Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hütet Lues zu träumen und zu dichten I

gezwungen werden. So raffiniert hier das Unbewußte zuwege geht, um zum
Ziele zu kommen -- der Systematiker Freud übertrifft es noch an raffiniertem
Scharfsinn.

Doch meint Das ist ja nicht möglich! Dieses Unbewußte mit all seiner
fabelhaften Schlauheit ist ja nur ein Geschöpf Freuds, und er kann genau
so viel herausdeuten als er hineingelegt hat; darum weiß er auch auf jeden
Einwand eine Entgegnung, auf jede Frage eine Antwort, zu jedem Rätsel eine
Lösung: sagt der Traum oben, so meint er unten, oder nach Bedarf umgekehrt;
spricht der Traum von Haß, so meint er Liebe, versinnbildlicht er nicht
einen Wunsch, so einen Gegenwunsch --, denn "an der Bildung der Traum¬
gedanken hat die unbewußte Phantasietätigkeit den größten Anteil." Kraepelin,
der ruhig abwägende, disziplinierte Wissenschaftler, hat nur zu recht, wenn er
in feiner "Psychiatrie" zu dem Ergebnis kommt: "Was bisher von dieser
Deutungskunst bekannt geworden ist, läßt es völlig begreiflich erscheinen, daß die
Psychoanalyse niemals Gemeingut werden kann; sie ist offenbar mehr Kunst
als Wissenschaft." Es ist die schrankenloseste Subjektivität des Verfahrens, die
die Freudsche Theorie von vornherein in unheilbaren Gegensatz zum Begriff
einer objektiven Wissenschaft und einer disziplinierten Methode bringt. Das
zweite prinzipielle Bedenken erhebt sich gegen die Sicherheit, mit der Freud die
Psychologie auf die Psychopathie gründet, die Kenntnis des gesunden Seelen-
und Traumlebens aus dem kranken ableitet. So wenig bei seiner Analyse
unterschieden wird, was der Träumer (Patient) freiwillig berichtet, was er unter
dem suggestiven Zwang des Arztes hinzutut, so wenig wird berücksichtigt, in¬
wieweit das Traumleben von Hysterikern anders und einseitiger determiniert ist,
als das von Gesunden. Es ist bequem zu behaupten, die funktionellen
psychischen Vorgänge feien bei beiden die mechanisch-gleichen. Darum handelt
es sich gar nicht. Die Frage ist, ob das Unbewußte des Gesunden ebenso ein¬
seitig-sexuell bestimmt ist, wie das des Hysterikers. Damit kommen wir von
den methodischen Gebrechen zum inhaltlichen Grundgebrechen der Freudschen
Lehre. Sie ist mit bestem Recht von einem klugen Gegner als "Pansexua-
lismus" bezeichnet worden. Freud selbst und seine Schüler fühlen, daß hier
der schwächste Punkt ihrer Stellung ist, aber der schüchterne Hinweis darauf,
daß im Unbewußten auch noch andere als sexuelle Komplexe tätig sein möchten,
schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß von feiten der Psychoanalytiker bis jetzt
so gut wie nichts zur Ergründung nichtsexueller Momente in der unbewußten Psyche
geschehen ist, und daß die Bedeutung der großen Freudschen Entdeckung eben
doch mit der Anerkennung oder Verwerfung dieses Pansexualismus steht und
fällt. Es läßt tief blicken, wenn der Freudschüler Seckel alle Träume nicht nur
sexuell, sondern gleich bisexuell gedeutet wissen will und gelegentlich in den be¬
geisterten Ruf ausbricht: "Wo gäbe es ein Symbol, das -- wenn es die Phan¬
tasie nur einigermaßen erlaubt -- nicht männlich und weiblich zugleich gebraucht
werden könnte!" Es gibt nicht minder zu denken, wenn Freud selbst von seinem


Hütet Lues zu träumen und zu dichten I

gezwungen werden. So raffiniert hier das Unbewußte zuwege geht, um zum
Ziele zu kommen — der Systematiker Freud übertrifft es noch an raffiniertem
Scharfsinn.

