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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Politik oder die innere Politik die als die wichtigsten angesehenen Auf¬
gaben stellt.

Heute darf nur soviel als sicher festgestellt werden, daß es, entgegen den
aus Nußland kommenden Nachrichten, die Finanzwirtschaft und der Brannt¬
weinkonsum sicher nicht sind, die den Ministerwechsel veranlaßt haben: die Ein-
nahmen aus dem Branntweinmonopol bildeten schon seit mehr als zwölf Jahren
das Fundament des russischen Budgets, und niemand in Rußland hat sich darüber
so sittlich entrüstet, daß man je daran gedacht hätte, diese solide Grundlage an¬
zutasten. Für das Ausland und zur Beruhigung einiger ängstlicher Gemüter
wurden die famosen Nüchternheitskuratorien gegründet, deren Sitzungen wohl
vornehmlich dazu da waren, festzustellen, daß die alte Smirnowka besser war
als der Monopolschnaps Wildes. Im übrigen hat das Branntweinmonopol
zweifellos zahlreiche, dem Schnapshandel anhaftende Mängel beseitigt. Wenn also
Witte von seinen Berliner Pressetrabanten als der Sturzer Kokowzows hingestellt
wird, so bedarf solche Auffassung sehr der Bestätigung. Mich will es bedünken,
daß die bevorstehenden Ministerernennungen in zwei Richtungen ausschlaggebend
sein werden: Stellung der russischen Regierung zu Orientfragen und damit zu
Österreich-Ungarn und Stellung zur Agrarfrage.

Bezüglich der Stolypinschen Agrarreform herrscht in Rußland gegenwärtig
etwa dieselbe Stimmung, wie gegen Ende der 1860er Jahre bezüglich der
Folgen der Bauernbefreiung. Der russische Großgrundbesitz als Ganzes genommen
hat vorläufig unter den Folgen der Reform schwer zu leiden, und das um so
mehr, als gleichzeitig industrielle Hochkonjunktur die landwirtschaftlichen Arbeits¬
kräfte verringert und verteuert. Wie bei uns suchen die russischen Großagrarier
das Tempo der inneren Kolonisation nach Kräften zu verlangsamen, was nur
möglich sein wird durch gleichzeitig bremsende Gesetze auf politischem Gebiet.
Nun aber hat man die Macht und es wäre unpraktisch, sie nicht zu nutzen.
Es ist also nicht ausgeschlossen, daß, ähnlich wie im Jahre 1868, eine stärkere
Reaktion im Innern einsetzt, begleitet von einer amtlich zunächst nicht öffentlich
unterstützten nationalistischen Agitation, die sich gegen die Habsburgische
Monarchie richtet, um dadurch, ähnlich wie in den 1870er Jahren, die Unzu¬
friedenheit im Innern nach außen abzulenken.

Aus den Reden, die jüngst im russischen Oberhause gehalten wurden,
könnte man folgern, daß die Orientpolitik den führenden Kreisen am meisten
am Herzen liegt, um so mehr, als die russische Diplomatie seit Jahren auf der
Balkanhalbinsel Niederlage auf Niederlage erlitten. Auch ein scheinbar unbe¬
deutendes Detail lenkt die Beobachtung in dieser Richtung: der Sprachen¬
streit der Juden in Palästina. Dem Fernerstehenden wird es fast wie
ein Treppenwitz der Weltgeschichte erscheinen, daß dieselben jüdischen Kreise,
die seit Jahrzehnten im heftigsten Kampf gegen die russische Negierung stehen,
nunmehr die Geschäfte dieser Negierung in der asiatischen Türkei besorgen müssen:
die Zionisten I Der sogenannte Sprachenstreit in Palästina, der zu einer offenen


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Politik oder die innere Politik die als die wichtigsten angesehenen Auf¬
gaben stellt.

Heute darf nur soviel als sicher festgestellt werden, daß es, entgegen den
aus Nußland kommenden Nachrichten, die Finanzwirtschaft und der Brannt¬
weinkonsum sicher nicht sind, die den Ministerwechsel veranlaßt haben: die Ein-
nahmen aus dem Branntweinmonopol bildeten schon seit mehr als zwölf Jahren
das Fundament des russischen Budgets, und niemand in Rußland hat sich darüber
so sittlich entrüstet, daß man je daran gedacht hätte, diese solide Grundlage an¬
zutasten. Für das Ausland und zur Beruhigung einiger ängstlicher Gemüter
wurden die famosen Nüchternheitskuratorien gegründet, deren Sitzungen wohl
vornehmlich dazu da waren, festzustellen, daß die alte Smirnowka besser war
als der Monopolschnaps Wildes. Im übrigen hat das Branntweinmonopol
zweifellos zahlreiche, dem Schnapshandel anhaftende Mängel beseitigt. Wenn also
Witte von seinen Berliner Pressetrabanten als der Sturzer Kokowzows hingestellt
wird, so bedarf solche Auffassung sehr der Bestätigung. Mich will es bedünken,
daß die bevorstehenden Ministerernennungen in zwei Richtungen ausschlaggebend
sein werden: Stellung der russischen Regierung zu Orientfragen und damit zu
Österreich-Ungarn und Stellung zur Agrarfrage.

