Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Neue Kunstbncher in strenger Beobachtung die Aktivität der Formen und Farben durch das bewegte Von den neun im Bande vertretenen Künstlern scheinen mir zwei die Ge¬ Erdfloh ist trotz all seiner Kühnheit klar erkenntlich kein "Revoluzzer", Bild XI: "Komposition", zeigt uns Erdfloh als überlegenen Körner der Wenn Erdfloh, obwohl nicht unmotiviert, jedoch ohne sichtbare Notwendig¬ Neue Kunstbncher in strenger Beobachtung die Aktivität der Formen und Farben durch das bewegte Von den neun im Bande vertretenen Künstlern scheinen mir zwei die Ge¬ Erdfloh ist trotz all seiner Kühnheit klar erkenntlich kein „Revoluzzer", Bild XI: „Komposition", zeigt uns Erdfloh als überlegenen Körner der Wenn Erdfloh, obwohl nicht unmotiviert, jedoch ohne sichtbare Notwendig¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327853"/> <fw type="header" place="top"> Neue Kunstbncher</fw><lb/> <p xml:id="ID_1820" prev="#ID_1819"> in strenger Beobachtung die Aktivität der Formen und Farben durch das bewegte<lb/> Zeitwort statt durch das ruhende Adjektiv auszudrücken bemüht ist, dann betritt<lb/> er den Weg, der zu einer ebenso notwendigen, wie belebenden Bereicherung<lb/> unserer kunstkritischen Ausdrucksweise führt. Was Formen und Färbern alles<lb/> tun können, wie ihre adjektivische Wirkung durch Stilanschaulichkeit in verbale<lb/> Handlung umgesetzt werden kann, das gilt es zu erspähen und aus den<lb/> Tiefen des verbalen Sprachschatzes heraufzuholen. Fischer hat sich um dieses<lb/> Ziel redlich und mit Erfolg bemüht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1821"> Von den neun im Bande vertretenen Künstlern scheinen mir zwei die Ge¬<lb/> meinschaft zu überragen: Erdfloh vor allem und dann von Bechtejeff.</p><lb/> <p xml:id="ID_1822"> Erdfloh ist trotz all seiner Kühnheit klar erkenntlich kein „Revoluzzer",<lb/> sondern ein „Evoluzzer" — um dem Münchener Dialekt per analoZiam auch<lb/> das andere Fachwort nachzubilden. Das nur allzu dringliche Geschrei der<lb/> anderen und ihres Wortführers: „Neu, neu, hier zum erstenmal" ist ihm fremd<lb/> und unbekannt. Seine inhaltsschwere Behandlung der Farbfläche, der monu¬<lb/> mentale Aufbau der Masse zeigt, daß er von Cezanne und Hodler alles gelernt<lb/> hat, was man nur lernen kann und zugleich in einer Weise, wie nur der Eigen¬<lb/> begabte lernen kann. Das Bild X „Der violette Schleier" steht in diesem<lb/> Band wie eine reife, sonnendurchleuchtete Traube, wenn die anderen Stöcke<lb/> noch ini Maienschmerz weinen oder frierend ihre graubehaarten Blättchen auf¬<lb/> zurollen beginnen. Aus der genialen Verwendung des Spitzbogenmotivs an<lb/> den beiden Ellenbogen innen und außen, an der Kopfform oben und unten,<lb/> am Busen links, am Hals geht einem die wahre Bedeutung des Kubismus<lb/> auf. In der beängstigenden Flut wechselnder Erscheinungen geht von der<lb/> ewigen geometrischen Form eine neue Beruhigung aus; der Ismus ist hier ein-<lb/> gegeistet, dem höheren Zweck zu Ehren verbraucht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1823"> Bild XI: „Komposition", zeigt uns Erdfloh als überlegenen Körner der<lb/> Raumgestaltung. Er versteht es, die starrende Gewalt Hodlerscher Komposition<lb/> mit der musikalischen Schwunghaftigkeit und Zartheit der Mareesschen zu ver¬<lb/> einigen. Greifbar und traumhaft, streng und doch voller süßesten Anmut stehen<lb/> und sitzen auf einem recht kleinen Raum sieben Frauen, und großzügig findet<lb/> noch die Landschaft Platz, sich ins Unendliche zu breiten. Durch das Aufund-<lb/> nieder gebrochener Linienführung der Sitzenden, wie durch den sich stufenweis<lb/> entfernenden Horizont ist das Senkrechte der stehenden Gestalten doppelstimmig,<lb/> kunstvoll instrumentiert. Das Licht aber, im übermütigen Bewußtsein