Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Frankreich und die belgische Heeresreform <I^Z

Während Döjardin also 1878 der Ansicht ist. daß nicht Deutschland,
sondern Frankreich den Anstoß zur Verletzung der belgischen Neutralität gibt,
hat er sich mehr als drei Jahrzehnte später, wie viele seiner Landsleute, zur
umgekehrten Anschauung bekehrt, da inzwischen die französische Presse mit einer
Flut von Artikeln die öffentliche Meinung in Belgien bearbeitet hatte. Als
weiteren Beweisgrund für diese Hypothese führt Jules Poirier in seinem Buche
"l^a VelZiczue äevsnt une ^ueiro kranLO - allemanäe" eine Äußerung des
Generals von Bernhardt an, der in einem seiner Werke auseinandersetzt, daß
die deutsche Armee von Norden her die französische umfassen müsse. Es ist
dieses ein Beweis, daß seitens unserer Militärschriftsteller in dieser Frage nicht
genug Zurückhaltung geübt werden kann, da das durch die französischen Ver¬
dächtigungen argwöhnisch gemachte belgische Volk jede derartige private Äußerung
als von offizieller Stelle kommend ansieht.

Nachdem man nun von französischer Seite nachgewiesen zu haben glaubte,
daß Deutschland der böse Nachbar sei, gab man Belgien Ratschläge, wie es sich
gegen die Gefahr einer deutschen Invasion am besten sichern könne. In dieser
Hinsicht sei besonders das vorerwähnte Buch des Generals Langlois genannt,
der darin 1906 hervorhob, daß weder Namur noch Lüttich genügend verteidigt
seien und Antwerpen, das 100 Kilometer von der Maaß entfernt läge, auf die
deutscheu Operationen keinen Einfluß haben könne. Sowohl die Festungs¬
besatzungen der beiden erstgenannten Festungen, als auch die Feldarmee selbst
seien zu schwach, und könne hier nur eine Verstärkung des Heeres helfen.
Dagegen täte Belgien gut, nicht so viele Aufwendungen für die außerhalb des
Operationsbereiches der Armee liegende Festung Antwerpen zu machen. Langlois,
wie viele seiner Landsleute, sieht ferner das Heil Belgiens in einem Anschluß
an Holland, dessen Armee im Kriegsfalle ein nicht zu unterschätzender Kräfte¬
zuwachs für Belgien, und wie die Franzosen weiter hoffen, auch für ihre Armee
bedeuten würde. Wie wenig Neigung auf holländischer Seite für eine solche
Verbrüderung besteht, ist ja bekannt und bedarf keiner weiteren Ausführung.

In Belgien dagegen sind die französischen Ermahnungen auf fruchtbaren
Boden gefallen. Bis zum Jahre 1909 kannte Belgien nicht die allgemeine
Wehrpflicht. Die Rekrutierung der Armee geschah durch Freiwillige, die sich,
falls die Friedenspräsenzstärke nicht erreicht wurde, aus den wehrfähigen jungen
Leuten von zwanzig Jahren, den sogenannten Milizen, durch das Los ergänzten.
Hierbei war Stellvertretung gestattet, so daß nur die untersten Schichten der
belgischen Bevölkerung Dienst mit der Waffe leisteten. Tatsächlich wurden aber
die Milizen nicht im vollen Umfange eingezogen, so daß die einzelnen Truppen¬
teile im Frieden oft so schwach waren, daß ihre Ausbildung sehr erschwert
wurde. Die Einverleibung von Bosnien und der Herzegowina, der Hinweis der
französischen Presse, daß es Belgien, wenn es bei seinen mangelhaften Rüstungen
beharre, ebenso ergehen könnte, und die wachsende Beunruhigung des Volkes
schufen 1909 ein neues Wehrgesetz, das endgültig die allgemeine Wehr-
*


