Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Hütet Lues zu träumen und zu dichten I urgewaltige, übermächtige Trieb, der sich stets mit der Freude an der Ent¬ Hütet Lues zu träumen und zu dichten I urgewaltige, übermächtige Trieb, der sich stets mit der Freude an der Ent¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0316" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327782"/> <fw type="header" place="top"> Hütet Lues zu träumen und zu dichten I</fw><lb/> <p xml:id="ID_1487" prev="#ID_1486" next="#ID_1488"> urgewaltige, übermächtige Trieb, der sich stets mit der Freude an der Ent¬<lb/> blößung des anderen, mit der Lust des Schaums paart. Was machen die<lb/> Dichter anderes, als sich und andere entkleiden? Als sich und andere schauen?<lb/> Dichtung ist psychischer Exhibitionismus." Um diese seine Thesen auch analytisch<lb/> noch eindringlicher zu erweisen, hat Seckel in einer größeren Arbeit, betitelt „Die<lb/> Träume der Dichter" (Wiesbaden, I. F. Bergmann, 1912) eine Fülle persönlicher,<lb/> durch eine Rundfrage erzielter Äußerungen von Dichtern über ihre Träume<lb/> zusammengestellt und in dem bekannten Sinn, das ist sexuell, gedeutet. Er¬<lb/> gänzend erfahren wir hier, daß die Dichter eben als Neurotiker alle an der<lb/> gleichen „Unfähigkeit zur Liebe" leiden. Die Analyse soll bei ihnen ein unheim¬<lb/> liches Schuldgefühl ergeben, das sich auf ihre Gedankensünden, ihre Phantasien<lb/> bezieht: „Ihre Liebe bleibt ewig auf ihr Ich konzentriert. Sie kennen nur die<lb/> Selbstliebe. Das ist ihre Schuld. Was sie mit unheimlicher Stärke fühlen,<lb/> das ist nur der Haß." Wenn die Dichter trotzdem so viel von Liebe dichten,<lb/> um Liebe ringen, so hören wir als Erklärung dafür: „Es bildet sich bei ihnen<lb/> eine Sehnsucht nach der Liebe aus, die sie zu einer immerwährenden Jagd nach<lb/> Liebe treibt. Die Liebe ist die überwertige Idee, das Ideal der Dichter ge¬<lb/> worden." Das gemeinsame Band, das Dichter, Verbrecher, Neurotiker um¬<lb/> schlingt, ist der Glaube an ihre historische Mission, der in den Dichterträumen<lb/> „mehr oder minder verhüllt" immer wieder zum Durchbruch kommen soll. Drei<lb/> Möglichkeiten bleiben dem Menschen mit starken Trieben: „Sich auszuleben,<lb/> dann wird er ein Verbrecher, sie zu unterdrücken und dann wird er ein Neurotiker,<lb/> oder sie in den Schöpfungen auszuleben, und dann wird er ein Künstler." — Es<lb/> würde für Seckel wohl nur ein Zeichen krankhafter Ichsucht sein, wenn die<lb/> Dichter sich gegen dieses Zerrbild ihres Wesens verwahren wollten. Ein Blick<lb/> auf die Geistreichigkeiten, die wir zitierten, genügt, um zu erkennen, daß zu<lb/> ihrer Widerlegung alles das gilt, was bereits zur Freudschen Lehre und Methode<lb/> im allgemeinen gesagt ist. Die Einseitigkeit, man möchte sagen Bewußtseins¬<lb/> verengung, die Seckel zu zwingen scheint, alles nur aus dem engen Winkel des<lb/> Psychiaters zu beurteilen und zu verstehen, springt in die Augen. Diese oder<lb/> jene gut beobachtete Einzeltatsache wird sofort skrupellos verallgemeinert und in<lb/> wilder Kombinationslust zu allesvernichtenden Gesetzen und Formeln verwertet.<lb/> Die „libidinöse Einstellung" auf das Nur-Sexuelle vollendet das Werk der Zer¬<lb/> störung und Verschüttung feinster und interessantester Probleme. Was eine<lb/> besonnene Wissenschaftlichkeit, im Gegensatz zu solcher Sexual- und Neurosen¬<lb/> manie, über die heiklen Zusammenhänge des Schaffens und der Sexualität, des<lb/> Künstlers und des Seelenkranken zu sagen hat, lehren die zwei gründlichen und<lb/> klugen Schriften „Zur Psychologie und Psychopathologie des Dichters" und<lb/> „Sexualität und Dichtung" von Otto Hinrichsen (Wiesbaden, I. F. Bergmann<lb/> 1911 und 1912). Hinrichsen ist selber unter dem Pseudonym Hinnerk als<lb/> Dichter hervorgetreten und deshalb in seiner Doppeleigenschaft als Arzt und<lb/> Schaffender ein besonders berufener Beurteiler. An wirklich tiefdringenden</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0316]
Hütet Lues zu träumen und zu dichten I
urgewaltige, übermächtige Trieb, der sich stets mit der Freude an der Ent¬
blößung des anderen, mit der Lust des Schaums paart. Was machen die
Dichter anderes, als sich und andere entkleiden? Als sich und andere schauen?
