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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

unsere Beziehungen zu Rußland wegen der bulgarischen Frage aufs äußerste
gespannt waren und sich das Gerücht verbreitet hatte, das in Sokal stationierte
Dragonerregiment des Obersten Zaleski werde in der Ukraine einem Einfalle
der Kosaken in Galizien zuvorzukommen suchen) als strategische Operation in
Aussicht genommenen "Zug gegen Kiew" zur Grundlage einer großukrainischen
Ideologie, indem sie Österreich auf die Expansion zum Schwarzen Meere
verweisen. Im Falle eines Krieges mit Nußland wäre es demnach Aufgabe
unserer Armee als Befreierin in der Ukraine zu erscheinen. --

Der bekannte Czechenführer Kramarz warf im Jahre 1911 der österreichischen
Regierung vor, daß sie sich der ukrainischen Bewegung für weitreichende Ziele
bediene. Der Panslawist Menschikow hinwieder meinte, die russische Regierung
sei zu liberal, als daß sie die große Gefahr seitens dieser revolutionären Strömung
für den Staat gehörig einschätzte. Beide haben Unrecht. Die friedlichen Ziele
unserer auswärtigen Politik sind bekannt und mit den realen Interessen der
Monarchie zu sehr verknüpft, um großukrainische Bestrebungen zu fördern und
dadurch Rußland Verlegenheiten zu bereiten -- wir wären schon froh, wenn
es uns in Ruhe ließe. Das ukrainische Element bedeutet jedoch für Osterreich
den Schutz seiner östlichen Grenze, ein Schutz, wichtiger als fünf Armeekorps
und ein stattlicher Festungsgürtel. Daß ein solcher Schutz Österreich-Ungarn
wirklich not tut, lehrt die russophile und orthodoxe Propaganda, die von Nußland
aus unter der ruthenischen Bevölkerung systematisch betrieben wird. Mitten in
die österreichisch-russischen Freundschaftsbemühungen fällt der Prozeß gegen russische
Agitatoren in Marmaros-Sziget, denen Aufreizung der ruthenischen Bevölkerung in
einigen Komitaten Nordungarns gegen die griechisch-katholische Religion, ferner
Aufwieglung gegen die territoriale Integrität des ungarischen Staates sowie
gegen das gesetzliche Herrscherrecht des ungarischen Königs zur Last gelegt wurde.
Es fehlte nicht an Bemühungen, diesen Prozeß der zukünftigen Freundschaft mit
Rußland zuliebe niederzuschlagen; die Eröffnungen, die der ungarische Justizminister
im ungarischen Reichstage darüber machte, lassen jedoch die Größe der Gefahr, die
von dieser Seite droht, mit aller Deutlichkeit erkennen. In manchen Gemeinden
sind 400 bis 500 Personen zum orthodoxen Glauben übergetreten. Es wurden
Broschüren verteilt, in denen der heilige Zar angerufen wird, hierher zu kommen
und die Ruthenen zu befreien; die Ruthenen würden dann ihre Waffen weg¬
werfen, die Armee verlassen und eine Katastrophe herbeiführen. Die Agitatoren
standen, wie festgestellt wurde, mit vermögenden und einflußreichen russischen
Persönlichkeiten in Verbindung und erfreuten sich der materiellen Unterstützung
russischer Bischöfe und Klostervorstände. Den Krieg der Balkanstaaten gegen
die Türkei stellten sie der Bevölkerung als einen Angriff Rußlands gegen die
Türkei hin und verbreiteten die Nachricht, daß sich Rußland nach Beendigung
dieses Krieges gegen Österreich-Ungarn wenden wird, um die Ruthenen zu befreien.

Man könnte einwenden, daß bei den bekannten magyarischen Regierungs¬
methoden eine Anklage wegen Aufreizung gegen die Staatsgewalt leicht konstruiert


Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

unsere Beziehungen zu Rußland wegen der bulgarischen Frage aufs äußerste
gespannt waren und sich das Gerücht verbreitet hatte, das in Sokal stationierte
Dragonerregiment des Obersten Zaleski werde in der Ukraine einem Einfalle
der Kosaken in Galizien zuvorzukommen suchen) als strategische Operation in
Aussicht genommenen „Zug gegen Kiew" zur Grundlage einer großukrainischen
Ideologie, indem sie Österreich auf die Expansion zum Schwarzen Meere
verweisen. Im Falle eines Krieges mit Nußland wäre es demnach Aufgabe
unserer Armee als Befreierin in der Ukraine zu erscheinen. —