Doch meint Das ist ja nicht möglich! Dieses Unbewußte mit all seiner
fabelhaften Schlauheit ist ja nur ein Geschöpf Freuds, und er kann genau
so viel herausdeuten als er hineingelegt hat; darum weiß er auch auf jeden
Einwand eine Entgegnung, auf jede Frage eine Antwort, zu jedem Rätsel eine
Lösung: sagt der Traum oben, so meint er unten, oder nach Bedarf umgekehrt;
spricht der Traum von Haß, so meint er Liebe, versinnbildlicht er nicht
einen Wunsch, so einen Gegenwunsch —, denn „an der Bildung der Traum¬
gedanken hat die unbewußte Phantasietätigkeit den größten Anteil." Kraepelin,
der ruhig abwägende, disziplinierte Wissenschaftler, hat nur zu recht, wenn er
in feiner „Psychiatrie" zu dem Ergebnis kommt: „Was bisher von dieser
Deutungskunst bekannt geworden ist, läßt es völlig begreiflich erscheinen, daß die
Psychoanalyse niemals Gemeingut werden kann; sie ist offenbar mehr Kunst
als Wissenschaft." Es ist die schrankenloseste Subjektivität des Verfahrens, die
die Freudsche Theorie von vornherein in unheilbaren Gegensatz zum Begriff
einer objektiven Wissenschaft und einer disziplinierten Methode bringt. Das
zweite prinzipielle Bedenken erhebt sich gegen die Sicherheit, mit der Freud die
Psychologie auf die Psychopathie gründet, die Kenntnis des gesunden Seelen-
und Traumlebens aus dem kranken ableitet. So wenig bei seiner Analyse
unterschieden wird, was der Träumer (Patient) freiwillig berichtet, was er unter
dem suggestiven Zwang des Arztes hinzutut, so wenig wird berücksichtigt, in¬
wieweit das Traumleben von Hysterikern anders und einseitiger determiniert ist,
als das von Gesunden. Es ist bequem zu behaupten, die funktionellen
psychischen Vorgänge feien bei beiden die mechanisch-gleichen. Darum handelt
es sich gar nicht. Die Frage ist, ob das Unbewußte des Gesunden ebenso ein¬
seitig-sexuell bestimmt ist, wie das des Hysterikers. Damit kommen wir von
den methodischen Gebrechen zum inhaltlichen Grundgebrechen der Freudschen
Lehre. Sie ist mit bestem Recht von einem klugen Gegner als „Pansexua-
lismus" bezeichnet worden. Freud selbst und seine Schüler fühlen, daß hier
der schwächste Punkt ihrer Stellung ist, aber der schüchterne Hinweis darauf,
daß im Unbewußten auch noch andere als sexuelle Komplexe tätig sein möchten,
schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß von feiten der Psychoanalytiker bis jetzt
so gut wie nichts zur Ergründung nichtsexueller Momente in der unbewußten Psyche
geschehen ist, und daß die Bedeutung der großen Freudschen Entdeckung eben
doch mit der Anerkennung oder Verwerfung dieses Pansexualismus steht und
fällt. Es läßt tief blicken, wenn der Freudschüler Seckel alle Träume nicht nur
sexuell, sondern gleich bisexuell gedeutet wissen will und gelegentlich in den be¬
geisterten Ruf ausbricht: „Wo gäbe es ein Symbol, das — wenn es die Phan¬
tasie nur einigermaßen erlaubt — nicht männlich und weiblich zugleich gebraucht
werden könnte!" Es gibt nicht minder zu denken, wenn Freud selbst von seinem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0313" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327779"/>
          <fw type="header" place="top"> Hütet Lues zu träumen und zu dichten I</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1482" prev="#ID_1481"> gezwungen werden. So raffiniert hier das Unbewußte zuwege geht, um zum<lb/>
