Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Rudel Lues zu träumen und zu dichtenI spräche über drückende "Komplexe" verschafft, mit der dauernden Stütze und Ohne den beschreibenden und kritischen Umweg, den wir zurücklegen mußten, Rudel Lues zu träumen und zu dichtenI spräche über drückende „Komplexe" verschafft, mit der dauernden Stütze und Ohne den beschreibenden und kritischen Umweg, den wir zurücklegen mußten, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0315" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327781"/> <fw type="header" place="top"> Rudel Lues zu träumen und zu dichtenI</fw><lb/> <p xml:id="ID_1485" prev="#ID_1484"> spräche über drückende „Komplexe" verschafft, mit der dauernden Stütze und<lb/> erziehenden Hilfe, die der Kranke im Kampfe gegen seine Anlagen findet u. a. in.<lb/> Therapeutische Erfolge werden ja auch auf andere Weise erreicht; sie allein sind<lb/> nicht imstande, die durch Bewußtseinstatsachen nicht begründete Anschauung<lb/> Freuds zu beweisen". Von demselben Autor wird mit erfreulicher Deutlichkeit<lb/> die Freudsche Psychologie als ein „Rückfall in vorwissenschastliche Auffassungs¬<lb/> stufen", die Freudsche Deutungskunst als eine „wahre Karrikatur eines wissen¬<lb/> schaftlichen Verfahrens" bezeichnet. —</p><lb/> <p xml:id="ID_1486" next="#ID_1487"> Ohne den beschreibenden und kritischen Umweg, den wir zurücklegen mußten,<lb/> ist es unmöglich, denjenigen Teil der Freudliteratur zu verstehen und zu werten,<lb/> der den Dichter und dessen psychologisches Verständnis sich zur Aufgabe gesetzt<lb/> hat. Auf dieses Gebiet hat insbesondere Wilhelm Seckel seine Forschungen aus¬<lb/> gedehnt, nicht ohne die Freudsche Lehre in ziemlich selbständiger Weise fort¬<lb/> zubilden. Während der Freudschüler Rank zwischen dem Künstler und dem<lb/> Psychopathen immerhin noch einen Unterschied gemacht wissen will, stellt Seckel<lb/> in seiner Schrift „Dichtung und Neurose" (Wiesbaden, I. F. Bergmann, 1909)<lb/> die uneingeschränkte Behauptung auf: „Nicht jeder Neurotiker ist ein Dichter.<lb/> Aber jeder Dichter ist ein Neurotiker", und „Der Dichter legt in seinem<lb/> Werk eine Analyse seiner Neurose vor". Diese Lavidarsätze sind nun nicht so<lb/> schlimm gemeint als sie klingen. Man erfährt nämlich von Seckel zur Be¬<lb/> ruhigung, daß „in jedem Menschen ein Stück Neurose schlummert". Wir<lb/> kennen schon die Rolle und Beschaffenheit, die dem Unbewußten im Freudschen<lb/> Sinne zugeschrieben wird, und sind also nicht erstaunt, daß, wie die hysterischen<lb/> Symptome, so auch die der Dichterkrankheit: „Schöpfungsakte des Unbewußten"<lb/> sind. Neurose ist nicht wie Psychose Geisteskrankheit, sondern Seelenkrankheit —<lb/> eine Seelenkrankheit, die nicht Folge von Entartung oder Belastung ist, sondern<lb/> „Folge eines höheren Kulturlebens" und „Grundlage alles Fortschrittes". Im<lb/> Dichter ist das Urtier mit seiner Brunst, seinen infantilen (inzestuösen), seinen<lb/> verbrecherischen Trieben lebendiger als irgendwo. In diesem Sinn darf man nach<lb/> Seckel sagen: „wir verdanken alle Schönheit, die die Künstler der Welt geschaffen<lb/> haben, nur dem Umstände, daß sie krank gewesen sind". Dichter wie Nicht¬<lb/> dichter, die Gegenwartsmenschen überhaupt, leiden an dem Kampf zwischen dem<lb/> „ewig wühlenden Tier" und den Forderungen höherer Kultur: „Und eben die<lb/> Dichter sind es, die diesen Kampf zwischen einst und jetzt, die dieses Durch¬<lb/> einanderwogen von Himmel und Hölle am intensivsten empfinden, weil sie sowohl<lb/> nach oben wie nach unten die Extreme der Menschheit darstellen. Urkräftig in<lb/> ihren Trieben, mit überquellendem Sexualleben ausgestattet, mit einer Leiden¬<lb/> schaft des Begehrens, die über das Normale weit hinausgeht, und mit einer<lb/> Feinheit des Gewissens, mit einer Zartheit der Empfindungen, die das Höchste<lb/> anstreben, sind sie Kämpfer und Dulder für die Menschheit und zahlen mit<lb/> ihrem Unglück das Glück der anderen". Der Grundtrieb aller künstlerischen<lb/> Produktion ist der — Exhibitionismus: „die Freude an der Entblößung, jener</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0315]
Rudel Lues zu träumen und zu dichtenI
spräche über drückende „Komplexe" verschafft, mit der dauernden Stütze und
erziehenden Hilfe, die der Kranke im Kampfe gegen seine Anlagen findet u. a. in.
