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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Iwan Logginowitsch Goremykin

denen mit wachsender Großindustrie und entsprechender Zusammenballung einer
ungebildeten Arbeiterbevölkerung, die vielfach beispielloser Willkür ausländischer
Unternehmer ausgesetzt war, wuchs die Zahl der Exzesse von unten und oben.
Dort wurde auch die Presse geknebelt. Aber alle diese Dinge bildeten für
Goremykin nur das Material zu der Erkenntnis, daß die bestehenden Gesetze
eben nicht mehr ausreichten, daß die Bureaukratie an den Grenzen ihres Könnens
angelangt sei. Goremykin mußte 1899 dem Zentralisten Witte weichen, weil er die
gesunden Kräfte der Nation, die bereits in der Sjemstwo ein Tätigkeitsfeld
hatten, stärker wie bisher in den Dienst des Staates, in den Dienst auch der
Selbstherrschaft stellen wollte. Dieser historisch feststehenden Tatsache erinnerten
sich aber die liberalen Reformer von 1906 nicht. Und doch bildete sie den
einen gegebenen Ausgangspunkt für jede praktische Reformpolitik in Nußland
nach Zusammentritt der ersten Reichsduma. Denn von ihr aus war der Stoß
zu führen gegen die büreaukratische Zentralisation, die Witte in der Wirtschaft
und der inzwischen verstorbene Pobjedonostzew in den geistlichen und kulturellen
Fragen vertrat. Wenn aber der Sjemstwo für lange Zeit, wenn nicht für
immer, der Weg verbaut sein dürfte zu einem Sjemski Ssobor (Vereinigter Landtag),
dann ist es die Schuld Wildes und der Liberalen von 1906.

Doch die russischen Reformer waren anderer Ansicht; sie hatten auch ver¬
gessen, daß es Goremykin war, der bereits 1893 auf die Notwendigkeit einer
Revision der gesamten, die Bauern betreffenden Gesetzgebung in Richtung auf
deren politische Gleichstellung mit den anderen Ständen hingewiesen hatte. Seit
länger als einem Jahrzehnt vergiftet durch den Haß gegen die Bureaukratie,
erzogen in der Auffassung, daß nationale Empfindungen Zeichen der Unkultur
und der Barbarei seien, wollten sie erst alle von Rußland geknechteten Völker
-- bezeichnenderweise mit alleiniger Ausnahme der Deutschen -- befreit
wissen. Ehrte sie ihr Antrag auf Amnestie für ihre unter Anklage gestellten
bisherigen Kampfgenossen als erste Aktion der Volksvertretung, so erhielt
die politische Lage durch Hervorschieben der Fremdvölkerfrage eine Be¬
lastung, die sie nicht ertragen konnte. In echt russischer Weitherzigkeit
wollten sie, ohne an sich selbst zu denken, ihr nationales Hemd verschenken
in der Hoffnung, daß sie ein moderneres von Polen, Juden, Letten,
Ehlen, Armeniern usw. wiedererhalten würden. Es fehlte jener nationale
Egoismus, den jedes Volk nötig hat, das sich im Kampf um seine Ideale er¬
halten will, gleichgültig, auf welchem Gebiet diese liegen mögen. Ein Mann
wie Witte, der sein staatliches Ideal nicht auf Raffen- und Volkseigentümlich,
leiten aufbaute, sondern auf den nackten, zahlenmäßig greifbaren Wirtschafts¬
faktoren, wäre vielleicht auch mit dieser Strömung fertig geworden: er hätte
kaltlächelnd das großrussische Element den anderen wirtschaftlich stärkeren aus-
geliefert, und vielleicht auch uicht zum Schaden seines Staates, den er oft genug
mit der Staatengemeinschaft Nordamerikas verglichen hat. Goremykin kämpfte
für ein anderes Ideal. Ihm stand und steht das russische Volkstum an erster


Iwan Logginowitsch Goremykin

denen mit wachsender Großindustrie und entsprechender Zusammenballung einer
ungebildeten Arbeiterbevölkerung, die vielfach beispielloser Willkür ausländischer
Unternehmer ausgesetzt war, wuchs die Zahl der Exzesse von unten und oben.
Dort wurde auch die Presse geknebelt. Aber alle diese Dinge bildeten für
Goremykin nur das Material zu der Erkenntnis, daß die bestehenden Gesetze
eben nicht mehr ausreichten, daß die Bureaukratie an den Grenzen ihres Könnens
angelangt sei. Goremykin mußte 1899 dem Zentralisten Witte weichen, weil er die
gesunden Kräfte der Nation, die bereits in der Sjemstwo ein Tätigkeitsfeld
hatten, stärker wie bisher in den Dienst des Staates, in den Dienst auch der
Selbstherrschaft stellen wollte. Dieser historisch feststehenden Tatsache erinnerten
sich aber die liberalen Reformer von 1906 nicht. Und doch bildete sie den
einen gegebenen Ausgangspunkt für jede praktische Reformpolitik in Nußland
nach Zusammentritt der ersten Reichsduma. Denn von ihr aus war der Stoß
zu führen gegen die büreaukratische Zentralisation, die Witte in der Wirtschaft
und der inzwischen verstorbene Pobjedonostzew in den geistlichen und kulturellen
Fragen vertrat. Wenn aber der Sjemstwo für lange Zeit, wenn nicht für
immer, der Weg verbaut sein dürfte zu einem Sjemski Ssobor (Vereinigter Landtag),
dann ist es die Schuld Wildes und der Liberalen von 1906.

