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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

ist. Aber auch in Österreich wird seit Jahren über die russische Propaganda
in Galizien geklagt, und sie hat bereits im Jahre 1909 das österreichische
Parlament beschäftigt. Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in
Österreich, das den "Ukrainern" zu sast sämtlichen ruthenischen Mandaten verhalf,
wimmelt es in Galizien von russischen Spionen, und die nationalistischen Blätter
in Rußland widmen den "durch die Dummheit der russische" Diplomatie unter
das germanische (will sagen: österreichische) Joch geratenen Russen" ein bedenkliches
Interesse. Schon hat einmal das Organ des Ministeriums des Äußeren, das
Wiener Fremdenblatt der Nowoje Wremja den Rat erteilt, an der Klinke
der österreichischen Tür nicht zu allein. sonst müßte die freche Hand mit der
ganzen Wucht der Macht der rechtmäßigen Besitzer zurückgeschlagen werden.
Ein Zeichen der russischen Wühlarbeit ist der in Ur. 30 869 der Times
erschienene wehklagende und jammernde Artikel des Grafen Bobrinski über die
Verfolgung des orthodoxen Glaubens in Galizien. Auf dem "VI. slawischen
Bankette" in Petersburg, das im Mai 1912 unter dem Vorsitze des Generals
Skugarewski stattfand, wurde beschlossen, ein Memorandum über die Handhabung
der österreichischen Verfassung an die europäische Presse zu versenden. In einer
Denkschrift, die im Juni 1912 unter den Dumaabgeordneten zirkulierte, wurde
über die "Unterdrückung" der "Russen" in Galizien Klage geführt und die
Zentralregierung in Wien beschuldigt, die "ukrainischen" Bestrebungen zu fördern,
die das Ziel verfolgen, "das Jagellonische Königreich von Meer zu Meer wieder
aufzurichten". Ist dies auch Unsinn -- gerade gegen die "jagellonische Idee"
richtet sich in erster Reihe die ukrainische Nationalbewegung, die von einer
Wiederherstellung Polens in den alten Grenzen nichts wissen will -- so steckt
darin Methode. Hat doch der Referent der Kommission des russischen Reichs¬
rates über die Chelmvorlage ausgeführt, das Chelmgebiet sowie auch das Gebiet
von Kiew, Podolien und Ostgalizien sei vor der Teilung Polens russisches
Gebiet gewesen.

Die Leiden des "Karpathenrußlands" sind gegenwärtig ein beliebtes Thema,
das in nationalistischen russischen Kreisen erörtert wird. Die Petersburger
Wjedomosti veröffentlichen einen Aufruf des russophilen Agrarvereines in
Lemberg "Rilniczyj Sojuz" über den Notstand in Galizien. In dem Aufrufe
heißt es, die österreichische Regierung habe den russischen Bauern jede Unter¬
stützung verweigert, um diese für die Anhänglichkeit an die Tradition der Väter
und für die Treue gegen die "russische Staatsidee" zu bestrafen. "Die russischen
Bauern sind jetzt ganz verlassen. Nur die eine Hoffnung blieb ihnen, daß dem
russischen Volke in Galizien (Ku8' KalicKa) die Brüder des großmächtigen
Rußland helfen werden, um es vom Hungertode zu erretten und zu verhüten,
daß die uralte russische Erdein die Hände der Feinde falle." Der "Galizisch-
russische Verein" veranstaltete in dieser Angelegenheit eine Versammlung, in
welcher der russophile österreichische Reichstagsabgeordnete Markow und der Partei¬
chef Dudnkiewicz, der in Galizien unter dem Spitznamen "russischer Ambassador"


Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

ist. Aber auch in Österreich wird seit Jahren über die russische Propaganda
in Galizien geklagt, und sie hat bereits im Jahre 1909 das österreichische
Parlament beschäftigt. Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in
Österreich, das den „Ukrainern" zu sast sämtlichen ruthenischen Mandaten verhalf,
wimmelt es in Galizien von russischen Spionen, und die nationalistischen Blätter
in Rußland widmen den „durch die Dummheit der russische» Diplomatie unter
das germanische (will sagen: österreichische) Joch geratenen Russen" ein bedenkliches
Interesse. Schon hat einmal das Organ des Ministeriums des Äußeren, das
Wiener Fremdenblatt der Nowoje Wremja den Rat erteilt, an der Klinke
der österreichischen Tür nicht zu allein. sonst müßte die freche Hand mit der
ganzen Wucht der Macht der rechtmäßigen Besitzer zurückgeschlagen werden.
Ein Zeichen der russischen Wühlarbeit ist der in Ur. 30 869 der Times
erschienene wehklagende und jammernde Artikel des Grafen Bobrinski über die
Verfolgung des orthodoxen Glaubens in Galizien. Auf dem „VI. slawischen
Bankette" in Petersburg, das im Mai 1912 unter dem Vorsitze des Generals
Skugarewski stattfand, wurde beschlossen, ein Memorandum über die Handhabung
der österreichischen Verfassung an die europäische Presse zu versenden. In einer
Denkschrift, die im Juni 1912 unter den Dumaabgeordneten zirkulierte, wurde
über die „Unterdrückung" der „Russen" in Galizien Klage geführt und die
Zentralregierung in Wien beschuldigt, die „ukrainischen" Bestrebungen zu fördern,
die das Ziel verfolgen, „das Jagellonische Königreich von Meer zu Meer wieder
aufzurichten". Ist dies auch Unsinn — gerade gegen die „jagellonische Idee"
richtet sich in erster Reihe die ukrainische Nationalbewegung, die von einer
Wiederherstellung Polens in den alten Grenzen nichts wissen will — so steckt
darin Methode. Hat doch der Referent der Kommission des russischen Reichs¬
rates über die Chelmvorlage ausgeführt, das Chelmgebiet sowie auch das Gebiet
von Kiew, Podolien und Ostgalizien sei vor der Teilung Polens russisches
Gebiet gewesen.