Therapeutische Erfolge werden ja auch auf andere Weise erreicht; sie allein sind
nicht imstande, die durch Bewußtseinstatsachen nicht begründete Anschauung
Freuds zu beweisen". Von demselben Autor wird mit erfreulicher Deutlichkeit
die Freudsche Psychologie als ein „Rückfall in vorwissenschastliche Auffassungs¬
stufen", die Freudsche Deutungskunst als eine „wahre Karrikatur eines wissen¬
schaftlichen Verfahrens" bezeichnet. —
Ohne den beschreibenden und kritischen Umweg, den wir zurücklegen mußten,
ist es unmöglich, denjenigen Teil der Freudliteratur zu verstehen und zu werten,
der den Dichter und dessen psychologisches Verständnis sich zur Aufgabe gesetzt
hat. Auf dieses Gebiet hat insbesondere Wilhelm Seckel seine Forschungen aus¬
gedehnt, nicht ohne die Freudsche Lehre in ziemlich selbständiger Weise fort¬
zubilden. Während der Freudschüler Rank zwischen dem Künstler und dem
Psychopathen immerhin noch einen Unterschied gemacht wissen will, stellt Seckel
in seiner Schrift „Dichtung und Neurose" (Wiesbaden, I. F. Bergmann, 1909)
die uneingeschränkte Behauptung auf: „Nicht jeder Neurotiker ist ein Dichter.
Aber jeder Dichter ist ein Neurotiker", und „Der Dichter legt in seinem
Werk eine Analyse seiner Neurose vor". Diese Lavidarsätze sind nun nicht so
schlimm gemeint als sie klingen. Man erfährt nämlich von Seckel zur Be¬
ruhigung, daß „in jedem Menschen ein Stück Neurose schlummert". Wir
kennen schon die Rolle und Beschaffenheit, die dem Unbewußten im Freudschen
Sinne zugeschrieben wird, und sind also nicht erstaunt, daß, wie die hysterischen
Symptome, so auch die der Dichterkrankheit: „Schöpfungsakte des Unbewußten"
sind. Neurose ist nicht wie Psychose Geisteskrankheit, sondern Seelenkrankheit —
eine Seelenkrankheit, die nicht Folge von Entartung oder Belastung ist, sondern
„Folge eines höheren Kulturlebens" und „Grundlage alles Fortschrittes". Im
Dichter ist das Urtier mit seiner Brunst, seinen infantilen (inzestuösen), seinen
verbrecherischen Trieben lebendiger als irgendwo. In diesem Sinn darf man nach
Seckel sagen: „wir verdanken alle Schönheit, die die Künstler der Welt geschaffen
haben, nur dem Umstände, daß sie krank gewesen sind". Dichter wie Nicht¬
dichter, die Gegenwartsmenschen überhaupt, leiden an dem Kampf zwischen dem
„ewig wühlenden Tier" und den Forderungen höherer Kultur: „Und eben die
Dichter sind es, die diesen Kampf zwischen einst und jetzt, die dieses Durch¬
einanderwogen von Himmel und Hölle am intensivsten empfinden, weil sie sowohl
nach oben wie nach unten die Extreme der Menschheit darstellen. Urkräftig in
ihren Trieben, mit überquellendem Sexualleben ausgestattet, mit einer Leiden¬
schaft des Begehrens, die über das Normale weit hinausgeht, und mit einer
Feinheit des Gewissens, mit einer Zartheit der Empfindungen, die das Höchste
anstreben, sind sie Kämpfer und Dulder für die Menschheit und zahlen mit
ihrem Unglück das Glück der anderen". Der Grundtrieb aller künstlerischen
Produktion ist der — Exhibitionismus: „die Freude an der Entblößung, jener
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