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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Iwan Logginswitsch Goremykin

Gesundung des staatlichen Lebens in Nußland gelegen war, und zu ihnen ge¬
hörte doch auch Maxim Kowalewfli, war es ein Unglück. Denn nun vergaßen
die wenigen gemäßigten Reformer in der Duma den Anschluß an die Regierung,
mit der zusammen zu gehen ihnen unsittlich schien. Das aber war das nächste
Ziel der Demokraten, gerade diese gemäßigten russischen Elemente auszuschalten,
weil sie mit ihrem slawjanophilen Einschlag erst einmal zur Teilnahme an
praktischer Politik zugelassen, zu leicht von den Idealen des "reinen Liberalismus"
abschwenkten und zu einem "national-russischen Liberalismus" kommen konnten,
der sich unbedingt gegen die kosmopolitischen und förderalistischen Tendenze"
wenden mußte. Trubetzkoj hatte schon das Lied von einer "christlichen Demo¬
kratie" angestimmt").

Goremykin war diesen "christlichen Demokraten" Moskaus viel näher geistes¬
verwandt als sie selbst es ahnten; aber zwischen ihnen und ihm bestand ein
Schmutzwall von Verleumdungen, den die Demagogen in zehnjähriger Arbeit in
der Presse der ganzen Welt aufgeschichtet hatten und den zu beseitigen Goremykin
keine Zeit fand, die Liberalen aber keine Veranlassung zu haben glaubten.

Es rächte sich an den Regierungsvertretern das System der Knebelung der
öffentlichen Meinung in der Presse, das Pobjedonostzew mit Gewalt, Witte durch
Bestechung ausgebaut hatten. Jetzt gab es keine Stimme, die sich der früheren
Verdienste Goremykins erinnerte. Durfte in der Presse eine Kritik an den
herrschenden Zuständen nicht geübt werden, so konnte auch keine Gegenkritik
erstarken und ein wichtiges Hilfsmittel moderner Regierungskunst, eine das
Staatsinteresse in erster Linie vertretende Presse mußte verkümmern.

Eine gewisse Tragik liegt in der Tatsache, daß es gerade Goremykin,
also derjenige unter den früheren "Polizeiministern" war, der seit 1868, also
seit Dmitri A. Tolstojs Herrschaft, der Presse die meisten Freiheiten gelassen
hat, wenigstens der großen Presse in Se. Petersburg und Moskau. Schlecht
erging es freilich der kleinen Provinzpresse, die mehr als vorher der Willkür
der einzelnen Gouvernementschefs und Polizeimeister ausgeliefert war. Aber
auch dies war lediglich der Ausfluß einer gewissen Liberalität in den Auf¬
fassungen Goremykins: er dezentralisierte, er ließ in richtiger Erkenntnis, daß
ein Reich wie Rußland sich nicht von einem einzigen Schreibtisch aus regieren
lasse, den Gouverneuren gewisse Bewegungsfreiheit, forderte aber um so größere
Verantwortungsfreudigkeit. Die Gouverneure nahmen unter diesen Verhältnissen
ihre Pflichten als oberste Polizeiorgane um so ernster. Freilich ließ sich der
eine oder andere verleiten, seine Machtbefugnisse zu überschreiten, wo die Gesetze
nicht ausreichten; aber durch die große Presse kamen solche Machtüberschreitungen
zur öffentlichen Kenntnis, was früher, unter Durnowo nicht geschah, und so
entstand der Eindruck, als habe sich die Paschawirtschaft unter dem Schutze
Goremykins vergrößert. Gewiß, in einzelnen Gouvernements, besonders in



*) Offener Brief an einen "linken Oktobristen" wegen Stellung zur Polenfrage, ver¬
öffentlicht in Moskowski Jeshenedjelnik vom 6. Mai 1906, Heft 9, S. 275.
Iwan Logginswitsch Goremykin

Gesundung des staatlichen Lebens in Nußland gelegen war, und zu ihnen ge¬
hörte doch auch Maxim Kowalewfli, war es ein Unglück. Denn nun vergaßen
die wenigen gemäßigten Reformer in der Duma den Anschluß an die Regierung,
mit der zusammen zu gehen ihnen unsittlich schien. Das aber war das nächste
Ziel der Demokraten, gerade diese gemäßigten russischen Elemente auszuschalten,
weil sie mit ihrem slawjanophilen Einschlag erst einmal zur Teilnahme an
praktischer Politik zugelassen, zu leicht von den Idealen des „reinen Liberalismus"
abschwenkten und zu einem „national-russischen Liberalismus" kommen konnten,
der sich unbedingt gegen die kosmopolitischen und förderalistischen Tendenze»
wenden mußte. Trubetzkoj hatte schon das Lied von einer „christlichen Demo¬
kratie" angestimmt").

Goremykin war diesen „christlichen Demokraten" Moskaus viel näher geistes¬
verwandt als sie selbst es ahnten; aber zwischen ihnen und ihm bestand ein
Schmutzwall von Verleumdungen, den die Demagogen in zehnjähriger Arbeit in
der Presse der ganzen Welt aufgeschichtet hatten und den zu beseitigen Goremykin
keine Zeit fand, die Liberalen aber keine Veranlassung zu haben glaubten.

Es rächte sich an den Regierungsvertretern das System der Knebelung der
öffentlichen Meinung in der Presse, das Pobjedonostzew mit Gewalt, Witte durch
Bestechung ausgebaut hatten. Jetzt gab es keine Stimme, die sich der früheren
Verdienste Goremykins erinnerte. Durfte in der Presse eine Kritik an den
herrschenden Zuständen nicht geübt werden, so konnte auch keine Gegenkritik
erstarken und ein wichtiges Hilfsmittel moderner Regierungskunst, eine das
Staatsinteresse in erster Linie vertretende Presse mußte verkümmern.

