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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Gluck

Geist menschlich durchwärmter Klassizität, der eine so merkwürdige innerliche
Beziehung herstellt zwischen Goethes "Iphigenie auf Tauris" und den Gluckschen
Jphigenienopern, die gänzlich unabhängig voneinander entstanden sind. Ge¬
rade diese auffallende Geistesverwandtschaft, die zwischen unserem Meister und
jenem teuren Werke besteht, müßte für uns allein ein triftiger Grund sein, uns
nicht aus Bequemlichkeit eines unserer wertvollsten Nationalgüter zu berauben.

Die Gluckschen Opern haben aber nicht nur das Verdienst, der Ausdruck
einer einzelnen Persönlichkeit, sondern der einer ganzen Zeitkultur zu sein,
und wie alle wahrhaft großen Schöpfungen haben sie das Beste und Wert¬
vollste ihrer eigenen Zeit für die Ewigkeit gerettet. Dies ist ein um so ge¬
wichtigeres Verdienst, als gerade der Geist jener Epoche dem unseren nicht
besonders nahe zu stehen scheint, ja, wir haben uns daran gewöhnt, auf den
französischen Klassizismus -- denn um ihn handelt es sich hier -- mit einer
reichlich ungerechten Verachtung herabzusehen. Nur auf unseren Schulen führen
Racine und Corneille ein gequältes und wenig erfreuendes Dasein. Und
dennoch ist dieser Klassizismus nicht gestorben, sondern noch sehr lebendig, nur
eben nicht bei uns, sondern in Frankreich, und er kann auch nur dort leben. Nur
die Eigenmelodie der französischen Sprache vermag den Bann von diesen Ge¬
stalten zu lösen, und nur die französische Theatertradition konnte jene unbeschreib¬
liche Grazie der Darstellung bewahren, die noch heute bei einer guten Auf¬
führung auch den ausländischen Zuschauer entzückt. Da wir aber natürlich
weder die Sprache noch die Theatertradition der Franzosen zu uns verpflanzen
können noch wollen, so würde jene reiche Schönheitswelt für uns verschlossen
bleiben, wenn es nicht eben Glucks Musik wäre, welche die Schranke durchbräche,
die uns von jenem Ewigkeitswert des französischen Klassizismus trennt. Sie
besitzt den Wohllaut des französischen Pathos, das durchaus nicht hohl zu sein
braucht, in ihr ist aber auch vor allem jene bezaubernde Anmut der theatralischen
Pose (im guten Sinne) erhalten, die wir sonst nur auf der französischen Bühne
bewundern können. Daher jener ganz besondere Reiz, der Glucks Frauen¬
gestalten umschwebt, obgleich sie im ganzen viel weniger charakteristisch gehalten
sind, als die männlichen Partien. Alle jene Sopranarien, in denen sich die
süße Beklenrmung eines Frauenherzens ausströmt, wie z. B. im ersten und
dritten Akt der "Iphigenie in Antis", oder jene wundervolle "Armida"-Arie im
dritten Akt, oder jener holde Zwiegesang der Liebenden, der den fünften Akt
der "Armida" eröffnet, müssen sie nicht alle in einer ruhigen harmonischen
Stellung gesungen werden, und sind sie nicht gerade der vollendete musikalische
Ausdruck jener anmutigen Harmonie, die heute noch Racines Dramen dem Zu¬
schauer zur Quelle reinsten Genusses macht? Und wenn uns der verlassenen
Armida Seelenpein und Raserei auch heute noch in ihren Bann zu schlagen
vermag, so ist dies eine ähnliche Wirkung, wie sie von einer gut gespielten
"Phädra" ausgeht. Diese Kulturbeziehung von Glucks Musik zum französischen
Klassizismus macht es auch begreiflich, daß Fraukreich uns in der Gluckpflege


Gluck

Geist menschlich durchwärmter Klassizität, der eine so merkwürdige innerliche
Beziehung herstellt zwischen Goethes „Iphigenie auf Tauris" und den Gluckschen
Jphigenienopern, die gänzlich unabhängig voneinander entstanden sind. Ge¬
rade diese auffallende Geistesverwandtschaft, die zwischen unserem Meister und
jenem teuren Werke besteht, müßte für uns allein ein triftiger Grund sein, uns
nicht aus Bequemlichkeit eines unserer wertvollsten Nationalgüter zu berauben.

