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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Iwan Logginowitsch Goremykin

Die Gefahren der Witteschen Finanz- und Wirtschaftspolitik fanden zuerst
richtige Bewertung im Schoße des Ministeriums des Innern, durch den damalige"
Gehilfen Durnowos, Goremykin. Als Spezialist in Bauernangelegenheiten, der
sich in der amtlichen Behandlung dieser Dinge nicht genügen ließ, war er es,
der zuerst die verheerenden Folgen der Jndustriealisierung auf die Hausindustrie,
an deren Erträgen damals wohl annähernd fünfundzwanzig Millionen Menschen
beteiligt waren, nachweisen konnte. Goremykin war es denn auch, der Hilfe
gegen die wirtschaftliche Zentralisationstendenz mit ihren großen sozialen Ge¬
fahren ausschließlich bei der Selbstverwaltung, bei der Sjemstwo, sah. Uner¬
schrocken ging er ans Werk, den Zaren und seinen mächtigen Vertrauensmann
Pobjedonostzew für eine vertrauensvolle Bewertung der Sjemstwo umzustimmen.

Im Jahre 1897 überreichte Goremykin dem Zaren eine Denkschrift, in
der er auf die Notwendigkeit hinwies, der Selbstverwaltung der großrussischen
Gouvernements größere Bewegungsfreiheit und in bestimmten wirtschaftlichen
und sozialen Fragen auch das Recht der Initiative einzuräumen, da die
Bureaukratie nicht mehr imstande sei, den immer wachsenden, an den Staat
herantretenden Aufgaben gerecht zu werden. In den Petersburger bureau¬
kratischen Kreisen, die überhaupt von Goremykins Schrift unterrichtet worden
waren, herrschte Einverständnis, und auch Pobjedonostzew befreundete sich mit
Goremykins Vorschlägen, weil sie den Einfluß der Kirche auf den Schul¬
unterricht nicht schmälern sollten. Der Zar stellte nur eine Frage: wird meine
Stellung als Selbstherrscher berührt? Herr Witte, der sich als Finanzminister
im Geiste schon um Steuererträge betrogen sah, die notwendigerweise hätten
den Sjemstwo zugewiesen werden müssen, wodurch sein Finanzreformwerk ent¬
schieden gefährdet worden wäre, parierte den Schritt Goremykins in geradezu
genialer Weise. Dem Zaren legte er eine Denkschrift vor, in der er zwar
anerkannte, daß die Selbstverwaltung eine durchaus nützliche Einrichtung sei,
daß aber sie und die Selbstherrschaft einen Widerspruch bilden*). Der Zar ver¬
zichtete unter diesen Umständen und um so leichteren Herzens, als Witte
Goremykins Auffassung von der Schwäche der Bureaukratie energisch entgegen¬
trat: er veranlaßte den Zaren, eine Rundfrage bei den Sjemstwo abhalten zu
lassen, auf die hin seitens der Provinz freimütig ausgesprochen werden sollte,
was wirtschaftlich für sie getan werden könne**). Das führte dann zur Be¬
rufung der berühmten "besonderen Kommission" zur Durchsicht der bäuerlichen
Gesetzgebung***), deren Ergebnisse uns in rund siebzig Bänden Sitzungsberichte
vorliegen. Die Petersburger russische Gesellschaft aber, die durch die Schilde¬
rungen der Not der Hausindustriearbeiter erregt war, fing er dadurch ein, daß





*) Die Denkschrift Wildes wurde durch Peter Struve bei Dietz Nachf. in Stuttgart ver¬
öffentlicht,
"*) Witte an den Geschäftsführer des Ministerkomitees am 13. April 1898, Ur. 1639.
Der Geschäftsführer des Ministerkomitees A. Kulomsin an Witte am 9. Juli 1898,
Ur, 1620.
Iwan Logginowitsch Goremykin

Die Gefahren der Witteschen Finanz- und Wirtschaftspolitik fanden zuerst
richtige Bewertung im Schoße des Ministeriums des Innern, durch den damalige»
Gehilfen Durnowos, Goremykin. Als Spezialist in Bauernangelegenheiten, der
sich in der amtlichen Behandlung dieser Dinge nicht genügen ließ, war er es,
der zuerst die verheerenden Folgen der Jndustriealisierung auf die Hausindustrie,
an deren Erträgen damals wohl annähernd fünfundzwanzig Millionen Menschen
beteiligt waren, nachweisen konnte. Goremykin war es denn auch, der Hilfe
gegen die wirtschaftliche Zentralisationstendenz mit ihren großen sozialen Ge¬
fahren ausschließlich bei der Selbstverwaltung, bei der Sjemstwo, sah. Uner¬
schrocken ging er ans Werk, den Zaren und seinen mächtigen Vertrauensmann
Pobjedonostzew für eine vertrauensvolle Bewertung der Sjemstwo umzustimmen.

