Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hütet Lues zu träumen und zu dichten!

Schüler Federn mit Stolz berichtet, dieser habe die Vermutung ausgesprochen,
ein guter Teil der Fliegeträume seien Erektionsträume, "da das merkwürdige
und die menschliche Phantasie unausgesetzt beschäftigende Phänomen der
Erektion als Aufhebung der Schwerkraft imponieren muß." Es ist nicht
zweifelhaft, daß für diejenigen, die gerade dieses Problem unausgesetzt und
imponierend beschäftigt, das Unbewußte unbedingt als ein Nursexuelles zu
gelten hat. Für andere und hoffentlich einstweilen noch für die Mehrzahl ist
diese Annahme vollendete Willkür. Richtig ist natürlich, daß unser unbewußtes
Triebleben allerhand unsaubere Neste enthält, die sich wohl auch das Ver¬
gnügen machen, je nach der Anlage des einzelnen, eine Traumvorstellung zu
geben. Wer sich dafür interessiert, findet das Notwendige darüber und über
den entsprechenden Hauptteil der Freudschen Lehre schon im ersten Kapitel des
neunten Buches von Platos "Staat" samt der zugehörigen Jnfantilszene. Aber
von solchen gelegentlichen schamlosen Träumen ist doch noch ein weiter Schritt
bis zur notwendigen Sexualität aller. Schopenhauer meint einmal, man könne
sagen: "der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb". Die Freudsche Lehre, wie
sie heute vorliegt und von den Schülern verbreitet wird, läßt gar keinen Zweifel
darüber, daß dieser Einfall als Grundstein ihres Systems anzusehen ist. Das
unbewußte Sexuelle ist ihr das Geheimnis des Psychologischen, wobei es nur
unverständlich bleibt, warum eigentlich das brünstige Urtier, das wir im Kern
unseres Wesens sind, sich im Traum so zimperlich-maskenhaft benimmt, statt
sich frei auszutoben. Aber wo bliebe ohne diese zarte Rücksicht des Unbewußten
die Freudsche Deutungskunst? Wo bliebe dies ganze künstliche System über¬
haupt? . . . Glücklicherweise findet die Menschheit, auch die von heute, in
ihrem Bewußtsein außer dem Sexuellen noch einiges: die ganze Welt des
Idealen, die sie mit ihren Auswirkungen in Kunst und Religion und Ethik
den Auswirkungen des Urtiers so ziemlich gegenüberstellt und vorzieht -- kraft
des Gesetzes der Wertung! Die Freudsche Theorie ist natürlich als echte
dogmatische Scholastik auch sür diese Tatsache um eine Antwort nicht verlegen:
das Ideale ist nur das sublimierte Geschlechtliche. Zugegeben, daß sich darunter
etwas denken ließe -- sollte es nicht bedeutend wahrscheinlicher sein, daß, da
doch jeder Gedanke psychisch determiniert ist, unsere höchsten Ideen samt der
Wertung, die sie als solche in unserem Bewußtsein genießen, ebenso unmittelbar
dem Unbewußten entspringen wie unsere niedrigsten Gedanken und Träume?
Sollte das Unbewußte nicht das Schöpferische fein, das unendlich viel mehr
enthält und hervorbringt, als nur eben das sexuell"Tierische? Allen diesen Ein¬
wänden gegenüber wird sich die Freudschule in letzter Instanz auf ihre Heil¬
erfolge zurückziehen und berufen. Gegenüber dieser Beweisführung muß es uns
genügen, einen Fachmann wie Jsserlin zu hören: "Ein solcher Erfolg kann sehr
verschiedene Gründe haben -- nicht nur suggestive, sondern auch andere, die
mit der intensiven Beschäftigung des Arztes, welche ja die Psychoanalyse mit
sich bringt, zusammenhängen können, mit der Erleichterung, welche die Aus-


Hütet Lues zu träumen und zu dichten!

