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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Iwan Logginowitsch Goremykin

im Jahre 1895, sich keinen "unerfüllbaren Träumen" hinzugeben, unter
dem geistigen Einfluß der deutschen Sozialdemokraten gestanden. Das schnelle
Aufblühen einer Großindustrie mit Hilfe belgischer, französischer und deutscher
Kapitalien, das starke Zusammenströmen von Fabrikarbeitermassen im Donez¬
becken, in Charkow, Tula, Riga und Petersburg, von Warschau, Lodz und
Petrikau ganz zu schweigen, schaffte den Boden für die sozialistischen Organi¬
sationen. Der Einfluß der sogenannten liberalen Sjemstwopartei, jenes Restes
der liberalen Ära der 1860 er Jahre, deren praktische Ziele sich, noch gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts, bei Lichte besehen, in einer Ausbreitung der
Selbstverwaltung auf Kosten der Bureaukratie erschöpften, wurde zurückgedrängt;
die Sjemstwobewegung selbst glitt in rein revolutionäres Fahrwasser.

Nun besteht die allgemeine Ansicht, daß es in erster Reihe die Petersburger
Bureaukratie, verkörpert durch den jeweiligen Minister des Innern, war, die
sich dem Streben der Sjemstwo besonders und aus eigenerKraft und eigenem Impuls
entgegengesetzt habe. In dieser Auffassung liegt eine Überschätzung der Bedeutung
der Stellung eines russischen Ministers des Innern vor 1905. Der Minister
des Innern hatte keine selbständigen Aufgaben und hatte nur eine höchst be¬
schränkte Initiative. Seine Befugnisse gingen früher nicht über das Maß dessen
hinaus, was etwa in Preußen der Polizeipräsident Berlins zu vertreten hat.
Die Bezeichnung Polizeiminister, die die Liberalen dem russischen Minister des
Innern zu geben pflegten, war sachlich durchaus gerechtfertigt, wenn es auch
keine sachlichen Gründe waren, die das Schlagwort aufkommen ließen. Hieraus
erklärt sich die Macht der Lokalbehörden, der Gouvernementschefs und Polizei¬
meister großer Städte. Die eigentliche Leitung des Staates im Innern und
damit auch alle Initiative lag in den Händen des Heiligsten Synods und beim
Finanzminister, also seit Nikolaus des Zweiten Regierungsantritt tatsächlich in
den Händen der beiden Antipoden Pobjedonostzew und Witte. Dieses Zu¬
sammentreffen der beiden ausgeprägten Persönlichkeiten, das in der Großartigkeit
seiner Folgen einem Aufeinanderprallen zweier Gottheiten, zweier Glaubens¬
bekenntnisse gleichkommt, mußte bei der Abwesenheit einer vermittelnden Gewalt
zu der Krise führen, die wir unter der Bezeichnung "die russische Revolution
von 1905" kennen. Gedecke wurde dieser Kampf durch die nicht nur jedem
Russen unangenehm fühlbare Tätigkeit des Ministeriums des Innern und
durch die Pressekampagne, die Witte dem Auslande gegenüber als den Ver¬
treter des liberalen Prinzips feierte. In Wirklichkeit suchten beide, Pobjedonostzew
und Witte, die jeweiligen Minister des Innern für ihre besonderen staat¬
lichen Zwecke zu nutzen, und zwar beide im Gegensatz zu den seitens
der Liberalen angestrebten Freiheiten, lediglich im Interesse einer Zentral¬
gewalt, von der jeder der beiden eine besondere Auffassung hatte. Der
ganze Unterschied bestand nur darin, daß Pobjedonostzew durch seine kirchlichen
Organe offen einschreiten ließ, während Witte weder Bestechung noch Intrige
scheute, um seine volksfeindliche zentralisierende Politik zu verschleiern.


Iwan Logginowitsch Goremykin

im Jahre 1895, sich keinen „unerfüllbaren Träumen" hinzugeben, unter
dem geistigen Einfluß der deutschen Sozialdemokraten gestanden. Das schnelle
Aufblühen einer Großindustrie mit Hilfe belgischer, französischer und deutscher
Kapitalien, das starke Zusammenströmen von Fabrikarbeitermassen im Donez¬
becken, in Charkow, Tula, Riga und Petersburg, von Warschau, Lodz und
Petrikau ganz zu schweigen, schaffte den Boden für die sozialistischen Organi¬
sationen. Der Einfluß der sogenannten liberalen Sjemstwopartei, jenes Restes
der liberalen Ära der 1860 er Jahre, deren praktische Ziele sich, noch gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts, bei Lichte besehen, in einer Ausbreitung der
Selbstverwaltung auf Kosten der Bureaukratie erschöpften, wurde zurückgedrängt;
die Sjemstwobewegung selbst glitt in rein revolutionäres Fahrwasser.

Nun besteht die allgemeine Ansicht, daß es in erster Reihe die Petersburger
Bureaukratie, verkörpert durch den jeweiligen Minister des Innern, war, die
sich dem Streben der Sjemstwo besonders und aus eigenerKraft und eigenem Impuls
entgegengesetzt habe. In dieser Auffassung liegt eine Überschätzung der Bedeutung
der Stellung eines russischen Ministers des Innern vor 1905. Der Minister
des Innern hatte keine selbständigen Aufgaben und hatte nur eine höchst be¬
schränkte Initiative. Seine Befugnisse gingen früher nicht über das Maß dessen
hinaus, was etwa in Preußen der Polizeipräsident Berlins zu vertreten hat.
Die Bezeichnung Polizeiminister, die die Liberalen dem russischen Minister des
Innern zu geben pflegten, war sachlich durchaus gerechtfertigt, wenn es auch
keine sachlichen Gründe waren, die das Schlagwort aufkommen ließen. Hieraus
erklärt sich die Macht der Lokalbehörden, der Gouvernementschefs und Polizei¬
meister großer Städte. Die eigentliche Leitung des Staates im Innern und
damit auch alle Initiative lag in den Händen des Heiligsten Synods und beim
Finanzminister, also seit Nikolaus des Zweiten Regierungsantritt tatsächlich in
den Händen der beiden Antipoden Pobjedonostzew und Witte. Dieses Zu¬
sammentreffen der beiden ausgeprägten Persönlichkeiten, das in der Großartigkeit
seiner Folgen einem Aufeinanderprallen zweier Gottheiten, zweier Glaubens¬
bekenntnisse gleichkommt, mußte bei der Abwesenheit einer vermittelnden Gewalt
zu der Krise führen, die wir unter der Bezeichnung „die russische Revolution
von 1905" kennen. Gedecke wurde dieser Kampf durch die nicht nur jedem
Russen unangenehm fühlbare Tätigkeit des Ministeriums des Innern und
durch die Pressekampagne, die Witte dem Auslande gegenüber als den Ver¬
treter des liberalen Prinzips feierte. In Wirklichkeit suchten beide, Pobjedonostzew
und Witte, die jeweiligen Minister des Innern für ihre besonderen staat¬
lichen Zwecke zu nutzen, und zwar beide im Gegensatz zu den seitens
der Liberalen angestrebten Freiheiten, lediglich im Interesse einer Zentral¬
gewalt, von der jeder der beiden eine besondere Auffassung hatte. Der
ganze Unterschied bestand nur darin, daß Pobjedonostzew durch seine kirchlichen
Organe offen einschreiten ließ, während Witte weder Bestechung noch Intrige
scheute, um seine volksfeindliche zentralisierende Politik zu verschleiern.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/351>, abgerufen am 01.01.2025.