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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Gluck

beschämt; dann aber wird uns auch die innere Beziehung Glucks zu Goethe
klarer, denn in Goethes "Iphigenie" ist mehr Racine enthalten, als die meisten
unserer Literarhistoriker anerkennen wollen.

Mit dieser Eigenheit unseres Meisters hängt es aber auch zusammen, daß
ein Teil seiner Partituren ganz besonders zum Wiederaufleben bestimmt ist,
vor allem natürlich die in seinen großen Opern in reichem Maße enthaltene
Ballettmusik"). Es scheint gerade zu Glucks Zeit die Ballettkunst zu einer
bedeutenden und wertvollen Kultur gelangt zu sein. Jedenfalls tritt bei
keinem dramatischen Komponisten die Urverwandtschaft von Tanz und Tragödie
so augenscheinlich hervor, wie bei Gluck. Der Reigen seliger Geister im
"Orpheus" ist nicht nur eine Komposition von betörender Schönheit, es gehört
auch seiner szenischen Wirkung nach zu dem Schönsten, was unsere Opernbühne
überhaupt zu bieten vermag. Und der Orpheusreigen ist bei Gluck nur eines
von vielen ähnlichen Stücken. Ja gerade an den schönsten Stellen der Gluckschen
Opern nimmt auch die nicht mit "Ballett" bezeichnete Musik oft einen durchaus
tanzartigen Charakter an; so sind in der Elvsiumszene die Arien und Chöre
ganz und gar von dem zarten Rhythmus des Reigens getragen, und genau
so ist es an den entsprechenden Stellen im dritten und vierten Akt der "Armida".
Gluck vermag also eines unserer allermodernsten Kunstbedürsnisse zu stillen,
die Wiedervermählung des Tanzes mit der hohen Musik und dem dramatischen
Ausdruck.

Von hier ist auch die letzte bedeutsame Bühnenbelebung Glucks ausgegangen,
die Neuinszenierung des "Orpheus" in der Frankfurter Oper""). Man hat
dabei außerdem auf die älteste unserer Repertoiropern das modernste Jn-
szenierungsprinzip angewendet, das des Münchener Künstlertheaters, mit all
seiner raffinierter Einfachheit, plastischen Wirkung und dem Zauber der Be¬
leuchtung. Die Wirkung war eine derartig verblüffende, daß selbst der abge-
härteste Gluckoerehrer die Fassung verlieren mußte.

Es ist also höchste Zeit, wenn wir uns nicht vor uns selbst und dem
Auslande schämen sollen, zu verhindern, daß Gluck in seinem Vaterlande ein
Toter ist. Wenn man ihm auch nicht die große Masse wiedergewinnen kann,
sollte man doch erreichen, daß er in unserem Musikleben wieder die Stellung
einnimmt, die ihm und seinem Werke gebührt.






Dürfte nur sich nicht auch einmal daran erinnern, daß Gluck ein "Don Juan"°Ba"ete
geschrieben hat?
*") Der ähnliche Dalcrozesche Versuch ist dem Verfasser unbekannt geblieben.
Gluck

beschämt; dann aber wird uns auch die innere Beziehung Glucks zu Goethe
klarer, denn in Goethes „Iphigenie" ist mehr Racine enthalten, als die meisten
unserer Literarhistoriker anerkennen wollen.

Mit dieser Eigenheit unseres Meisters hängt es aber auch zusammen, daß
ein Teil seiner Partituren ganz besonders zum Wiederaufleben bestimmt ist,
vor allem natürlich die in seinen großen Opern in reichem Maße enthaltene
Ballettmusik"). Es scheint gerade zu Glucks Zeit die Ballettkunst zu einer
bedeutenden und wertvollen Kultur gelangt zu sein. Jedenfalls tritt bei
keinem dramatischen Komponisten die Urverwandtschaft von Tanz und Tragödie
so augenscheinlich hervor, wie bei Gluck. Der Reigen seliger Geister im
„Orpheus" ist nicht nur eine Komposition von betörender Schönheit, es gehört
auch seiner szenischen Wirkung nach zu dem Schönsten, was unsere Opernbühne
überhaupt zu bieten vermag. Und der Orpheusreigen ist bei Gluck nur eines
von vielen ähnlichen Stücken. Ja gerade an den schönsten Stellen der Gluckschen
Opern nimmt auch die nicht mit „Ballett" bezeichnete Musik oft einen durchaus
tanzartigen Charakter an; so sind in der Elvsiumszene die Arien und Chöre
ganz und gar von dem zarten Rhythmus des Reigens getragen, und genau
so ist es an den entsprechenden Stellen im dritten und vierten Akt der „Armida".
Gluck vermag also eines unserer allermodernsten Kunstbedürsnisse zu stillen,
die Wiedervermählung des Tanzes mit der hohen Musik und dem dramatischen
Ausdruck.