der<lb/> Sicherheit dieser Zügel, spielt seine unübersehbare Skala von tiefster Nacht bis<lb/> in die funkelnde Helle und schlägt die Form der Dinge mit ihrem zarten Wesen<lb/> aus dem amorphen Chaos hervor wie aus dauerhaftesten Stein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1824" next="#ID_1825"> Wenn Erdfloh, obwohl nicht unmotiviert, jedoch ohne sichtbare Notwendig¬<lb/> keit in dieser Gruppe steht, so ist von Bechtejeff ihr eigentlicher und, wie mich<lb/> dünkt, begabtester Vertreter. Dennoch ist der Zusammenhang zwischen den beiden<lb/> nicht zu leugnen. Erdfloh geht entschieden vom Angeschauten aus; das Be°</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0387]
Neue Kunstbncher
in strenger Beobachtung die Aktivität der Formen und Farben durch das bewegte
Zeitwort statt durch das ruhende Adjektiv auszudrücken bemüht ist, dann betritt
er den Weg, der zu einer ebenso notwendigen, wie belebenden Bereicherung
unserer kunstkritischen Ausdrucksweise führt. Was Formen und Färbern alles
tun können, wie ihre adjektivische Wirkung durch Stilanschaulichkeit in verbale
Handlung umgesetzt werden kann, das gilt es zu erspähen und aus den
Tiefen des verbalen Sprachschatzes heraufzuholen. Fischer hat sich um dieses
Ziel redlich und mit Erfolg bemüht.
Von den neun im Bande vertretenen Künstlern scheinen mir zwei die Ge¬
meinschaft zu überragen: Erdfloh vor allem und dann von Bechtejeff.
Erdfloh ist trotz all seiner Kühnheit klar erkenntlich kein „Revoluzzer",
sondern ein „Evoluzzer" — um dem Münchener Dialekt per analoZiam auch
das andere Fachwort nachzubilden. Das nur allzu dringliche Geschrei der
anderen und ihres Wortführers: „Neu, neu, hier zum erstenmal" ist ihm fremd
und unbekannt. Seine inhaltsschwere Behandlung der Farbfläche, der monu¬
mentale Aufbau der Masse zeigt, daß er von Cezanne und Hodler alles gelernt
hat, was man nur lernen kann und zugleich in einer Weise, wie nur der Eigen¬
begabte lernen kann. Das Bild X „Der violette Schleier" steht in diesem
Band wie eine reife, sonnendurchleuchtete Traube, wenn die anderen Stöcke
noch ini Maienschmerz weinen oder frierend ihre graubehaarten Blättchen auf¬
zurollen beginnen. Aus der genialen Verwendung des Spitzbogenmotivs an
den beiden Ellenbogen innen und außen, an der Kopfform oben und unten,
am Busen links, am Hals geht einem die wahre Bedeutung des Kubismus
auf. In der beängstigenden Flut wechselnder Erscheinungen geht von der
ewigen geometrischen Form eine neue Beruhigung aus; der Ismus ist hier ein-
gegeistet, dem höheren Zweck zu Ehren verbraucht.
Bild XI: „Komposition", zeigt uns Erdfloh als überlegenen Körner der
Raumgestaltung. Er versteht es, die starrende Gewalt Hodlerscher Komposition
mit der musikalischen Schwunghaftigkeit und Zartheit der Mareesschen zu ver¬
einigen. Greifbar und traumhaft, streng und doch voller süßesten Anmut stehen
und sitzen auf einem recht kleinen Raum sieben Frauen, und großzügig findet
noch die Landschaft Platz, sich ins Unendliche zu breiten. Durch das Aufund-
nieder gebrochener Linienführung der Sitzenden, wie durch den sich stufenweis
entfernenden Horizont ist das Senkrechte der stehenden Gestalten doppelstimmig,
kunstvoll instrumentiert. Das Licht aber, im übermütigen Bewußtsein der
Sicherheit dieser Zügel, spielt seine unübersehbare Skala von tiefster Nacht bis
in die funkelnde Helle und schlägt die Form der Dinge mit ihrem zarten Wesen
aus dem amorphen Chaos hervor wie aus dauerhaftesten Stein.
Wenn Erdfloh, obwohl nicht unmotiviert, jedoch ohne sichtbare Notwendig¬
keit in dieser Gruppe steht, so ist von Bechtejeff ihr eigentlicher und, wie mich
dünkt, begabtester Vertreter. Dennoch ist der Zusammenhang zwischen den beiden
nicht zu leugnen. Erdfloh geht entschieden vom Angeschauten aus; das Be°
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