25
Frankreich und die belgische Heeresreform <I^Z

Während Döjardin also 1878 der Ansicht ist. daß nicht Deutschland,
sondern Frankreich den Anstoß zur Verletzung der belgischen Neutralität gibt,
hat er sich mehr als drei Jahrzehnte später, wie viele seiner Landsleute, zur
umgekehrten Anschauung bekehrt, da inzwischen die französische Presse mit einer
Flut von Artikeln die öffentliche Meinung in Belgien bearbeitet hatte. Als
weiteren Beweisgrund für diese Hypothese führt Jules Poirier in seinem Buche
»l^a VelZiczue äevsnt une ^ueiro kranLO - allemanäe" eine Äußerung des
Generals von Bernhardt an, der in einem seiner Werke auseinandersetzt, daß
die deutsche Armee von Norden her die französische umfassen müsse. Es ist
dieses ein Beweis, daß seitens unserer Militärschriftsteller in dieser Frage nicht
genug Zurückhaltung geübt werden kann, da das durch die französischen Ver¬
dächtigungen argwöhnisch gemachte belgische Volk jede derartige private Äußerung
als von offizieller Stelle kommend ansieht.

Nachdem man nun von französischer Seite nachgewiesen zu haben glaubte,
daß Deutschland der böse Nachbar sei, gab man Belgien Ratschläge, wie es sich
gegen die Gefahr einer deutschen Invasion am besten sichern könne. In dieser
Hinsicht sei besonders das vorerwähnte Buch des Generals Langlois genannt,
der darin 1906 hervorhob, daß weder Namur noch Lüttich genügend verteidigt
seien und Antwerpen, das 100 Kilometer von der Maaß entfernt läge, auf die
deutscheu Operationen keinen Einfluß haben könne. Sowohl die Festungs¬
besatzungen der beiden erstgenannten Festungen, als auch die Feldarmee selbst
seien zu schwach, und könne hier nur eine Verstärkung des Heeres helfen.
Dagegen täte Belgien gut, nicht so viele Aufwendungen für die außerhalb des
Operationsbereiches der Armee liegende Festung Antwerpen zu machen. Langlois,
wie viele seiner Landsleute, sieht ferner das Heil Belgiens in einem Anschluß
an Holland, dessen Armee im Kriegsfalle ein nicht zu unterschätzender Kräfte¬
zuwachs für Belgien, und wie die Franzosen weiter hoffen, auch für ihre Armee
bedeuten würde. Wie wenig Neigung auf holländischer Seite für eine solche
Verbrüderung besteht, ist ja bekannt und bedarf keiner weiteren Ausführung.

In Belgien dagegen sind die französischen Ermahnungen auf fruchtbaren
Boden gefallen. Bis zum Jahre 1909 kannte Belgien nicht die allgemeine
Wehrpflicht. Die Rekrutierung der Armee geschah durch Freiwillige, die sich,
falls die Friedenspräsenzstärke nicht erreicht wurde, aus den wehrfähigen jungen
Leuten von zwanzig Jahren, den sogenannten Milizen, durch das Los ergänzten.
Hierbei war Stellvertretung gestattet, so daß nur die untersten Schichten der
belgischen Bevölkerung Dienst mit der Waffe leisteten. Tatsächlich wurden aber
die Milizen nicht im vollen Umfange eingezogen, so daß die einzelnen Truppen¬
teile im Frieden oft so schwach waren, daß ihre Ausbildung sehr erschwert
wurde. Die Einverleibung von Bosnien und der Herzegowina, der Hinweis der
französischen Presse, daß es Belgien, wenn es bei seinen mangelhaften Rüstungen
beharre, ebenso ergehen könnte, und die wachsende Beunruhigung des Volkes
schufen 1909 ein neues Wehrgesetz, das endgültig die allgemeine Wehr-
*