Bezüglich der Stolypinschen Agrarreform herrscht in Rußland gegenwärtig
etwa dieselbe Stimmung, wie gegen Ende der 1860er Jahre bezüglich der
Folgen der Bauernbefreiung. Der russische Großgrundbesitz als Ganzes genommen
hat vorläufig unter den Folgen der Reform schwer zu leiden, und das um so
mehr, als gleichzeitig industrielle Hochkonjunktur die landwirtschaftlichen Arbeits¬
kräfte verringert und verteuert. Wie bei uns suchen die russischen Großagrarier
das Tempo der inneren Kolonisation nach Kräften zu verlangsamen, was nur
möglich sein wird durch gleichzeitig bremsende Gesetze auf politischem Gebiet.
Nun aber hat man die Macht und es wäre unpraktisch, sie nicht zu nutzen.
Es ist also nicht ausgeschlossen, daß, ähnlich wie im Jahre 1868, eine stärkere
Reaktion im Innern einsetzt, begleitet von einer amtlich zunächst nicht öffentlich
unterstützten nationalistischen Agitation, die sich gegen die Habsburgische
Monarchie richtet, um dadurch, ähnlich wie in den 1870er Jahren, die Unzu¬
friedenheit im Innern nach außen abzulenken.

Aus den Reden, die jüngst im russischen Oberhause gehalten wurden,
könnte man folgern, daß die Orientpolitik den führenden Kreisen am meisten
am Herzen liegt, um so mehr, als die russische Diplomatie seit Jahren auf der
Balkanhalbinsel Niederlage auf Niederlage erlitten. Auch ein scheinbar unbe¬
deutendes Detail lenkt die Beobachtung in dieser Richtung: der Sprachen¬
streit der Juden in Palästina. Dem Fernerstehenden wird es fast wie
ein Treppenwitz der Weltgeschichte erscheinen, daß dieselben jüdischen Kreise,
die seit Jahrzehnten im heftigsten Kampf gegen die russische Negierung stehen,
nunmehr die Geschäfte dieser Negierung in der asiatischen Türkei besorgen müssen:
die Zionisten I Der sogenannte Sprachenstreit in Palästina, der zu einer offenen


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[0343] Reichsspicgel Politik oder die innere Politik die als die wichtigsten angesehenen Auf¬ gaben stellt. Heute darf nur soviel als sicher festgestellt werden, daß es, entgegen den aus Nußland kommenden Nachrichten, die Finanzwirtschaft und der Brannt¬ weinkonsum sicher nicht sind, die den Ministerwechsel veranlaßt haben: die Ein- nahmen aus dem Branntweinmonopol bildeten schon seit mehr als zwölf Jahren das Fundament des russischen Budgets, und niemand in Rußland hat sich darüber so sittlich entrüstet, daß man je daran gedacht hätte, diese solide Grundlage an¬ zutasten. Für das Ausland und zur Beruhigung einiger ängstlicher Gemüter wurden die famosen Nüchternheitskuratorien gegründet, deren Sitzungen wohl vornehmlich dazu da waren, festzustellen, daß die alte Smirnowka besser war als der Monopolschnaps Wildes. Im übrigen hat das Branntweinmonopol zweifellos zahlreiche, dem Schnapshandel anhaftende Mängel beseitigt. Wenn also Witte von seinen Berliner Pressetrabanten als der Sturzer Kokowzows hingestellt wird, so bedarf solche Auffassung sehr der Bestätigung. Mich will es bedünken, daß die bevorstehenden Ministerernennungen in zwei Richtungen ausschlaggebend sein werden: Stellung der russischen Regierung zu Orientfragen und damit zu Österreich-Ungarn und Stellung zur Agrarfrage. Bezüglich der Stolypinschen Agrarreform herrscht in Rußland gegenwärtig etwa dieselbe Stimmung, wie gegen Ende der 1860er Jahre bezüglich der Folgen der Bauernbefreiung. Der russische Großgrundbesitz als Ganzes genommen hat vorläufig unter den Folgen der Reform schwer zu leiden, und das um so mehr, als gleichzeitig industrielle Hochkonjunktur die landwirtschaftlichen Arbeits¬ kräfte verringert und verteuert. Wie bei uns suchen die russischen Großagrarier das Tempo der inneren Kolonisation nach Kräften zu verlangsamen, was nur möglich sein wird durch gleichzeitig bremsende Gesetze auf politischem Gebiet. Nun aber hat man die Macht und es wäre unpraktisch, sie nicht zu nutzen. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß, ähnlich wie im Jahre 1868, eine stärkere Reaktion im Innern einsetzt, begleitet von einer amtlich zunächst nicht öffentlich unterstützten nationalistischen Agitation, die sich gegen die Habsburgische Monarchie richtet, um dadurch, ähnlich wie in den 1870er Jahren, die Unzu¬ friedenheit im Innern nach außen abzulenken. Aus den Reden, die jüngst im russischen Oberhause gehalten wurden, könnte man folgern, daß die Orientpolitik den führenden Kreisen am meisten am Herzen liegt, um so mehr, als die russische Diplomatie seit Jahren auf der Balkanhalbinsel Niederlage auf Niederlage erlitten. Auch ein scheinbar unbe¬ deutendes Detail lenkt die Beobachtung in dieser Richtung: der Sprachen¬ streit der Juden in Palästina. Dem Fernerstehenden wird es fast wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte erscheinen, daß dieselben jüdischen Kreise, die seit Jahrzehnten im heftigsten Kampf gegen die russische Negierung stehen, nunmehr die Geschäfte dieser Negierung in der asiatischen Türkei besorgen müssen: die Zionisten I Der sogenannte Sprachenstreit in Palästina, der zu einer offenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/343>, abgerufen am 01.01.2025.