Der bekannte Czechenführer Kramarz warf im Jahre 1911 der österreichischen
Regierung vor, daß sie sich der ukrainischen Bewegung für weitreichende Ziele
bediene. Der Panslawist Menschikow hinwieder meinte, die russische Regierung
sei zu liberal, als daß sie die große Gefahr seitens dieser revolutionären Strömung
für den Staat gehörig einschätzte. Beide haben Unrecht. Die friedlichen Ziele
unserer auswärtigen Politik sind bekannt und mit den realen Interessen der
Monarchie zu sehr verknüpft, um großukrainische Bestrebungen zu fördern und
dadurch Rußland Verlegenheiten zu bereiten — wir wären schon froh, wenn
es uns in Ruhe ließe. Das ukrainische Element bedeutet jedoch für Osterreich
den Schutz seiner östlichen Grenze, ein Schutz, wichtiger als fünf Armeekorps
und ein stattlicher Festungsgürtel. Daß ein solcher Schutz Österreich-Ungarn
wirklich not tut, lehrt die russophile und orthodoxe Propaganda, die von Nußland
aus unter der ruthenischen Bevölkerung systematisch betrieben wird. Mitten in
die österreichisch-russischen Freundschaftsbemühungen fällt der Prozeß gegen russische
Agitatoren in Marmaros-Sziget, denen Aufreizung der ruthenischen Bevölkerung in
einigen Komitaten Nordungarns gegen die griechisch-katholische Religion, ferner
Aufwieglung gegen die territoriale Integrität des ungarischen Staates sowie
gegen das gesetzliche Herrscherrecht des ungarischen Königs zur Last gelegt wurde.
Es fehlte nicht an Bemühungen, diesen Prozeß der zukünftigen Freundschaft mit
Rußland zuliebe niederzuschlagen; die Eröffnungen, die der ungarische Justizminister
im ungarischen Reichstage darüber machte, lassen jedoch die Größe der Gefahr, die
von dieser Seite droht, mit aller Deutlichkeit erkennen. In manchen Gemeinden
sind 400 bis 500 Personen zum orthodoxen Glauben übergetreten. Es wurden
Broschüren verteilt, in denen der heilige Zar angerufen wird, hierher zu kommen
und die Ruthenen zu befreien; die Ruthenen würden dann ihre Waffen weg¬
werfen, die Armee verlassen und eine Katastrophe herbeiführen. Die Agitatoren
standen, wie festgestellt wurde, mit vermögenden und einflußreichen russischen
Persönlichkeiten in Verbindung und erfreuten sich der materiellen Unterstützung
russischer Bischöfe und Klostervorstände. Den Krieg der Balkanstaaten gegen
die Türkei stellten sie der Bevölkerung als einen Angriff Rußlands gegen die
Türkei hin und verbreiteten die Nachricht, daß sich Rußland nach Beendigung
dieses Krieges gegen Österreich-Ungarn wenden wird, um die Ruthenen zu befreien.

Man könnte einwenden, daß bei den bekannten magyarischen Regierungs¬
methoden eine Anklage wegen Aufreizung gegen die Staatsgewalt leicht konstruiert


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[0036] Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes unsere Beziehungen zu Rußland wegen der bulgarischen Frage aufs äußerste gespannt waren und sich das Gerücht verbreitet hatte, das in Sokal stationierte Dragonerregiment des Obersten Zaleski werde in der Ukraine einem Einfalle der Kosaken in Galizien zuvorzukommen suchen) als strategische Operation in Aussicht genommenen „Zug gegen Kiew" zur Grundlage einer großukrainischen Ideologie, indem sie Österreich auf die Expansion zum Schwarzen Meere verweisen. Im Falle eines Krieges mit Nußland wäre es demnach Aufgabe unserer Armee als Befreierin in der Ukraine zu erscheinen. — Der bekannte Czechenführer Kramarz warf im Jahre 1911 der österreichischen Regierung vor, daß sie sich der ukrainischen Bewegung für weitreichende Ziele bediene. Der Panslawist Menschikow hinwieder meinte, die russische Regierung sei zu liberal, als daß sie die große Gefahr seitens dieser revolutionären Strömung für den Staat gehörig einschätzte. Beide haben Unrecht. Die friedlichen Ziele unserer auswärtigen Politik sind bekannt und mit den realen Interessen der Monarchie zu sehr verknüpft, um großukrainische Bestrebungen zu fördern und dadurch Rußland Verlegenheiten zu bereiten — wir wären schon froh, wenn es uns in Ruhe ließe. Das ukrainische Element bedeutet jedoch für Osterreich den Schutz seiner östlichen Grenze, ein Schutz, wichtiger als fünf Armeekorps und ein stattlicher Festungsgürtel. Daß ein solcher Schutz Österreich-Ungarn wirklich not tut, lehrt die russophile und orthodoxe Propaganda, die von Nußland aus unter der ruthenischen Bevölkerung systematisch betrieben wird. Mitten in die österreichisch-russischen Freundschaftsbemühungen fällt der Prozeß gegen russische Agitatoren in Marmaros-Sziget, denen Aufreizung der ruthenischen Bevölkerung in einigen Komitaten Nordungarns gegen die griechisch-katholische Religion, ferner Aufwieglung gegen die territoriale Integrität des ungarischen Staates sowie gegen das gesetzliche Herrscherrecht des ungarischen Königs zur Last gelegt wurde. Es fehlte nicht an Bemühungen, diesen Prozeß der zukünftigen Freundschaft mit Rußland zuliebe niederzuschlagen; die Eröffnungen, die der ungarische Justizminister im ungarischen Reichstage darüber machte, lassen jedoch die Größe der Gefahr, die von dieser Seite droht, mit aller Deutlichkeit erkennen. In manchen Gemeinden sind 400 bis 500 Personen zum orthodoxen Glauben übergetreten. Es wurden Broschüren verteilt, in denen der heilige Zar angerufen wird, hierher zu kommen und die Ruthenen zu befreien; die Ruthenen würden dann ihre Waffen weg¬ werfen, die Armee verlassen und eine Katastrophe herbeiführen. Die Agitatoren standen, wie festgestellt wurde, mit vermögenden und einflußreichen russischen Persönlichkeiten in Verbindung und erfreuten sich der materiellen Unterstützung russischer Bischöfe und Klostervorstände. Den Krieg der Balkanstaaten gegen die Türkei stellten sie der Bevölkerung als einen Angriff Rußlands gegen die Türkei hin und verbreiteten die Nachricht, daß sich Rußland nach Beendigung dieses Krieges gegen Österreich-Ungarn wenden wird, um die Ruthenen zu befreien. Man könnte einwenden, daß bei den bekannten magyarischen Regierungs¬ methoden eine Anklage wegen Aufreizung gegen die Staatsgewalt leicht konstruiert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/36>, abgerufen am 29.12.2024.