Von hier ist auch die letzte bedeutsame Bühnenbelebung Glucks ausgegangen,
die Neuinszenierung des „Orpheus" in der Frankfurter Oper""). Man hat
dabei außerdem auf die älteste unserer Repertoiropern das modernste Jn-
szenierungsprinzip angewendet, das des Münchener Künstlertheaters, mit all
seiner raffinierter Einfachheit, plastischen Wirkung und dem Zauber der Be¬
leuchtung. Die Wirkung war eine derartig verblüffende, daß selbst der abge-
härteste Gluckoerehrer die Fassung verlieren mußte.

Es ist also höchste Zeit, wenn wir uns nicht vor uns selbst und dem
Auslande schämen sollen, zu verhindern, daß Gluck in seinem Vaterlande ein
Toter ist. Wenn man ihm auch nicht die große Masse wiedergewinnen kann,
sollte man doch erreichen, daß er in unserem Musikleben wieder die Stellung
einnimmt, die ihm und seinem Werke gebührt.






Dürfte nur sich nicht auch einmal daran erinnern, daß Gluck ein „Don Juan"°Ba»ete
geschrieben hat?
*") Der ähnliche Dalcrozesche Versuch ist dem Verfasser unbekannt geblieben.
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[0371] Gluck beschämt; dann aber wird uns auch die innere Beziehung Glucks zu Goethe klarer, denn in Goethes „Iphigenie" ist mehr Racine enthalten, als die meisten unserer Literarhistoriker anerkennen wollen. Mit dieser Eigenheit unseres Meisters hängt es aber auch zusammen, daß ein Teil seiner Partituren ganz besonders zum Wiederaufleben bestimmt ist, vor allem natürlich die in seinen großen Opern in reichem Maße enthaltene Ballettmusik"). Es scheint gerade zu Glucks Zeit die Ballettkunst zu einer bedeutenden und wertvollen Kultur gelangt zu sein. Jedenfalls tritt bei keinem dramatischen Komponisten die Urverwandtschaft von Tanz und Tragödie so augenscheinlich hervor, wie bei Gluck. Der Reigen seliger Geister im „Orpheus" ist nicht nur eine Komposition von betörender Schönheit, es gehört auch seiner szenischen Wirkung nach zu dem Schönsten, was unsere Opernbühne überhaupt zu bieten vermag. Und der Orpheusreigen ist bei Gluck nur eines von vielen ähnlichen Stücken. Ja gerade an den schönsten Stellen der Gluckschen Opern nimmt auch die nicht mit „Ballett" bezeichnete Musik oft einen durchaus tanzartigen Charakter an; so sind in der Elvsiumszene die Arien und Chöre ganz und gar von dem zarten Rhythmus des Reigens getragen, und genau so ist es an den entsprechenden Stellen im dritten und vierten Akt der „Armida". Gluck vermag also eines unserer allermodernsten Kunstbedürsnisse zu stillen, die Wiedervermählung des Tanzes mit der hohen Musik und dem dramatischen Ausdruck. Von hier ist auch die letzte bedeutsame Bühnenbelebung Glucks ausgegangen, die Neuinszenierung des „Orpheus" in der Frankfurter Oper""). Man hat dabei außerdem auf die älteste unserer Repertoiropern das modernste Jn- szenierungsprinzip angewendet, das des Münchener Künstlertheaters, mit all seiner raffinierter Einfachheit, plastischen Wirkung und dem Zauber der Be¬ leuchtung. Die Wirkung war eine derartig verblüffende, daß selbst der abge- härteste Gluckoerehrer die Fassung verlieren mußte. Es ist also höchste Zeit, wenn wir uns nicht vor uns selbst und dem Auslande schämen sollen, zu verhindern, daß Gluck in seinem Vaterlande ein Toter ist. Wenn man ihm auch nicht die große Masse wiedergewinnen kann, sollte man doch erreichen, daß er in unserem Musikleben wieder die Stellung einnimmt, die ihm und seinem Werke gebührt. Dürfte nur sich nicht auch einmal daran erinnern, daß Gluck ein „Don Juan"°Ba»ete geschrieben hat? *") Der ähnliche Dalcrozesche Versuch ist dem Verfasser unbekannt geblieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/371>, abgerufen am 04.01.2025.