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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Der Aampf der christlichen Gewerkschaften

Die christlichen Gewerkschaften sind seit längerer Zeit in den schwersten Kampf
ihres Daseins verwickelt worden! sie müssen ihn nach verschiedenen Fronten führen
und hierbei eine so überaus geschickte Diplomatie und Taktik, dabei aber auch so
viel Tatfrische und Rücksichtslosigkeit geltend machen, daß, wenn sie mit dem Leben
davonkommen, ihrer Führung nur das höchste Lob zugesprochen werden kann.
Sie stehen mit ihren dreieinhalb Hunderttausend Mitgliedern der gewaltigen Macht
der sozialdemokratischen freien Gewerkschaften gegenüber, die über zweieinhalb
Millionen Mitglieder stark sind und mit ihrem Terrorismus alles in ihren Bann
zu ziehen suchen. Es besteht außerdem für sie Gefahr, daß sie an die "gelben",
wirtschaftsfriedlichen Organisationen einen Teil ihrer Leute verlieren, weil die wirt¬
schaftsfriedlichen realpolitischm Grundsätze und Erfolge den Arbeitern mehr ein¬
leuchten, als der ununterbrochene Klassenkampf und die sozialistischen Zukunfts-
Phantasien. Mögen sich anch die Christlichen in den letzten Jahren mehr und mehr
von der radikalen Methode, in der sie doch mit den Sozialdemokraten nicht
konkurrieren können, abgewandt haben, so ist der Zuzug zu den Gelben immerhin
stark genug, daß er auch ihnen Schaden zufügt, und das würde sich verstärken,
je mehr sich die Christlichen wieder der Sozialdemokratie nähern würden. Die
Zwickmühle entsteht dadurch, daß, wenn sie nach der wirtschaftsfriedlichen Seite
Konzessionen machen, ihr linker Flügel zur Sozialdemokratie übergeht, und wenn
sie sich den Roten nähern, ihr rechter Flügel zu den Wirtschaftsfriedlichen abrückt.
Das ist der eine Konflikt.

Der andere ist durch die kirchlich-konfessionellen Verhältnisse und durch die
Beziehungen der Christlichen zur Zentrumspartei hervorgerufen. Auch hier ist eine
Zwickmühle entstanden. Die Christlichen bestehen hauptsächlich aus katholischen
Arbeitern, nur etwas mehr als ein Fünftel ist evangelisch. Aber auf diese Minder-
heit muß Rücksicht genommen werden, weil sonst der interkonfessionelle Verband
der christlichen Gewerkschaften gesprengt werden würde und seine Teile an die rein
konfessionellen Arbeitervereine, an die evangelischen, die jetzt schon 175 000 Mit¬
glieder umfassen, oder an die katholischen mit ihren 600 000 Mitgliedern ab¬
geben müßten. Man kann an diesen Zahlen nicht achtlos vorübergehen; sie ver-




Reichsspiegel
Der Aampf der christlichen Gewerkschaften

Die christlichen Gewerkschaften sind seit längerer Zeit in den schwersten Kampf
ihres Daseins verwickelt worden! sie müssen ihn nach verschiedenen Fronten führen
und hierbei eine so überaus geschickte Diplomatie und Taktik, dabei aber auch so
viel Tatfrische und Rücksichtslosigkeit geltend machen, daß, wenn sie mit dem Leben
davonkommen, ihrer Führung nur das höchste Lob zugesprochen werden kann.
Sie stehen mit ihren dreieinhalb Hunderttausend Mitgliedern der gewaltigen Macht
der sozialdemokratischen freien Gewerkschaften gegenüber, die über zweieinhalb
Millionen Mitglieder stark sind und mit ihrem Terrorismus alles in ihren Bann
zu ziehen suchen. Es besteht außerdem für sie Gefahr, daß sie an die „gelben",
wirtschaftsfriedlichen Organisationen einen Teil ihrer Leute verlieren, weil die wirt¬
schaftsfriedlichen realpolitischm Grundsätze und Erfolge den Arbeitern mehr ein¬
leuchten, als der ununterbrochene Klassenkampf und die sozialistischen Zukunfts-
Phantasien. Mögen sich anch die Christlichen in den letzten Jahren mehr und mehr
von der radikalen Methode, in der sie doch mit den Sozialdemokraten nicht
konkurrieren können, abgewandt haben, so ist der Zuzug zu den Gelben immerhin
stark genug, daß er auch ihnen Schaden zufügt, und das würde sich verstärken,
je mehr sich die Christlichen wieder der Sozialdemokratie nähern würden. Die
Zwickmühle entsteht dadurch, daß, wenn sie nach der wirtschaftsfriedlichen Seite
Konzessionen machen, ihr linker Flügel zur Sozialdemokratie übergeht, und wenn
sie sich den Roten nähern, ihr rechter Flügel zu den Wirtschaftsfriedlichen abrückt.
Das ist der eine Konflikt.