Schüler Federn mit Stolz berichtet, dieser habe die Vermutung ausgesprochen,
ein guter Teil der Fliegeträume seien Erektionsträume, „da das merkwürdige
und die menschliche Phantasie unausgesetzt beschäftigende Phänomen der
Erektion als Aufhebung der Schwerkraft imponieren muß." Es ist nicht
zweifelhaft, daß für diejenigen, die gerade dieses Problem unausgesetzt und
imponierend beschäftigt, das Unbewußte unbedingt als ein Nursexuelles zu
gelten hat. Für andere und hoffentlich einstweilen noch für die Mehrzahl ist
diese Annahme vollendete Willkür. Richtig ist natürlich, daß unser unbewußtes
Triebleben allerhand unsaubere Neste enthält, die sich wohl auch das Ver¬
gnügen machen, je nach der Anlage des einzelnen, eine Traumvorstellung zu
geben. Wer sich dafür interessiert, findet das Notwendige darüber und über
den entsprechenden Hauptteil der Freudschen Lehre schon im ersten Kapitel des
neunten Buches von Platos „Staat" samt der zugehörigen Jnfantilszene. Aber
von solchen gelegentlichen schamlosen Träumen ist doch noch ein weiter Schritt
bis zur notwendigen Sexualität aller. Schopenhauer meint einmal, man könne
sagen: „der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb". Die Freudsche Lehre, wie
sie heute vorliegt und von den Schülern verbreitet wird, läßt gar keinen Zweifel
darüber, daß dieser Einfall als Grundstein ihres Systems anzusehen ist. Das
unbewußte Sexuelle ist ihr das Geheimnis des Psychologischen, wobei es nur
unverständlich bleibt, warum eigentlich das brünstige Urtier, das wir im Kern
unseres Wesens sind, sich im Traum so zimperlich-maskenhaft benimmt, statt
sich frei auszutoben. Aber wo bliebe ohne diese zarte Rücksicht des Unbewußten
die Freudsche Deutungskunst? Wo bliebe dies ganze künstliche System über¬
haupt? . . . Glücklicherweise findet die Menschheit, auch die von heute, in
ihrem Bewußtsein außer dem Sexuellen noch einiges: die ganze Welt des
Idealen, die sie mit ihren Auswirkungen in Kunst und Religion und Ethik
den Auswirkungen des Urtiers so ziemlich gegenüberstellt und vorzieht — kraft
des Gesetzes der Wertung! Die Freudsche Theorie ist natürlich als echte
dogmatische Scholastik auch sür diese Tatsache um eine Antwort nicht verlegen:
das Ideale ist nur das sublimierte Geschlechtliche. Zugegeben, daß sich darunter
etwas denken ließe — sollte es nicht bedeutend wahrscheinlicher sein, daß, da
doch jeder Gedanke psychisch determiniert ist, unsere höchsten Ideen samt der
Wertung, die sie als solche in unserem Bewußtsein genießen, ebenso unmittelbar
dem Unbewußten entspringen wie unsere niedrigsten Gedanken und Träume?