Im Jahre 1897 überreichte Goremykin dem Zaren eine Denkschrift, in
der er auf die Notwendigkeit hinwies, der Selbstverwaltung der großrussischen
Gouvernements größere Bewegungsfreiheit und in bestimmten wirtschaftlichen
und sozialen Fragen auch das Recht der Initiative einzuräumen, da die
Bureaukratie nicht mehr imstande sei, den immer wachsenden, an den Staat
herantretenden Aufgaben gerecht zu werden. In den Petersburger bureau¬
kratischen Kreisen, die überhaupt von Goremykins Schrift unterrichtet worden
waren, herrschte Einverständnis, und auch Pobjedonostzew befreundete sich mit
Goremykins Vorschlägen, weil sie den Einfluß der Kirche auf den Schul¬
unterricht nicht schmälern sollten. Der Zar stellte nur eine Frage: wird meine
Stellung als Selbstherrscher berührt? Herr Witte, der sich als Finanzminister
im Geiste schon um Steuererträge betrogen sah, die notwendigerweise hätten
den Sjemstwo zugewiesen werden müssen, wodurch sein Finanzreformwerk ent¬
schieden gefährdet worden wäre, parierte den Schritt Goremykins in geradezu
genialer Weise. Dem Zaren legte er eine Denkschrift vor, in der er zwar
anerkannte, daß die Selbstverwaltung eine durchaus nützliche Einrichtung sei,
daß aber sie und die Selbstherrschaft einen Widerspruch bilden*). Der Zar ver¬
zichtete unter diesen Umständen und um so leichteren Herzens, als Witte
Goremykins Auffassung von der Schwäche der Bureaukratie energisch entgegen¬
trat: er veranlaßte den Zaren, eine Rundfrage bei den Sjemstwo abhalten zu
lassen, auf die hin seitens der Provinz freimütig ausgesprochen werden sollte,
was wirtschaftlich für sie getan werden könne**). Das führte dann zur Be¬
rufung der berühmten „besonderen Kommission" zur Durchsicht der bäuerlichen
Gesetzgebung***), deren Ergebnisse uns in rund siebzig Bänden Sitzungsberichte
vorliegen. Die Petersburger russische Gesellschaft aber, die durch die Schilde¬
rungen der Not der Hausindustriearbeiter erregt war, fing er dadurch ein, daß





*) Die Denkschrift Wildes wurde durch Peter Struve bei Dietz Nachf. in Stuttgart ver¬
öffentlicht,
"*) Witte an den Geschäftsführer des Ministerkomitees am 13. April 1898, Ur. 1639.
Der Geschäftsführer des Ministerkomitees A. Kulomsin an Witte am 9. Juli 1898,
Ur, 1620.
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[0352] Iwan Logginowitsch Goremykin Die Gefahren der Witteschen Finanz- und Wirtschaftspolitik fanden zuerst richtige Bewertung im Schoße des Ministeriums des Innern, durch den damalige» Gehilfen Durnowos, Goremykin. Als Spezialist in Bauernangelegenheiten, der sich in der amtlichen Behandlung dieser Dinge nicht genügen ließ, war er es, der zuerst die verheerenden Folgen der Jndustriealisierung auf die Hausindustrie, an deren Erträgen damals wohl annähernd fünfundzwanzig Millionen Menschen beteiligt waren, nachweisen konnte. Goremykin war es denn auch, der Hilfe gegen die wirtschaftliche Zentralisationstendenz mit ihren großen sozialen Ge¬ fahren ausschließlich bei der Selbstverwaltung, bei der Sjemstwo, sah. Uner¬ schrocken ging er ans Werk, den Zaren und seinen mächtigen Vertrauensmann Pobjedonostzew für eine vertrauensvolle Bewertung der Sjemstwo umzustimmen. Im Jahre 1897 überreichte Goremykin dem Zaren eine Denkschrift, in der er auf die Notwendigkeit hinwies, der Selbstverwaltung der großrussischen Gouvernements größere Bewegungsfreiheit und in bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Fragen auch das Recht der Initiative einzuräumen, da die Bureaukratie nicht mehr imstande sei, den immer wachsenden, an den Staat herantretenden Aufgaben gerecht zu werden. In den Petersburger bureau¬ kratischen Kreisen, die überhaupt von Goremykins Schrift unterrichtet worden waren, herrschte Einverständnis, und auch Pobjedonostzew befreundete sich mit Goremykins Vorschlägen, weil sie den Einfluß der Kirche auf den Schul¬ unterricht nicht schmälern sollten. Der Zar stellte nur eine Frage: wird meine Stellung als Selbstherrscher berührt? Herr Witte, der sich als Finanzminister im Geiste schon um Steuererträge betrogen sah, die notwendigerweise hätten den Sjemstwo zugewiesen werden müssen, wodurch sein Finanzreformwerk ent¬ schieden gefährdet worden wäre, parierte den Schritt Goremykins in geradezu genialer Weise. Dem Zaren legte er eine Denkschrift vor, in der er zwar anerkannte, daß die Selbstverwaltung eine durchaus nützliche Einrichtung sei, daß aber sie und die Selbstherrschaft einen Widerspruch bilden*). Der Zar ver¬ zichtete unter diesen Umständen und um so leichteren Herzens, als Witte Goremykins Auffassung von der Schwäche der Bureaukratie energisch entgegen¬ trat: er veranlaßte den Zaren, eine Rundfrage bei den Sjemstwo abhalten zu lassen, auf die hin seitens der Provinz freimütig ausgesprochen werden sollte, was wirtschaftlich für sie getan werden könne**). Das führte dann zur Be¬ rufung der berühmten „besonderen Kommission" zur Durchsicht der bäuerlichen Gesetzgebung***), deren Ergebnisse uns in rund siebzig Bänden Sitzungsberichte vorliegen. Die Petersburger russische Gesellschaft aber, die durch die Schilde¬ rungen der Not der Hausindustriearbeiter erregt war, fing er dadurch ein, daß *) Die Denkschrift Wildes wurde durch Peter Struve bei Dietz Nachf. in Stuttgart ver¬ öffentlicht, "*) Witte an den Geschäftsführer des Ministerkomitees am 13. April 1898, Ur. 1639. Der Geschäftsführer des Ministerkomitees A. Kulomsin an Witte am 9. Juli 1898, Ur, 1620.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/352>, abgerufen am 04.01.2025.