Eine gewisse Tragik liegt in der Tatsache, daß es gerade Goremykin,
also derjenige unter den früheren „Polizeiministern" war, der seit 1868, also
seit Dmitri A. Tolstojs Herrschaft, der Presse die meisten Freiheiten gelassen
hat, wenigstens der großen Presse in Se. Petersburg und Moskau. Schlecht
erging es freilich der kleinen Provinzpresse, die mehr als vorher der Willkür
der einzelnen Gouvernementschefs und Polizeimeister ausgeliefert war. Aber
auch dies war lediglich der Ausfluß einer gewissen Liberalität in den Auf¬
fassungen Goremykins: er dezentralisierte, er ließ in richtiger Erkenntnis, daß
ein Reich wie Rußland sich nicht von einem einzigen Schreibtisch aus regieren
lasse, den Gouverneuren gewisse Bewegungsfreiheit, forderte aber um so größere
Verantwortungsfreudigkeit. Die Gouverneure nahmen unter diesen Verhältnissen
ihre Pflichten als oberste Polizeiorgane um so ernster. Freilich ließ sich der
eine oder andere verleiten, seine Machtbefugnisse zu überschreiten, wo die Gesetze
nicht ausreichten; aber durch die große Presse kamen solche Machtüberschreitungen
zur öffentlichen Kenntnis, was früher, unter Durnowo nicht geschah, und so
entstand der Eindruck, als habe sich die Paschawirtschaft unter dem Schutze
Goremykins vergrößert. Gewiß, in einzelnen Gouvernements, besonders in



*) Offener Brief an einen „linken Oktobristen" wegen Stellung zur Polenfrage, ver¬
öffentlicht in Moskowski Jeshenedjelnik vom 6. Mai 1906, Heft 9, S. 275.
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[0356] Iwan Logginswitsch Goremykin Gesundung des staatlichen Lebens in Nußland gelegen war, und zu ihnen ge¬ hörte doch auch Maxim Kowalewfli, war es ein Unglück. Denn nun vergaßen die wenigen gemäßigten Reformer in der Duma den Anschluß an die Regierung, mit der zusammen zu gehen ihnen unsittlich schien. Das aber war das nächste Ziel der Demokraten, gerade diese gemäßigten russischen Elemente auszuschalten, weil sie mit ihrem slawjanophilen Einschlag erst einmal zur Teilnahme an praktischer Politik zugelassen, zu leicht von den Idealen des „reinen Liberalismus" abschwenkten und zu einem „national-russischen Liberalismus" kommen konnten, der sich unbedingt gegen die kosmopolitischen und förderalistischen Tendenze» wenden mußte. Trubetzkoj hatte schon das Lied von einer „christlichen Demo¬ kratie" angestimmt"). Goremykin war diesen „christlichen Demokraten" Moskaus viel näher geistes¬ verwandt als sie selbst es ahnten; aber zwischen ihnen und ihm bestand ein Schmutzwall von Verleumdungen, den die Demagogen in zehnjähriger Arbeit in der Presse der ganzen Welt aufgeschichtet hatten und den zu beseitigen Goremykin keine Zeit fand, die Liberalen aber keine Veranlassung zu haben glaubten. Es rächte sich an den Regierungsvertretern das System der Knebelung der öffentlichen Meinung in der Presse, das Pobjedonostzew mit Gewalt, Witte durch Bestechung ausgebaut hatten. Jetzt gab es keine Stimme, die sich der früheren Verdienste Goremykins erinnerte. Durfte in der Presse eine Kritik an den herrschenden Zuständen nicht geübt werden, so konnte auch keine Gegenkritik erstarken und ein wichtiges Hilfsmittel moderner Regierungskunst, eine das Staatsinteresse in erster Linie vertretende Presse mußte verkümmern. Eine gewisse Tragik liegt in der Tatsache, daß es gerade Goremykin, also derjenige unter den früheren „Polizeiministern" war, der seit 1868, also seit Dmitri A. Tolstojs Herrschaft, der Presse die meisten Freiheiten gelassen hat, wenigstens der großen Presse in Se. Petersburg und Moskau. Schlecht erging es freilich der kleinen Provinzpresse, die mehr als vorher der Willkür der einzelnen Gouvernementschefs und Polizeimeister ausgeliefert war. Aber auch dies war lediglich der Ausfluß einer gewissen Liberalität in den Auf¬ fassungen Goremykins: er dezentralisierte, er ließ in richtiger Erkenntnis, daß ein Reich wie Rußland sich nicht von einem einzigen Schreibtisch aus regieren lasse, den Gouverneuren gewisse Bewegungsfreiheit, forderte aber um so größere Verantwortungsfreudigkeit. Die Gouverneure nahmen unter diesen Verhältnissen ihre Pflichten als oberste Polizeiorgane um so ernster. Freilich ließ sich der eine oder andere verleiten, seine Machtbefugnisse zu überschreiten, wo die Gesetze nicht ausreichten; aber durch die große Presse kamen solche Machtüberschreitungen zur öffentlichen Kenntnis, was früher, unter Durnowo nicht geschah, und so entstand der Eindruck, als habe sich die Paschawirtschaft unter dem Schutze Goremykins vergrößert. Gewiß, in einzelnen Gouvernements, besonders in *) Offener Brief an einen „linken Oktobristen" wegen Stellung zur Polenfrage, ver¬ öffentlicht in Moskowski Jeshenedjelnik vom 6. Mai 1906, Heft 9, S. 275.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/356>, abgerufen am 04.01.2025.