Sollte das Unbewußte nicht das Schöpferische fein, das unendlich viel mehr
enthält und hervorbringt, als nur eben das sexuell«Tierische? Allen diesen Ein¬
wänden gegenüber wird sich die Freudschule in letzter Instanz auf ihre Heil¬
erfolge zurückziehen und berufen. Gegenüber dieser Beweisführung muß es uns
genügen, einen Fachmann wie Jsserlin zu hören: „Ein solcher Erfolg kann sehr
verschiedene Gründe haben — nicht nur suggestive, sondern auch andere, die
mit der intensiven Beschäftigung des Arztes, welche ja die Psychoanalyse mit
sich bringt, zusammenhängen können, mit der Erleichterung, welche die Aus-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0314" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327780"/>
          <fw type="header" place="top"> Hütet Lues zu träumen und zu dichten!</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1484" prev="#ID_1483" next="#ID_1485"> Schüler Federn mit Stolz berichtet, dieser habe die Vermutung ausgesprochen,<lb/>
ein guter Teil der Fliegeträume seien Erektionsträume, &#x201E;da das merkwürdige<lb/>
und die menschliche Phantasie unausgesetzt beschäftigende Phänomen der<lb/>
Erektion als Aufhebung der Schwerkraft imponieren muß." Es ist nicht<lb/>
zweifelhaft, daß für diejenigen, die gerade dieses Problem unausgesetzt und<lb/>
imponierend beschäftigt, das Unbewußte unbedingt als ein Nursexuelles zu<lb/>
gelten hat. Für andere und hoffentlich einstweilen noch für die Mehrzahl ist<lb/>
diese Annahme vollendete Willkür. Richtig ist natürlich, daß unser unbewußtes<lb/>
Triebleben allerhand unsaubere Neste enthält, die sich wohl auch das Ver¬<lb/>
gnügen machen, je nach der Anlage des einzelnen, eine Traumvorstellung zu<lb/>
geben. Wer sich dafür interessiert, findet das Notwendige darüber und über<lb/>
den entsprechenden Hauptteil der Freudschen Lehre schon im ersten Kapitel des<lb/>
neunten Buches von Platos &#x201E;Staat" samt der zugehörigen Jnfantilszene. Aber<lb/>
von solchen gelegentlichen schamlosen Träumen ist doch noch ein weiter Schritt<lb/>
bis zur notwendigen Sexualität aller. Schopenhauer meint einmal, man könne<lb/>
sagen: &#x201E;der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb". Die Freudsche Lehre, wie<lb/>
sie heute vorliegt und von den Schülern verbreitet wird, läßt gar keinen Zweifel<lb/>
darüber, daß dieser Einfall als Grundstein ihres Systems anzusehen ist. Das<lb/>
unbewußte Sexuelle ist ihr das Geheimnis des Psychologischen, wobei es nur<lb/>
unverständlich bleibt, warum eigentlich das brünstige Urtier, das wir im Kern<lb/>
unseres Wesens sind, sich im Traum so zimperlich-maskenhaft benimmt, statt<lb/>
sich frei auszutoben. Aber wo bliebe ohne diese zarte Rücksicht des Unbewußten<lb/>
die Freudsche Deutungskunst? Wo bliebe dies ganze künstliche System über¬<lb/>
haupt? . . . Glücklicherweise findet die Menschheit, auch die von heute, in<lb/>
ihrem Bewußtsein außer dem Sexuellen noch einiges: die ganze Welt des<lb/>
Idealen, die sie mit ihren Auswirkungen in Kunst und Religion und Ethik<lb/>
den Auswirkungen des Urtiers so ziemlich gegenüberstellt und vorzieht &#x2014; kraft<lb/>
des Gesetzes der Wertung! Die Freudsche Theorie ist natürlich als echte<lb/>
dogmatische Scholastik auch sür diese Tatsache um eine Antwort nicht verlegen:<lb/>
das Ideale ist nur das sublimierte Geschlechtliche. Zugegeben, daß sich darunter<lb/>
etwas denken ließe &#x2014; sollte es nicht bedeutend wahrscheinlicher sein, daß, da<lb/>
doch jeder Gedanke psychisch determiniert ist, unsere höchsten Ideen samt der<lb/>
Wertung, die sie als solche in unserem Bewußtsein genießen, ebenso unmittelbar<lb/>
dem Unbewußten entspringen wie unsere niedrigsten Gedanken und Träume?<lb/>
Sollte das Unbewußte nicht das Schöpferische fein, das unendlich viel mehr<lb/>
enthält und hervorbringt, als nur eben das sexuell«Tierische? Allen diesen Ein¬<lb/>