25
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0399" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327865"/>
          <fw type="header" place="top"> Frankreich und die belgische Heeresreform &lt;I^Z</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1861"> Während Döjardin also 1878 der Ansicht ist. daß nicht Deutschland,<lb/>
sondern Frankreich den Anstoß zur Verletzung der belgischen Neutralität gibt,<lb/>
hat er sich mehr als drei Jahrzehnte später, wie viele seiner Landsleute, zur<lb/>
umgekehrten Anschauung bekehrt, da inzwischen die französische Presse mit einer<lb/>
Flut von Artikeln die öffentliche Meinung in Belgien bearbeitet hatte. Als<lb/>
weiteren Beweisgrund für diese Hypothese führt Jules Poirier in seinem Buche<lb/>
»l^a VelZiczue äevsnt une ^ueiro kranLO - allemanäe" eine Äußerung des<lb/>
Generals von Bernhardt an, der in einem seiner Werke auseinandersetzt, daß<lb/>
die deutsche Armee von Norden her die französische umfassen müsse. Es ist<lb/>
dieses ein Beweis, daß seitens unserer Militärschriftsteller in dieser Frage nicht<lb/>
genug Zurückhaltung geübt werden kann, da das durch die französischen Ver¬<lb/>
dächtigungen argwöhnisch gemachte belgische Volk jede derartige private Äußerung<lb/>
als von offizieller Stelle kommend ansieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1862"> Nachdem man nun von französischer Seite nachgewiesen zu haben glaubte,<lb/>
daß Deutschland der böse Nachbar sei, gab man Belgien Ratschläge, wie es sich<lb/>
gegen die Gefahr einer deutschen Invasion am besten sichern könne. In dieser<lb/>
Hinsicht sei besonders das vorerwähnte Buch des Generals Langlois genannt,<lb/>
der darin 1906 hervorhob, daß weder Namur noch Lüttich genügend verteidigt<lb/>
seien und Antwerpen, das 100 Kilometer von der Maaß entfernt läge, auf die<lb/>
deutscheu Operationen keinen Einfluß haben könne. Sowohl die Festungs¬<lb/>
besatzungen der beiden erstgenannten Festungen, als auch die Feldarmee selbst<lb/>
seien zu schwach, und könne hier nur eine Verstärkung des Heeres helfen.<lb/>
Dagegen täte Belgien gut, nicht so viele Aufwendungen für die außerhalb des<lb/>
Operationsbereiches der Armee liegende Festung Antwerpen zu machen. Langlois,<lb/>
wie viele seiner Landsleute, sieht ferner das Heil Belgiens in einem Anschluß<lb/>
an Holland, dessen Armee im Kriegsfalle ein nicht zu unterschätzender Kräfte¬<lb/>
zuwachs für Belgien, und wie die Franzosen weiter hoffen, auch für ihre Armee<lb/>
bedeuten würde. Wie wenig Neigung auf holländischer Seite für eine solche<lb/>
Verbrüderung besteht, ist ja bekannt und bedarf keiner weiteren Ausführung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1863" next="#ID_1864"> In Belgien dagegen sind die französischen Ermahnungen auf fruchtbaren<lb/>
Boden gefallen. Bis zum Jahre 1909 kannte Belgien nicht die allgemeine<lb/>
Wehrpflicht. Die Rekrutierung der Armee geschah durch Freiwillige, die sich,<lb/>
falls die Friedenspräsenzstärke nicht erreicht wurde, aus den wehrfähigen jungen<lb/>
Leuten von zwanzig Jahren, den sogenannten Milizen, durch das Los ergänzten.<lb/>
Hierbei war Stellvertretung gestattet, so daß nur die untersten Schichten der<lb/>
belgischen Bevölkerung Dienst mit der Waffe leisteten. Tatsächlich wurden aber<lb/>
die Milizen nicht im vollen Umfange eingezogen, so daß die einzelnen Truppen¬<lb/>
teile im Frieden oft so schwach waren, daß ihre Ausbildung sehr erschwert<lb/>
wurde. Die Einverleibung von Bosnien und der Herzegowina, der Hinweis der<lb/>
französischen Presse, daß es Belgien, wenn es bei seinen mangelhaften Rüstungen<lb/>
