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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Iwan Logginowitsch Goremykin

Allerhöchste Befehl in diesem Sinne abgeändert; im Oktober 1905 dagegen
wird auf seine Initiative hin das Konstitutionsmanifest veröffentlicht! Kann
man sich noch wundern, daß Graf Witte gegenwärtig ebenso als Gegner, wie
als Anhänger der Konstitution gefallen istl. . .*)"

"Für die russische Bureaukratie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
ist es im höchsten Grade charakteristisch, daß ihr mächtigster, klügster und talent¬
vollster Vertreter kein feststehendes (politisches) Prinzip verkörpert. In den
Tagen des Zerfalls einer Regierungsform ist diese Tatsache nicht einfach das Er¬
gebnis historischer Zufälligkeit. Ebensowenig ist es zufällig, daß gerade dieser
Mann im kritischen Augenblick in der Rolle des .Retters' erschien. Da die
Bureaukratie selbst sich allen Grundsätzen und Idealen gegenüber schandbar
gleichgültig verhielt, vermochte sie keinen anderen auf den Plan zu stellen. Und
nun nimmt Graf Witte nach einem vergeblichen .Rettungsversuch' einen un¬
rühmlichen Abschied. Er vermochte die Bureaukratie nicht zu retten, weil diese
Aufgabe ihrem Wesen nach unlösbar ist, und zur .Rettung des Vaterlandes'
sind außer der Kraft des Verstandes und des Willens gerade diejenigen Eigen¬
schaften vonnöten, über die er nicht verfügte: sittliche Stärke, feste Über¬
zeugungen und der Instinkt für die öffentliche Meinung.

Im Charakter des Grafen Witte, besonders in der Organisation seines
Verstandes überrascht vor allem eine Eigenschaft: das Börsengenie, für das es
keine ständigen, unveränderlichen Werte gibt, sondern nur schwankende, von Tag
zu Tag wechselnde, eben: Börsenwerte. Er spekuliert auf die Konstitution, auf die
Selbstherrschaft, auf die Bauernschaft oder die Arbeiter, auf die besitzenden Klassen,
je nachdem welcher von diesen Werten im gegebenen Augenblick am höchsten
quotiert wird. Wenn er es mit einer oder der anderen politischen Partei,
mit sozialen Gruppen oder einzelnen öffentlichen Persönlichkeiten zu tun hat,
gibt er sich nicht mit der Frage nach ihrem absoluten Wert oder Unwert ab;
für ihn gibt es keinen anderen Maßstab als den, der an zinstragende Papiere
angelegt wird; wie hoch steht das gegebene Papier heute an der Börse im
Preise? Und alle seine Einschätzungen kommen ebenso schnell zustande, wie sie
wechseln. Die Einschätzung von Menschen und Parteien ändert sich bei ihm zu¬
weilen im Verlauf von wenigen Tagen**)."

Die öffentliche Meinung, die so dachte, beurteilte zwar die Persönlichkeit
des Grafen Witte richtig, aber sie hatte keine richtige Vorstellung davon,
was sich in der Umgebung des Zaren zutrug, wußte auch nicht, welchen starken
Einfluß Nikolaus der Zweite, dessen politische Tatkraft überhaupt unterschätzt
wird, auf den Gang der Geschicke Rußlands nahm. So glaubte man auch in
den liberalen und demokratischen Kreisen nicht an die Tatsache, daß der Kampf
noch um die Existenz der Selbstherrschaft und nicht um die Macht der Bureau-




*) Moskowski Jeshenedjelnik v. 27. April 1900, Heft 8 S. 228.
*) Ebenda S. 229
Iwan Logginowitsch Goremykin

Allerhöchste Befehl in diesem Sinne abgeändert; im Oktober 1905 dagegen
wird auf seine Initiative hin das Konstitutionsmanifest veröffentlicht! Kann
man sich noch wundern, daß Graf Witte gegenwärtig ebenso als Gegner, wie
als Anhänger der Konstitution gefallen istl. . .*)"

„Für die russische Bureaukratie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
ist es im höchsten Grade charakteristisch, daß ihr mächtigster, klügster und talent¬
vollster Vertreter kein feststehendes (politisches) Prinzip verkörpert. In den
Tagen des Zerfalls einer Regierungsform ist diese Tatsache nicht einfach das Er¬
gebnis historischer Zufälligkeit. Ebensowenig ist es zufällig, daß gerade dieser
Mann im kritischen Augenblick in der Rolle des .Retters' erschien. Da die
Bureaukratie selbst sich allen Grundsätzen und Idealen gegenüber schandbar
gleichgültig verhielt, vermochte sie keinen anderen auf den Plan zu stellen. Und
nun nimmt Graf Witte nach einem vergeblichen .Rettungsversuch' einen un¬
rühmlichen Abschied. Er vermochte die Bureaukratie nicht zu retten, weil diese
Aufgabe ihrem Wesen nach unlösbar ist, und zur .Rettung des Vaterlandes'
sind außer der Kraft des Verstandes und des Willens gerade diejenigen Eigen¬
schaften vonnöten, über die er nicht verfügte: sittliche Stärke, feste Über¬
zeugungen und der Instinkt für die öffentliche Meinung.

Im Charakter des Grafen Witte, besonders in der Organisation seines
Verstandes überrascht vor allem eine Eigenschaft: das Börsengenie, für das es
keine ständigen, unveränderlichen Werte gibt, sondern nur schwankende, von Tag
zu Tag wechselnde, eben: Börsenwerte. Er spekuliert auf die Konstitution, auf die
Selbstherrschaft, auf die Bauernschaft oder die Arbeiter, auf die besitzenden Klassen,
je nachdem welcher von diesen Werten im gegebenen Augenblick am höchsten
quotiert wird. Wenn er es mit einer oder der anderen politischen Partei,
mit sozialen Gruppen oder einzelnen öffentlichen Persönlichkeiten zu tun hat,
gibt er sich nicht mit der Frage nach ihrem absoluten Wert oder Unwert ab;
für ihn gibt es keinen anderen Maßstab als den, der an zinstragende Papiere
angelegt wird; wie hoch steht das gegebene Papier heute an der Börse im
Preise? Und alle seine Einschätzungen kommen ebenso schnell zustande, wie sie
wechseln. Die Einschätzung von Menschen und Parteien ändert sich bei ihm zu¬
weilen im Verlauf von wenigen Tagen**)."

Die öffentliche Meinung, die so dachte, beurteilte zwar die Persönlichkeit
des Grafen Witte richtig, aber sie hatte keine richtige Vorstellung davon,
was sich in der Umgebung des Zaren zutrug, wußte auch nicht, welchen starken
Einfluß Nikolaus der Zweite, dessen politische Tatkraft überhaupt unterschätzt
wird, auf den Gang der Geschicke Rußlands nahm. So glaubte man auch in
den liberalen und demokratischen Kreisen nicht an die Tatsache, daß der Kampf
noch um die Existenz der Selbstherrschaft und nicht um die Macht der Bureau-




*) Moskowski Jeshenedjelnik v. 27. April 1900, Heft 8 S. 228.
*) Ebenda S. 229
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/354>, abgerufen am 04.01.2025.