Ziele zu kommen &#x2014; der Systematiker Freud übertrifft es noch an raffiniertem<lb/>
Scharfsinn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1483" next="#ID_1484"> Doch meint Das ist ja nicht möglich! Dieses Unbewußte mit all seiner<lb/>
fabelhaften Schlauheit ist ja nur ein Geschöpf Freuds, und er kann genau<lb/>
so viel herausdeuten als er hineingelegt hat; darum weiß er auch auf jeden<lb/>
Einwand eine Entgegnung, auf jede Frage eine Antwort, zu jedem Rätsel eine<lb/>
Lösung: sagt der Traum oben, so meint er unten, oder nach Bedarf umgekehrt;<lb/>
spricht der Traum von Haß, so meint er Liebe, versinnbildlicht er nicht<lb/>
einen Wunsch, so einen Gegenwunsch &#x2014;, denn &#x201E;an der Bildung der Traum¬<lb/>
gedanken hat die unbewußte Phantasietätigkeit den größten Anteil." Kraepelin,<lb/>
der ruhig abwägende, disziplinierte Wissenschaftler, hat nur zu recht, wenn er<lb/>
in feiner &#x201E;Psychiatrie" zu dem Ergebnis kommt: &#x201E;Was bisher von dieser<lb/>
Deutungskunst bekannt geworden ist, läßt es völlig begreiflich erscheinen, daß die<lb/>
Psychoanalyse niemals Gemeingut werden kann; sie ist offenbar mehr Kunst<lb/>
als Wissenschaft." Es ist die schrankenloseste Subjektivität des Verfahrens, die<lb/>
die Freudsche Theorie von vornherein in unheilbaren Gegensatz zum Begriff<lb/>
einer objektiven Wissenschaft und einer disziplinierten Methode bringt. Das<lb/>
zweite prinzipielle Bedenken erhebt sich gegen die Sicherheit, mit der Freud die<lb/>
Psychologie auf die Psychopathie gründet, die Kenntnis des gesunden Seelen-<lb/>
und Traumlebens aus dem kranken ableitet. So wenig bei seiner Analyse<lb/>
unterschieden wird, was der Träumer (Patient) freiwillig berichtet, was er unter<lb/>
dem suggestiven Zwang des Arztes hinzutut, so wenig wird berücksichtigt, in¬<lb/>
wieweit das Traumleben von Hysterikern anders und einseitiger determiniert ist,<lb/>
als das von Gesunden. Es ist bequem zu behaupten, die funktionellen<lb/>
psychischen Vorgänge feien bei beiden die mechanisch-gleichen. Darum handelt<lb/>
es sich gar nicht. Die Frage ist, ob das Unbewußte des Gesunden ebenso ein¬<lb/>
seitig-sexuell bestimmt ist, wie das des Hysterikers. Damit kommen wir von<lb/>
den methodischen Gebrechen zum inhaltlichen Grundgebrechen der Freudschen<lb/>
Lehre. Sie ist mit bestem Recht von einem klugen Gegner als &#x201E;Pansexua-<lb/>
lismus" bezeichnet worden. Freud selbst und seine Schüler fühlen, daß hier<lb/>
der schwächste Punkt ihrer Stellung ist, aber der schüchterne Hinweis darauf,<lb/>
daß im Unbewußten auch noch andere als sexuelle Komplexe tätig sein möchten,<lb/>
schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß von feiten der Psychoanalytiker bis jetzt<lb/>
so gut wie nichts zur Ergründung nichtsexueller Momente in der unbewußten Psyche<lb/>
geschehen ist, und daß die Bedeutung der großen Freudschen Entdeckung eben<lb/>
doch mit der Anerkennung oder Verwerfung dieses Pansexualismus steht und<lb/>
fällt. Es läßt tief blicken, wenn der Freudschüler Seckel alle Träume nicht nur<lb/>
sexuell, sondern gleich bisexuell gedeutet wissen will und gelegentlich in den be¬<lb/>
geisterten Ruf ausbricht: &#x201E;Wo gäbe es ein Symbol, das &#x2014; wenn es die Phan¬<lb/>
tasie nur einigermaßen erlaubt &#x2014; nicht männlich und weiblich zugleich gebraucht<lb/>
