wie ein dunkler
Hintergrund das endlose Heer dienender Arbeitssklaven, die nichts sind als ein
gleichgültig hinuntergewürgtes, zermalmt und ausgesogen wieder von sich ge-
spieltes Mahl dieses Fleisch und Eisen fressenden Zyklopen.

Lemonnier war Naturalist, und mit im Hinblick auf dieses Werk hat man
ihn den belgischen Zola genannt. Der Vergleich mit „Germinal" liegt nahe.
Die großen dramatischen Katastrophen, an denen dieser Roman so reich ist,
wird man zwar nicht darin finden, wenn sie Lemonnier auch mitunter, wie die
Schilderung der nächtlichen Kesselexploston beweist, mit Geschick zu verwenden
wußte. Nie aber hat es Zola verstanden, die Gestalten des Arbeiterlebens mit
so feiner Psychologie, mit ihren Lastern aber auch mit ihren Tugenden, mit
ihrem Elend, aber auch mit ihrem beklagenswerten Glück, so warm, so blutvoll,
so — lebendig zu formen. Nie ist es ihm gelungen, eine Frau wie Karoline
(man denke an Nanna, dieses Monstrum eines Weibes I), in all ihrer Ver¬
dorbenheit, in all ihrer widerlichen Gemeinheit so psychologisch verständlich zu
machen, so menschlich nahe zu bringen. Allzuoft blieb bei Zola etwas von
dem unkeuschen Drang des Journalisten zurück, der sich anschickt, die Sensation
eines neuen, lasterhaften Verbrechens zu schildern, während auf der andern
Seite die Gestalten seiner Romane leicht zu bloßen Typen herabsinken, die nicht
mehr sind als die Soffitten einer breit und ausführlich gemalten Landschaft.
Hier aber hebt sich aus der Masse deutlich die Gestalt des einzelnen hervor,
trotz alles Typischen individuell und eigenartig gebildet, und wird so zum
Symbol des Ganzen.

Neben diesen Meisterwerken stehen andere Romane wie „Der kleine
Nazarener" und das wie eine Autobiographie geschriebene Buch „Warum ich
Männerkleider trug", welches die deutsche Sammlung eröffnet. Es ist die Ge-


Grenzboten I 1914 27
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[0429] Gin Lebendiger, Ostade — tritt die gewaltige Plastik Meunierscher Kraft, und wie durch ein offenes Fenster glauben wir hinauszusehen in die steigenden Nebel des Morgens, in das erwachende Leben der Höfe, über mondbeschienene Wälder und in die lastende Mittagshitze, unter der Wiese und Felder zu sieden scheinen. Aber neben dem Wald der Bäume und Sträucher erhebt sich der Wald der Essen. Die Schlote haben die Eichen überwachsen. So steht neben „Ein Mann" „Der eiserne Moloch", neben der Landwirtschaft die Industrie. Ein gewaltiger, Ruß und Feuer speiender Götze, der die Wälder versengt, die Saaten vernichtet. Es ist die Geschichte eines Walzwerkes, die Geschichte der Leiden¬ schaften seiner Bewohner, seines Elends und seiner Unglücksfälle, seiner Streiks und Katastrophen. Auch hier steht im Mittelpunkt das Schicksal einer Liebe, die Ehe des Arbeiters Jacques Huriaux, einer fleißigen, ehrlichen Natur, und seines lasterhaften, verführerischen und seelisch verwahrlosten Weibes. Durch alle Ereignisse des Walzwerkes, durch die mühselige Qual seines Alltages, durch seine Todesfälle und Krankenstuben zieht sich diese schmutzige Geschichte tierischer Brunst, stets betrügender, stets betrogener und nie müde nach neuen Opfern hungernder Sinnlichkeit. Hinter all dem aber steht wie ein dunkler Hintergrund das endlose Heer dienender Arbeitssklaven, die nichts sind als ein gleichgültig hinuntergewürgtes, zermalmt und ausgesogen wieder von sich ge- spieltes Mahl dieses Fleisch und Eisen fressenden Zyklopen. Lemonnier war Naturalist, und mit im Hinblick auf dieses Werk hat man ihn den belgischen Zola genannt. Der Vergleich mit „Germinal" liegt nahe. Die großen dramatischen Katastrophen, an denen dieser Roman so reich ist, wird man zwar nicht darin finden, wenn sie Lemonnier auch mitunter, wie die Schilderung der nächtlichen Kesselexploston beweist, mit Geschick zu verwenden wußte. Nie aber hat es Zola verstanden, die Gestalten des Arbeiterlebens mit so feiner Psychologie, mit ihren Lastern aber auch mit ihren Tugenden, mit ihrem Elend, aber auch mit ihrem beklagenswerten Glück, so warm, so blutvoll, so — lebendig zu formen. Nie ist es ihm gelungen, eine Frau wie Karoline (man denke an Nanna, dieses Monstrum eines Weibes I), in all ihrer Ver¬ dorbenheit, in all ihrer widerlichen Gemeinheit so psychologisch verständlich zu machen, so menschlich nahe zu bringen. Allzuoft blieb bei Zola etwas von dem unkeuschen Drang des Journalisten zurück, der sich anschickt, die Sensation eines neuen, lasterhaften Verbrechens zu schildern, während auf der andern Seite die Gestalten seiner Romane leicht zu bloßen Typen herabsinken, die nicht mehr sind als die Soffitten einer breit und ausführlich gemalten Landschaft. Hier aber hebt sich aus der Masse deutlich die Gestalt des einzelnen hervor, trotz alles Typischen individuell und eigenartig gebildet, und wird so zum Symbol des Ganzen. Neben diesen Meisterwerken stehen andere Romane wie „Der kleine Nazarener" und das wie eine Autobiographie geschriebene Buch „Warum ich Männerkleider trug", welches die deutsche Sammlung eröffnet. Es ist die Ge- Grenzboten I 1914 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/429>, abgerufen am 01.01.2025.