Der andere ist durch die kirchlich-konfessionellen Verhältnisse und durch die
Beziehungen der Christlichen zur Zentrumspartei hervorgerufen. Auch hier ist eine
Zwickmühle entstanden. Die Christlichen bestehen hauptsächlich aus katholischen
Arbeitern, nur etwas mehr als ein Fünftel ist evangelisch. Aber auf diese Minder-
heit muß Rücksicht genommen werden, weil sonst der interkonfessionelle Verband
der christlichen Gewerkschaften gesprengt werden würde und seine Teile an die rein
konfessionellen Arbeitervereine, an die evangelischen, die jetzt schon 175 000 Mit¬
glieder umfassen, oder an die katholischen mit ihren 600 000 Mitgliedern ab¬
geben müßten. Man kann an diesen Zahlen nicht achtlos vorübergehen; sie ver-


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[0389] [Abbildung] Reichsspiegel Der Aampf der christlichen Gewerkschaften Die christlichen Gewerkschaften sind seit längerer Zeit in den schwersten Kampf ihres Daseins verwickelt worden! sie müssen ihn nach verschiedenen Fronten führen und hierbei eine so überaus geschickte Diplomatie und Taktik, dabei aber auch so viel Tatfrische und Rücksichtslosigkeit geltend machen, daß, wenn sie mit dem Leben davonkommen, ihrer Führung nur das höchste Lob zugesprochen werden kann. Sie stehen mit ihren dreieinhalb Hunderttausend Mitgliedern der gewaltigen Macht der sozialdemokratischen freien Gewerkschaften gegenüber, die über zweieinhalb Millionen Mitglieder stark sind und mit ihrem Terrorismus alles in ihren Bann zu ziehen suchen. Es besteht außerdem für sie Gefahr, daß sie an die „gelben", wirtschaftsfriedlichen Organisationen einen Teil ihrer Leute verlieren, weil die wirt¬ schaftsfriedlichen realpolitischm Grundsätze und Erfolge den Arbeitern mehr ein¬ leuchten, als der ununterbrochene Klassenkampf und die sozialistischen Zukunfts- Phantasien. Mögen sich anch die Christlichen in den letzten Jahren mehr und mehr von der radikalen Methode, in der sie doch mit den Sozialdemokraten nicht konkurrieren können, abgewandt haben, so ist der Zuzug zu den Gelben immerhin stark genug, daß er auch ihnen Schaden zufügt, und das würde sich verstärken, je mehr sich die Christlichen wieder der Sozialdemokratie nähern würden. Die Zwickmühle entsteht dadurch, daß, wenn sie nach der wirtschaftsfriedlichen Seite Konzessionen machen, ihr linker Flügel zur Sozialdemokratie übergeht, und wenn sie sich den Roten nähern, ihr rechter Flügel zu den Wirtschaftsfriedlichen abrückt. Das ist der eine Konflikt. Der andere ist durch die kirchlich-konfessionellen Verhältnisse und durch die Beziehungen der Christlichen zur Zentrumspartei hervorgerufen. Auch hier ist eine Zwickmühle entstanden. Die Christlichen bestehen hauptsächlich aus katholischen Arbeitern, nur etwas mehr als ein Fünftel ist evangelisch. Aber auf diese Minder- heit muß Rücksicht genommen werden, weil sonst der interkonfessionelle Verband der christlichen Gewerkschaften gesprengt werden würde und seine Teile an die rein konfessionellen Arbeitervereine, an die evangelischen, die jetzt schon 175 000 Mit¬ glieder umfassen, oder an die katholischen mit ihren 600 000 Mitgliedern ab¬ geben müßten. Man kann an diesen Zahlen nicht achtlos vorübergehen; sie ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/389>, abgerufen am 04.01.2025.