Doch die russischen Reformer waren anderer Ansicht; sie hatten auch ver¬
gessen, daß es Goremykin war, der bereits 1893 auf die Notwendigkeit einer
Revision der gesamten, die Bauern betreffenden Gesetzgebung in Richtung auf
deren politische Gleichstellung mit den anderen Ständen hingewiesen hatte. Seit
länger als einem Jahrzehnt vergiftet durch den Haß gegen die Bureaukratie,
erzogen in der Auffassung, daß nationale Empfindungen Zeichen der Unkultur
und der Barbarei seien, wollten sie erst alle von Rußland geknechteten Völker
— bezeichnenderweise mit alleiniger Ausnahme der Deutschen — befreit
wissen. Ehrte sie ihr Antrag auf Amnestie für ihre unter Anklage gestellten
bisherigen Kampfgenossen als erste Aktion der Volksvertretung, so erhielt
die politische Lage durch Hervorschieben der Fremdvölkerfrage eine Be¬
lastung, die sie nicht ertragen konnte. In echt russischer Weitherzigkeit
wollten sie, ohne an sich selbst zu denken, ihr nationales Hemd verschenken
in der Hoffnung, daß sie ein moderneres von Polen, Juden, Letten,
Ehlen, Armeniern usw. wiedererhalten würden. Es fehlte jener nationale
Egoismus, den jedes Volk nötig hat, das sich im Kampf um seine Ideale er¬
halten will, gleichgültig, auf welchem Gebiet diese liegen mögen. Ein Mann
wie Witte, der sein staatliches Ideal nicht auf Raffen- und Volkseigentümlich,
leiten aufbaute, sondern auf den nackten, zahlenmäßig greifbaren Wirtschafts¬
faktoren, wäre vielleicht auch mit dieser Strömung fertig geworden: er hätte
kaltlächelnd das großrussische Element den anderen wirtschaftlich stärkeren aus-
geliefert, und vielleicht auch uicht zum Schaden seines Staates, den er oft genug
mit der Staatengemeinschaft Nordamerikas verglichen hat. Goremykin kämpfte
für ein anderes Ideal. Ihm stand und steht das russische Volkstum an erster


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[0357] Iwan Logginowitsch Goremykin denen mit wachsender Großindustrie und entsprechender Zusammenballung einer ungebildeten Arbeiterbevölkerung, die vielfach beispielloser Willkür ausländischer Unternehmer ausgesetzt war, wuchs die Zahl der Exzesse von unten und oben. Dort wurde auch die Presse geknebelt. Aber alle diese Dinge bildeten für Goremykin nur das Material zu der Erkenntnis, daß die bestehenden Gesetze eben nicht mehr ausreichten, daß die Bureaukratie an den Grenzen ihres Könnens angelangt sei. Goremykin mußte 1899 dem Zentralisten Witte weichen, weil er die gesunden Kräfte der Nation, die bereits in der Sjemstwo ein Tätigkeitsfeld hatten, stärker wie bisher in den Dienst des Staates, in den Dienst auch der Selbstherrschaft stellen wollte. Dieser historisch feststehenden Tatsache erinnerten sich aber die liberalen Reformer von 1906 nicht. Und doch bildete sie den einen gegebenen Ausgangspunkt für jede praktische Reformpolitik in Nußland nach Zusammentritt der ersten Reichsduma. Denn von ihr aus war der Stoß zu führen gegen die büreaukratische Zentralisation, die Witte in der Wirtschaft und der inzwischen verstorbene Pobjedonostzew in den geistlichen und kulturellen Fragen vertrat. Wenn aber der Sjemstwo für lange Zeit, wenn nicht für immer, der Weg verbaut sein dürfte zu einem Sjemski Ssobor (Vereinigter Landtag), dann ist es die Schuld Wildes und der Liberalen von 1906. Doch die russischen Reformer waren anderer Ansicht; sie hatten auch ver¬ gessen, daß es Goremykin war, der bereits 1893 auf die Notwendigkeit einer Revision der gesamten, die Bauern betreffenden Gesetzgebung in Richtung auf deren politische Gleichstellung mit den anderen Ständen hingewiesen hatte. Seit länger als einem Jahrzehnt vergiftet durch den Haß gegen die Bureaukratie, erzogen in der Auffassung, daß nationale Empfindungen Zeichen der Unkultur und der Barbarei seien, wollten sie erst alle von Rußland geknechteten Völker — bezeichnenderweise mit alleiniger Ausnahme der Deutschen — befreit wissen. Ehrte sie ihr Antrag auf Amnestie für ihre unter Anklage gestellten bisherigen Kampfgenossen als erste Aktion der Volksvertretung, so erhielt die politische Lage durch Hervorschieben der Fremdvölkerfrage eine Be¬ lastung, die sie nicht ertragen konnte. In echt russischer Weitherzigkeit wollten sie, ohne an sich selbst zu denken, ihr nationales Hemd verschenken in der Hoffnung, daß sie ein moderneres von Polen, Juden, Letten, Ehlen, Armeniern usw. wiedererhalten würden. Es fehlte jener nationale Egoismus, den jedes Volk nötig hat, das sich im Kampf um seine Ideale er¬ halten will, gleichgültig, auf welchem Gebiet diese liegen mögen. Ein Mann wie Witte, der sein staatliches Ideal nicht auf Raffen- und Volkseigentümlich, leiten aufbaute, sondern auf den nackten, zahlenmäßig greifbaren Wirtschafts¬ faktoren, wäre vielleicht auch mit dieser Strömung fertig geworden: er hätte kaltlächelnd das großrussische Element den anderen wirtschaftlich stärkeren aus- geliefert, und vielleicht auch uicht zum Schaden seines Staates, den er oft genug mit der Staatengemeinschaft Nordamerikas verglichen hat. Goremykin kämpfte für ein anderes Ideal. Ihm stand und steht das russische Volkstum an erster

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/357>, abgerufen am 04.01.2025.