wänden gegenüber wird sich die Freudschule in letzter Instanz auf ihre Heil¬<lb/>
erfolge zurückziehen und berufen. Gegenüber dieser Beweisführung muß es uns<lb/>
genügen, einen Fachmann wie Jsserlin zu hören: &#x201E;Ein solcher Erfolg kann sehr<lb/>
verschiedene Gründe haben &#x2014; nicht nur suggestive, sondern auch andere, die<lb/>
mit der intensiven Beschäftigung des Arztes, welche ja die Psychoanalyse mit<lb/>
sich bringt, zusammenhängen können, mit der Erleichterung, welche die Aus-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0314] Hütet Lues zu träumen und zu dichten! Schüler Federn mit Stolz berichtet, dieser habe die Vermutung ausgesprochen, ein guter Teil der Fliegeträume seien Erektionsträume, „da das merkwürdige und die menschliche Phantasie unausgesetzt beschäftigende Phänomen der Erektion als Aufhebung der Schwerkraft imponieren muß." Es ist nicht zweifelhaft, daß für diejenigen, die gerade dieses Problem unausgesetzt und imponierend beschäftigt, das Unbewußte unbedingt als ein Nursexuelles zu gelten hat. Für andere und hoffentlich einstweilen noch für die Mehrzahl ist diese Annahme vollendete Willkür. Richtig ist natürlich, daß unser unbewußtes Triebleben allerhand unsaubere Neste enthält, die sich wohl auch das Ver¬ gnügen machen, je nach der Anlage des einzelnen, eine Traumvorstellung zu geben. Wer sich dafür interessiert, findet das Notwendige darüber und über den entsprechenden Hauptteil der Freudschen Lehre schon im ersten Kapitel des neunten Buches von Platos „Staat" samt der zugehörigen Jnfantilszene. Aber von solchen gelegentlichen schamlosen Träumen ist doch noch ein weiter Schritt bis zur notwendigen Sexualität aller. Schopenhauer meint einmal, man könne sagen: „der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb". Die Freudsche Lehre, wie sie heute vorliegt und von den Schülern verbreitet wird, läßt gar keinen Zweifel darüber, daß dieser Einfall als Grundstein ihres Systems anzusehen ist. Das unbewußte Sexuelle ist ihr das Geheimnis des Psychologischen, wobei es nur unverständlich bleibt, warum eigentlich das brünstige Urtier, das wir im Kern unseres Wesens sind, sich im Traum so zimperlich-maskenhaft benimmt, statt sich frei auszutoben. Aber wo bliebe ohne diese zarte Rücksicht des Unbewußten die Freudsche Deutungskunst? Wo bliebe dies ganze künstliche System über¬ haupt? . . . Glücklicherweise findet die Menschheit, auch die von heute, in ihrem Bewußtsein außer dem Sexuellen noch einiges: die ganze Welt des Idealen, die sie mit ihren Auswirkungen in Kunst und Religion und Ethik den Auswirkungen des Urtiers so ziemlich gegenüberstellt und vorzieht — kraft des Gesetzes der Wertung! Die Freudsche Theorie ist natürlich als echte dogmatische Scholastik auch sür diese Tatsache um eine Antwort nicht verlegen: das Ideale ist nur das sublimierte Geschlechtliche. Zugegeben, daß sich darunter etwas denken ließe — sollte es nicht bedeutend wahrscheinlicher sein, daß, da doch jeder Gedanke psychisch determiniert ist, unsere höchsten Ideen samt der Wertung, die sie als solche in unserem Bewußtsein genießen, ebenso unmittelbar dem Unbewußten entspringen wie unsere niedrigsten Gedanken und Träume? Sollte das Unbewußte nicht das Schöpferische fein, das unendlich viel mehr enthält und hervorbringt, als nur eben das sexuell«Tierische? Allen diesen Ein¬ wänden gegenüber wird sich die Freudschule in letzter Instanz auf ihre Heil¬ erfolge zurückziehen und berufen. Gegenüber dieser Beweisführung muß es uns genügen, einen Fachmann wie Jsserlin zu hören: „Ein solcher Erfolg kann sehr verschiedene Gründe haben — nicht nur suggestive, sondern auch andere, die mit der intensiven Beschäftigung des Arztes, welche ja die Psychoanalyse mit sich bringt, zusammenhängen können, mit der Erleichterung, welche die Aus-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/314
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/314>, abgerufen am 04.01.2025.