Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Ein Lebendigor schichte eines jungen Mädchens, einer elternlosen Waise, die sich aus den Stürmen Diese fünf Bücher bilden nur einen Ausschnitt des geplanten Werkes. Schon Victor Hugo und Baudelaire haben ihn gekannt. Daudet aber Man hat Lemonnier einen Naturalisten gerühmt, gescholten; aber ich meine, Ein Lebendigor schichte eines jungen Mädchens, einer elternlosen Waise, die sich aus den Stürmen Diese fünf Bücher bilden nur einen Ausschnitt des geplanten Werkes. Schon Victor Hugo und Baudelaire haben ihn gekannt. Daudet aber Man hat Lemonnier einen Naturalisten gerühmt, gescholten; aber ich meine, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0430" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327896"/> <fw type="header" place="top"> Ein Lebendigor</fw><lb/> <p xml:id="ID_2011" prev="#ID_2010"> schichte eines jungen Mädchens, einer elternlosen Waise, die sich aus den Stürmen<lb/> gewalttätiger Sinnenlust unter der Tarnkappe einer männlichen Kleidung rettet,<lb/> sich eine Existenz schafft, und schließlich zurückkehrt in das verlassene Geschlecht.<lb/> Wie der Erdboden den Samen empfängt, ohne zu wissen, von wo der Wind<lb/> ihn treibt, empfängt ihr Schoß zuletzt die Liebe des Mannes, und in die Ein¬<lb/> samkeit zurückgekehrt, allein auf sich selber gestellt, bringt sie das Kind zur Welt,<lb/> in einer starken, übermenschlichen Mutterliebe, die des Mannes nicht mehr<lb/> bedarf. —</p><lb/> <p xml:id="ID_2012"> Diese fünf Bücher bilden nur einen Ausschnitt des geplanten Werkes.<lb/> Andere bedeutende Romane wie „Das schlafende Haus", „Es geht ein Wind<lb/> durch die Mühlen" und „Das Recht auf Glück" sollen den genannten folgen.<lb/> „Paul et paulötte" und „I^Komme su amour" finde ich unter den vom<lb/> Herausgeber in Aussicht genommenen Bänden leider nicht verzeichnet. Es wäre<lb/> zu wünschen, daß der Verlag von Axel Juncker sich dazu entschließen würde,<lb/> wenigstens den „Mann in der Liebe" auch noch in diese großzügig angelegte<lb/> und rühmenswerte Ausgabe aufzunehmen. Denn der verstorbene Lemonnier,<lb/> über dessen Grabe das Gras schon einmal welk wurde und nun bald wieder<lb/> zu sprießen beginnt, gehört zu den Lebendigsten der Gegenwart. Er hat diese<lb/> Lebendigkeit, dieses glühende Feuer bewiesen während vierzig langer Jahre<lb/> seines dichterischen Schaffens.</p><lb/> <p xml:id="ID_2013"> Schon Victor Hugo und Baudelaire haben ihn gekannt. Daudet aber<lb/> schrieb an ihn. als er „Un in^Je" gelesen hatte: „Kommen Sie nach Paris.<lb/> Sie finden bei mir Flaubert, Goncourt, Zola. Sie gehören mit zu der Fa¬<lb/> milie. ..." Und wie er der Freund dieser Männer war. wurde er der Johannes<lb/> vieler Berühmterer, die nach ihm kamen. Meunier, Rops, Verhaeren, Maeter-<lb/> link, allen hat er die Schwelle der Tür gezimmert. Die Vielfältigkeit Balzacscher<lb/> Romane ist seinen Werken verwandt, und wie Whitman umfaßte er das Chaos<lb/> der Welt in seinem Innern.</p><lb/> <p xml:id="ID_2014"> Man hat Lemonnier einen Naturalisten gerühmt, gescholten; aber ich meine,<lb/> in seinem ursprünglichen Sinne ist dieser Begriff zu eng. Denn keiner hat wie<lb/> er in so früher Zeit gerade die Romantik des modernen Lebens gefühlt, keinem<lb/> ist die Symbolisierung und Verlebendigung der technischen und industriellen<lb/> Welt so früh gelungen wie ihm, die Beseelung der toten Materie, die den<lb/> Händen des geistigen Schöpfers kaum entronnen, Tier- und Menschengestalt<lb/> annahm in der Psyche des modernen Menschen. Wie hier der eiserne Moloch<lb/> als ein Feuer atmendes Untier gestaltet ist, wie aus dem offenen Maul der<lb/> Hochöfen das Eisen verblutet, das steht an Plastik, an Grauenhaftigkeit der<lb/> Phantasie unserer neuesten noch reifenden Lyrik nicht nach. Kaum daß der<lb/> Meister verstarb, schlägt ein neu erwachendes Feuer von wilder, erstaunlicher<lb/> Lebendigkeit aus seinen Werken empor, und noch im Tode scheint dieser Glühende<lb/> sich zu rüsten, ein Führer der Jüngsten, ein Herold der Kommenden zu sein.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0430]
Ein Lebendigor
schichte eines jungen Mädchens, einer elternlosen Waise, die sich aus den Stürmen
gewalttätiger Sinnenlust unter der Tarnkappe einer männlichen Kleidung rettet,
sich eine Existenz schafft, und schließlich zurückkehrt in das verlassene Geschlecht.