werden könnte!" Es gibt nicht minder zu denken, wenn Freud selbst von seinem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0313] Hütet Lues zu träumen und zu dichten I gezwungen werden. So raffiniert hier das Unbewußte zuwege geht, um zum Ziele zu kommen — der Systematiker Freud übertrifft es noch an raffiniertem Scharfsinn. Doch meint Das ist ja nicht möglich! Dieses Unbewußte mit all seiner fabelhaften Schlauheit ist ja nur ein Geschöpf Freuds, und er kann genau so viel herausdeuten als er hineingelegt hat; darum weiß er auch auf jeden Einwand eine Entgegnung, auf jede Frage eine Antwort, zu jedem Rätsel eine Lösung: sagt der Traum oben, so meint er unten, oder nach Bedarf umgekehrt; spricht der Traum von Haß, so meint er Liebe, versinnbildlicht er nicht einen Wunsch, so einen Gegenwunsch —, denn „an der Bildung der Traum¬ gedanken hat die unbewußte Phantasietätigkeit den größten Anteil." Kraepelin, der ruhig abwägende, disziplinierte Wissenschaftler, hat nur zu recht, wenn er in feiner „Psychiatrie" zu dem Ergebnis kommt: „Was bisher von dieser Deutungskunst bekannt geworden ist, läßt es völlig begreiflich erscheinen, daß die Psychoanalyse niemals Gemeingut werden kann; sie ist offenbar mehr Kunst als Wissenschaft." Es ist die schrankenloseste Subjektivität des Verfahrens, die die Freudsche Theorie von vornherein in unheilbaren Gegensatz zum Begriff einer objektiven Wissenschaft und einer disziplinierten Methode bringt. Das zweite prinzipielle Bedenken erhebt sich gegen die Sicherheit, mit der Freud die Psychologie auf die Psychopathie gründet, die Kenntnis des gesunden Seelen- und Traumlebens aus dem kranken ableitet. So wenig bei seiner Analyse unterschieden wird, was der Träumer (Patient) freiwillig berichtet, was er unter dem suggestiven Zwang des Arztes hinzutut, so wenig wird berücksichtigt, in¬ wieweit das Traumleben von Hysterikern anders und einseitiger determiniert ist, als das von Gesunden. Es ist bequem zu behaupten, die funktionellen psychischen Vorgänge feien bei beiden die mechanisch-gleichen. Darum handelt es sich gar nicht. Die Frage ist, ob das Unbewußte des Gesunden ebenso ein¬ seitig-sexuell bestimmt ist, wie das des Hysterikers. Damit kommen wir von den methodischen Gebrechen zum inhaltlichen Grundgebrechen der Freudschen Lehre. Sie ist mit bestem Recht von einem klugen Gegner als „Pansexua- lismus" bezeichnet worden. Freud selbst und seine Schüler fühlen, daß hier der schwächste Punkt ihrer Stellung ist, aber der schüchterne Hinweis darauf, daß im Unbewußten auch noch andere als sexuelle Komplexe tätig sein möchten, schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß von feiten der Psychoanalytiker bis jetzt so gut wie nichts zur Ergründung nichtsexueller Momente in der unbewußten Psyche geschehen ist, und daß die Bedeutung der großen Freudschen Entdeckung eben doch mit der Anerkennung oder Verwerfung dieses Pansexualismus steht und fällt. Es läßt tief blicken, wenn der Freudschüler Seckel alle Träume nicht nur sexuell, sondern gleich bisexuell gedeutet wissen will und gelegentlich in den be¬ geisterten Ruf ausbricht: „Wo gäbe es ein Symbol, das — wenn es die Phan¬ tasie nur einigermaßen erlaubt — nicht männlich und weiblich zugleich gebraucht werden könnte!" Es gibt nicht minder zu denken, wenn Freud selbst von seinem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/313
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/313>, abgerufen am 04.01.2025.