Dichtung ist psychischer Exhibitionismus." Um diese seine Thesen auch analytisch
noch eindringlicher zu erweisen, hat Seckel in einer größeren Arbeit, betitelt „Die
Träume der Dichter" (Wiesbaden, I. F. Bergmann, 1912) eine Fülle persönlicher,
durch eine Rundfrage erzielter Äußerungen von Dichtern über ihre Träume
zusammengestellt und in dem bekannten Sinn, das ist sexuell, gedeutet. Er¬
gänzend erfahren wir hier, daß die Dichter eben als Neurotiker alle an der
gleichen „Unfähigkeit zur Liebe" leiden. Die Analyse soll bei ihnen ein unheim¬
liches Schuldgefühl ergeben, das sich auf ihre Gedankensünden, ihre Phantasien
bezieht: „Ihre Liebe bleibt ewig auf ihr Ich konzentriert. Sie kennen nur die
Selbstliebe. Das ist ihre Schuld. Was sie mit unheimlicher Stärke fühlen,
das ist nur der Haß." Wenn die Dichter trotzdem so viel von Liebe dichten,
um Liebe ringen, so hören wir als Erklärung dafür: „Es bildet sich bei ihnen
eine Sehnsucht nach der Liebe aus, die sie zu einer immerwährenden Jagd nach
Liebe treibt. Die Liebe ist die überwertige Idee, das Ideal der Dichter ge¬
worden." Das gemeinsame Band, das Dichter, Verbrecher, Neurotiker um¬
schlingt, ist der Glaube an ihre historische Mission, der in den Dichterträumen
„mehr oder minder verhüllt" immer wieder zum Durchbruch kommen soll. Drei
Möglichkeiten bleiben dem Menschen mit starken Trieben: „Sich auszuleben,
dann wird er ein Verbrecher, sie zu unterdrücken und dann wird er ein Neurotiker,
oder sie in den Schöpfungen auszuleben, und dann wird er ein Künstler." — Es
würde für Seckel wohl nur ein Zeichen krankhafter Ichsucht sein, wenn die
Dichter sich gegen dieses Zerrbild ihres Wesens verwahren wollten. Ein Blick
auf die Geistreichigkeiten, die wir zitierten, genügt, um zu erkennen, daß zu
ihrer Widerlegung alles das gilt, was bereits zur Freudschen Lehre und Methode
im allgemeinen gesagt ist. Die Einseitigkeit, man möchte sagen Bewußtseins¬
verengung, die Seckel zu zwingen scheint, alles nur aus dem engen Winkel des
Psychiaters zu beurteilen und zu verstehen, springt in die Augen. Diese oder
jene gut beobachtete Einzeltatsache wird sofort skrupellos verallgemeinert und in
wilder Kombinationslust zu allesvernichtenden Gesetzen und Formeln verwertet.
Die „libidinöse Einstellung" auf das Nur-Sexuelle vollendet das Werk der Zer¬
störung und Verschüttung feinster und interessantester Probleme. Was eine
besonnene Wissenschaftlichkeit, im Gegensatz zu solcher Sexual- und Neurosen¬
manie, über die heiklen Zusammenhänge des Schaffens und der Sexualität, des
Künstlers und des Seelenkranken zu sagen hat, lehren die zwei gründlichen und
klugen Schriften „Zur Psychologie und Psychopathologie des Dichters" und
„Sexualität und Dichtung" von Otto Hinrichsen (Wiesbaden, I. F. Bergmann
1911 und 1912). Hinrichsen ist selber unter dem Pseudonym Hinnerk als
Dichter hervorgetreten und deshalb in seiner Doppeleigenschaft als Arzt und
Schaffender ein besonders berufener Beurteiler. An wirklich tiefdringenden
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