Die Gluckschen Opern haben aber nicht nur das Verdienst, der Ausdruck
einer einzelnen Persönlichkeit, sondern der einer ganzen Zeitkultur zu sein,
und wie alle wahrhaft großen Schöpfungen haben sie das Beste und Wert¬
vollste ihrer eigenen Zeit für die Ewigkeit gerettet. Dies ist ein um so ge¬
wichtigeres Verdienst, als gerade der Geist jener Epoche dem unseren nicht
besonders nahe zu stehen scheint, ja, wir haben uns daran gewöhnt, auf den
französischen Klassizismus — denn um ihn handelt es sich hier — mit einer
reichlich ungerechten Verachtung herabzusehen. Nur auf unseren Schulen führen
Racine und Corneille ein gequältes und wenig erfreuendes Dasein. Und
dennoch ist dieser Klassizismus nicht gestorben, sondern noch sehr lebendig, nur
eben nicht bei uns, sondern in Frankreich, und er kann auch nur dort leben. Nur
die Eigenmelodie der französischen Sprache vermag den Bann von diesen Ge¬
stalten zu lösen, und nur die französische Theatertradition konnte jene unbeschreib¬
liche Grazie der Darstellung bewahren, die noch heute bei einer guten Auf¬
führung auch den ausländischen Zuschauer entzückt. Da wir aber natürlich
weder die Sprache noch die Theatertradition der Franzosen zu uns verpflanzen
können noch wollen, so würde jene reiche Schönheitswelt für uns verschlossen
bleiben, wenn es nicht eben Glucks Musik wäre, welche die Schranke durchbräche,
die uns von jenem Ewigkeitswert des französischen Klassizismus trennt. Sie
besitzt den Wohllaut des französischen Pathos, das durchaus nicht hohl zu sein
braucht, in ihr ist aber auch vor allem jene bezaubernde Anmut der theatralischen
Pose (im guten Sinne) erhalten, die wir sonst nur auf der französischen Bühne
bewundern können. Daher jener ganz besondere Reiz, der Glucks Frauen¬
gestalten umschwebt, obgleich sie im ganzen viel weniger charakteristisch gehalten
sind, als die männlichen Partien. Alle jene Sopranarien, in denen sich die
süße Beklenrmung eines Frauenherzens ausströmt, wie z. B. im ersten und
dritten Akt der „Iphigenie in Antis", oder jene wundervolle „Armida"-Arie im
dritten Akt, oder jener holde Zwiegesang der Liebenden, der den fünften Akt
der „Armida" eröffnet, müssen sie nicht alle in einer ruhigen harmonischen
Stellung gesungen werden, und sind sie nicht gerade der vollendete musikalische
Ausdruck jener anmutigen Harmonie, die heute noch Racines Dramen dem Zu¬
schauer zur Quelle reinsten Genusses macht? Und wenn uns der verlassenen
Armida Seelenpein und Raserei auch heute noch in ihren Bann zu schlagen
vermag, so ist dies eine ähnliche Wirkung, wie sie von einer gut gespielten
„Phädra" ausgeht. Diese Kulturbeziehung von Glucks Musik zum französischen
Klassizismus macht es auch begreiflich, daß Fraukreich uns in der Gluckpflege


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[0370] Gluck Geist menschlich durchwärmter Klassizität, der eine so merkwürdige innerliche Beziehung herstellt zwischen Goethes „Iphigenie auf Tauris" und den Gluckschen Jphigenienopern, die gänzlich unabhängig voneinander entstanden sind. Ge¬ rade diese auffallende Geistesverwandtschaft, die zwischen unserem Meister und jenem teuren Werke besteht, müßte für uns allein ein triftiger Grund sein, uns nicht aus Bequemlichkeit eines unserer wertvollsten Nationalgüter zu berauben. Die Gluckschen Opern haben aber nicht nur das Verdienst, der Ausdruck einer einzelnen Persönlichkeit, sondern der einer ganzen Zeitkultur zu sein, und wie alle wahrhaft großen Schöpfungen haben sie das Beste und Wert¬ vollste ihrer eigenen Zeit für die Ewigkeit gerettet. Dies ist ein um so ge¬ wichtigeres Verdienst, als gerade der Geist jener Epoche dem unseren nicht besonders nahe zu stehen scheint, ja, wir haben uns daran gewöhnt, auf den französischen Klassizismus — denn um ihn handelt es sich hier — mit einer reichlich ungerechten Verachtung herabzusehen. Nur auf unseren Schulen führen Racine und Corneille ein gequältes und wenig erfreuendes Dasein. Und dennoch ist dieser Klassizismus nicht gestorben, sondern noch sehr lebendig, nur eben nicht bei uns, sondern in Frankreich, und er kann auch nur dort leben. Nur die Eigenmelodie der französischen Sprache vermag den Bann von diesen Ge¬ stalten zu lösen, und nur die französische Theatertradition konnte jene unbeschreib¬ liche Grazie der Darstellung bewahren, die noch heute bei einer guten Auf¬ führung auch den ausländischen Zuschauer entzückt. Da wir aber natürlich weder die Sprache noch die Theatertradition der Franzosen zu uns verpflanzen können noch wollen, so würde jene reiche Schönheitswelt für uns verschlossen bleiben, wenn es nicht eben Glucks Musik wäre, welche die Schranke durchbräche, die uns von jenem Ewigkeitswert des französischen Klassizismus trennt. Sie besitzt den Wohllaut des französischen Pathos, das durchaus nicht hohl zu sein braucht, in ihr ist aber auch vor allem jene bezaubernde Anmut der theatralischen Pose (im guten Sinne) erhalten, die wir sonst nur auf der französischen Bühne bewundern können. Daher jener ganz besondere Reiz, der Glucks Frauen¬ gestalten umschwebt, obgleich sie im ganzen viel weniger charakteristisch gehalten sind, als die männlichen Partien. Alle jene Sopranarien, in denen sich die süße Beklenrmung eines Frauenherzens ausströmt, wie z. B. im ersten und dritten Akt der „Iphigenie in Antis", oder jene wundervolle „Armida"-Arie im dritten Akt, oder jener holde Zwiegesang der Liebenden, der den fünften Akt der „Armida" eröffnet, müssen sie nicht alle in einer ruhigen harmonischen Stellung gesungen werden, und sind sie nicht gerade der vollendete musikalische Ausdruck jener anmutigen Harmonie, die heute noch Racines Dramen dem Zu¬ schauer zur Quelle reinsten Genusses macht? Und wenn uns der verlassenen Armida Seelenpein und Raserei auch heute noch in ihren Bann zu schlagen vermag, so ist dies eine ähnliche Wirkung, wie sie von einer gut gespielten „Phädra" ausgeht. Diese Kulturbeziehung von Glucks Musik zum französischen Klassizismus macht es auch begreiflich, daß Fraukreich uns in der Gluckpflege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/370>, abgerufen am 04.01.2025.