Wie der Erdboden den Samen empfängt, ohne zu wissen, von wo der Wind
ihn treibt, empfängt ihr Schoß zuletzt die Liebe des Mannes, und in die Ein¬
samkeit zurückgekehrt, allein auf sich selber gestellt, bringt sie das Kind zur Welt,
in einer starken, übermenschlichen Mutterliebe, die des Mannes nicht mehr
bedarf. —
Diese fünf Bücher bilden nur einen Ausschnitt des geplanten Werkes.
Andere bedeutende Romane wie „Das schlafende Haus", „Es geht ein Wind
durch die Mühlen" und „Das Recht auf Glück" sollen den genannten folgen.
„Paul et paulötte" und „I^Komme su amour" finde ich unter den vom
Herausgeber in Aussicht genommenen Bänden leider nicht verzeichnet. Es wäre
zu wünschen, daß der Verlag von Axel Juncker sich dazu entschließen würde,
wenigstens den „Mann in der Liebe" auch noch in diese großzügig angelegte
und rühmenswerte Ausgabe aufzunehmen. Denn der verstorbene Lemonnier,
über dessen Grabe das Gras schon einmal welk wurde und nun bald wieder
zu sprießen beginnt, gehört zu den Lebendigsten der Gegenwart. Er hat diese
Lebendigkeit, dieses glühende Feuer bewiesen während vierzig langer Jahre
seines dichterischen Schaffens.
Schon Victor Hugo und Baudelaire haben ihn gekannt. Daudet aber
schrieb an ihn. als er „Un in^Je" gelesen hatte: „Kommen Sie nach Paris.
Sie finden bei mir Flaubert, Goncourt, Zola. Sie gehören mit zu der Fa¬
milie. ..." Und wie er der Freund dieser Männer war. wurde er der Johannes
vieler Berühmterer, die nach ihm kamen. Meunier, Rops, Verhaeren, Maeter-
link, allen hat er die Schwelle der Tür gezimmert. Die Vielfältigkeit Balzacscher
Romane ist seinen Werken verwandt, und wie Whitman umfaßte er das Chaos
der Welt in seinem Innern.
Man hat Lemonnier einen Naturalisten gerühmt, gescholten; aber ich meine,
in seinem ursprünglichen Sinne ist dieser Begriff zu eng. Denn keiner hat wie
er in so früher Zeit gerade die Romantik des modernen Lebens gefühlt, keinem
ist die Symbolisierung und Verlebendigung der technischen und industriellen
Welt so früh gelungen wie ihm, die Beseelung der toten Materie, die den
Händen des geistigen Schöpfers kaum entronnen, Tier- und Menschengestalt
annahm in der Psyche des modernen Menschen. Wie hier der eiserne Moloch
als ein Feuer atmendes Untier gestaltet ist, wie aus dem offenen Maul der
Hochöfen das Eisen verblutet, das steht an Plastik, an Grauenhaftigkeit der
Phantasie unserer neuesten noch reifenden Lyrik nicht nach. Kaum daß der
Meister verstarb, schlägt ein neu erwachendes Feuer von wilder, erstaunlicher
Lebendigkeit aus seinen Werken empor, und noch im Tode scheint dieser Glühende
sich zu rüsten, ein Führer der Jüngsten, ein Herold der Kommenden zu sein.
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