Die Leiden des „Karpathenrußlands" sind gegenwärtig ein beliebtes Thema,
das in nationalistischen russischen Kreisen erörtert wird. Die Petersburger
Wjedomosti veröffentlichen einen Aufruf des russophilen Agrarvereines in
Lemberg „Rilniczyj Sojuz" über den Notstand in Galizien. In dem Aufrufe
heißt es, die österreichische Regierung habe den russischen Bauern jede Unter¬
stützung verweigert, um diese für die Anhänglichkeit an die Tradition der Väter
und für die Treue gegen die „russische Staatsidee" zu bestrafen. „Die russischen
Bauern sind jetzt ganz verlassen. Nur die eine Hoffnung blieb ihnen, daß dem
russischen Volke in Galizien (Ku8' KalicKa) die Brüder des großmächtigen
Rußland helfen werden, um es vom Hungertode zu erretten und zu verhüten,
daß die uralte russische Erdein die Hände der Feinde falle." Der „Galizisch-
russische Verein" veranstaltete in dieser Angelegenheit eine Versammlung, in
welcher der russophile österreichische Reichstagsabgeordnete Markow und der Partei¬
chef Dudnkiewicz, der in Galizien unter dem Spitznamen „russischer Ambassador"


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[0037] Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes ist. Aber auch in Österreich wird seit Jahren über die russische Propaganda in Galizien geklagt, und sie hat bereits im Jahre 1909 das österreichische Parlament beschäftigt. Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich, das den „Ukrainern" zu sast sämtlichen ruthenischen Mandaten verhalf, wimmelt es in Galizien von russischen Spionen, und die nationalistischen Blätter in Rußland widmen den „durch die Dummheit der russische» Diplomatie unter das germanische (will sagen: österreichische) Joch geratenen Russen" ein bedenkliches Interesse. Schon hat einmal das Organ des Ministeriums des Äußeren, das Wiener Fremdenblatt der Nowoje Wremja den Rat erteilt, an der Klinke der österreichischen Tür nicht zu allein. sonst müßte die freche Hand mit der ganzen Wucht der Macht der rechtmäßigen Besitzer zurückgeschlagen werden. Ein Zeichen der russischen Wühlarbeit ist der in Ur. 30 869 der Times erschienene wehklagende und jammernde Artikel des Grafen Bobrinski über die Verfolgung des orthodoxen Glaubens in Galizien. Auf dem „VI. slawischen Bankette" in Petersburg, das im Mai 1912 unter dem Vorsitze des Generals Skugarewski stattfand, wurde beschlossen, ein Memorandum über die Handhabung der österreichischen Verfassung an die europäische Presse zu versenden. In einer Denkschrift, die im Juni 1912 unter den Dumaabgeordneten zirkulierte, wurde über die „Unterdrückung" der „Russen" in Galizien Klage geführt und die Zentralregierung in Wien beschuldigt, die „ukrainischen" Bestrebungen zu fördern, die das Ziel verfolgen, „das Jagellonische Königreich von Meer zu Meer wieder aufzurichten". Ist dies auch Unsinn — gerade gegen die „jagellonische Idee" richtet sich in erster Reihe die ukrainische Nationalbewegung, die von einer Wiederherstellung Polens in den alten Grenzen nichts wissen will — so steckt darin Methode. Hat doch der Referent der Kommission des russischen Reichs¬ rates über die Chelmvorlage ausgeführt, das Chelmgebiet sowie auch das Gebiet von Kiew, Podolien und Ostgalizien sei vor der Teilung Polens russisches Gebiet gewesen. Die Leiden des „Karpathenrußlands" sind gegenwärtig ein beliebtes Thema, das in nationalistischen russischen Kreisen erörtert wird. Die Petersburger Wjedomosti veröffentlichen einen Aufruf des russophilen Agrarvereines in Lemberg „Rilniczyj Sojuz" über den Notstand in Galizien. In dem Aufrufe heißt es, die österreichische Regierung habe den russischen Bauern jede Unter¬ stützung verweigert, um diese für die Anhänglichkeit an die Tradition der Väter und für die Treue gegen die „russische Staatsidee" zu bestrafen. „Die russischen Bauern sind jetzt ganz verlassen. Nur die eine Hoffnung blieb ihnen, daß dem russischen Volke in Galizien (Ku8' KalicKa) die Brüder des großmächtigen Rußland helfen werden, um es vom Hungertode zu erretten und zu verhüten, daß die uralte russische Erdein die Hände der Feinde falle." Der „Galizisch- russische Verein" veranstaltete in dieser Angelegenheit eine Versammlung, in welcher der russophile österreichische Reichstagsabgeordnete Markow und der Partei¬ chef Dudnkiewicz, der in Galizien unter dem Spitznamen „russischer Ambassador"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/37>, abgerufen am 29.12.2024.