beharre, ebenso ergehen könnte, und die wachsende Beunruhigung des Volkes<lb/>
schufen 1909 ein neues Wehrgesetz, das endgültig die allgemeine Wehr-<lb/>
*</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 25</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0399] Frankreich und die belgische Heeresreform <I^Z Während Döjardin also 1878 der Ansicht ist. daß nicht Deutschland, sondern Frankreich den Anstoß zur Verletzung der belgischen Neutralität gibt, hat er sich mehr als drei Jahrzehnte später, wie viele seiner Landsleute, zur umgekehrten Anschauung bekehrt, da inzwischen die französische Presse mit einer Flut von Artikeln die öffentliche Meinung in Belgien bearbeitet hatte. Als weiteren Beweisgrund für diese Hypothese führt Jules Poirier in seinem Buche »l^a VelZiczue äevsnt une ^ueiro kranLO - allemanäe" eine Äußerung des Generals von Bernhardt an, der in einem seiner Werke auseinandersetzt, daß die deutsche Armee von Norden her die französische umfassen müsse. Es ist dieses ein Beweis, daß seitens unserer Militärschriftsteller in dieser Frage nicht genug Zurückhaltung geübt werden kann, da das durch die französischen Ver¬ dächtigungen argwöhnisch gemachte belgische Volk jede derartige private Äußerung als von offizieller Stelle kommend ansieht. Nachdem man nun von französischer Seite nachgewiesen zu haben glaubte, daß Deutschland der böse Nachbar sei, gab man Belgien Ratschläge, wie es sich gegen die Gefahr einer deutschen Invasion am besten sichern könne. In dieser Hinsicht sei besonders das vorerwähnte Buch des Generals Langlois genannt, der darin 1906 hervorhob, daß weder Namur noch Lüttich genügend verteidigt seien und Antwerpen, das 100 Kilometer von der Maaß entfernt läge, auf die deutscheu Operationen keinen Einfluß haben könne. Sowohl die Festungs¬ besatzungen der beiden erstgenannten Festungen, als auch die Feldarmee selbst seien zu schwach, und könne hier nur eine Verstärkung des Heeres helfen. Dagegen täte Belgien gut, nicht so viele Aufwendungen für die außerhalb des Operationsbereiches der Armee liegende Festung Antwerpen zu machen. Langlois, wie viele seiner Landsleute, sieht ferner das Heil Belgiens in einem Anschluß an Holland, dessen Armee im Kriegsfalle ein nicht zu unterschätzender Kräfte¬ zuwachs für Belgien, und wie die Franzosen weiter hoffen, auch für ihre Armee bedeuten würde. Wie wenig Neigung auf holländischer Seite für eine solche Verbrüderung besteht, ist ja bekannt und bedarf keiner weiteren Ausführung. In Belgien dagegen sind die französischen Ermahnungen auf fruchtbaren Boden gefallen. Bis zum Jahre 1909 kannte Belgien nicht die allgemeine Wehrpflicht. Die Rekrutierung der Armee geschah durch Freiwillige, die sich, falls die Friedenspräsenzstärke nicht erreicht wurde, aus den wehrfähigen jungen Leuten von zwanzig Jahren, den sogenannten Milizen, durch das Los ergänzten. Hierbei war Stellvertretung gestattet, so daß nur die untersten Schichten der belgischen Bevölkerung Dienst mit der Waffe leisteten. Tatsächlich wurden aber die Milizen nicht im vollen Umfange eingezogen, so daß die einzelnen Truppen¬ teile im Frieden oft so schwach waren, daß ihre Ausbildung sehr erschwert wurde. Die Einverleibung von Bosnien und der Herzegowina, der Hinweis der französischen Presse, daß es Belgien, wenn es bei seinen mangelhaften Rüstungen beharre, ebenso ergehen könnte, und die wachsende Beunruhigung des Volkes schufen 1909 ein neues Wehrgesetz, das endgültig die allgemeine Wehr- * 25

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/399
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/399>, abgerufen am 01.01.2025.