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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Hütet Lüch zu träumen und zu dichten!

Gesagten, den offenkundiger Daten des Traumes gegenüber das äußerste
Mißtrauen geboten. Harmlose Träume gibt es ebensowenig wie absurde. Der
Traum hat es eben "faustdick hinter den Ohren". Wir wissen schon, daß nach
Freud jeder Traum eine Wunscherfüllung ist. Diese Definition erweitert sich
dahin: "der Wunsch, welcher sich im Traume darstellt, muß ein infantiler sein",
d. h. "das Träumen ist ein Stück überwundenen Kinderseelenlebens". Das
Infantile ist seinem Wesen nach das bewußtseinsunfähige Sexuelle. Im Leben
des Kindes läßt sich dieses sexuelle Triebleben verhältnismäßig noch am unver¬
hülltesten beobachten. Wir erfahren denn auch von Freud unter anderem, daß
in unserer Vorliebe für die Mutter vor dem Vater, sofern wir Knaben, für
den Vater vor der Mutter, sofern wir Mädchen waren, notwendig die Neigung
unserer unbewußten Seele zum Jnzest, der Haß gegen den sexuellen Mit¬
bewerber sich äußert -- Regungen, die natürlich auch das Verhältnis von Ge¬
schwistern untereinander beeinflussen. Um die notwendige Jnfantilszene in jedem
Traum zu finden, d. h. jeden Traum zu sexualisieren, dazu bedarf es eines
Schlüssels: des Verständnisses der Symbole. Aus naheliegenden Gründen muß
ich es mir hier versagen, auf die Einzelheiten dieser reichhaltigen Symboltechnik
einzugehen. Es sei nur betont, daß sowohl die besonderen, wie die typischen
Träume (Fliege-, Fall-, Zahnreizträume) ohne Ausnahme symbolische Anspielungen
auf die Geschlechtsteile, den Geschlechts- und Geburtsakt und was damit zu¬
sammenhängt, enthalten sollen. Bei der erwähnten Tücke des Traumes genügt
auch meistens die einfache Deutung nicht: der Traum muß "überdeutet" werden,
ja er kann auch durch die mannigfaltigsten Deutungen eigentlich nie ganz aus¬
geschöpft werden, da natürlich die Verbindung mit immer neuen Möglichkeiten
keine Grenze hat. Lumena, 8ummarum: der Traum, der nach der Meinung
der früheren Autoren "eine willkürliche, in der Verlegenheit zusammengebraute
Improvisation" sein sollte, wird für Freud zu einem "heiligen Text", den er
mit dem Zauberschlüssel seiner Deutungskunst, mit dem Wunderwerk seiner
Psychoanalyse als eine endlose Reihe raffiniertester und kompliziertester
Denkleistungen des infantilen Unbewußten unserem staunenden Auge ent¬
ziffert . . .

Jedem denkenden, noch deutlicher freilich jedem einigermaßen zu wissen¬
schaftlichem Denken erzogenen Kopf dürfte bei der vorhergehenden, möglichst
objektiven Schilderung der Freudschen Theorie eines von vornherein klar geworden
sein: daß hier Wahres und Falsches, objektiv Erweisbares und gänzlich
Unermiesenes, Einzelfall und Verallgemeinerung zu einem verwirrenden und
verwirrten Gemenge verarbeitet sind. Wenn je. so ist das Unzulängliche hier
System geworden, und wer nur immer die gebotene, andächtige Vorsicht vor
der unbegrenzten Mannigfaltigkeit und Subtilität des psychischen Lebens mit¬
bringt, sieht mit Schaudern, wie psychische Vorgänge und Erscheinungen von der
feinsten und geheimnisvollster Art mit ebensoviel scharfsinniger Spitzfindigkeit
als robuster Grobschlächtigkeit in das Prokrustesbett dieses Systems hinein-


Hütet Lüch zu träumen und zu dichten!

Gesagten, den offenkundiger Daten des Traumes gegenüber das äußerste
Mißtrauen geboten. Harmlose Träume gibt es ebensowenig wie absurde. Der
Traum hat es eben „faustdick hinter den Ohren". Wir wissen schon, daß nach
Freud jeder Traum eine Wunscherfüllung ist. Diese Definition erweitert sich
dahin: „der Wunsch, welcher sich im Traume darstellt, muß ein infantiler sein",
d. h. „das Träumen ist ein Stück überwundenen Kinderseelenlebens". Das
Infantile ist seinem Wesen nach das bewußtseinsunfähige Sexuelle. Im Leben
des Kindes läßt sich dieses sexuelle Triebleben verhältnismäßig noch am unver¬
hülltesten beobachten. Wir erfahren denn auch von Freud unter anderem, daß
in unserer Vorliebe für die Mutter vor dem Vater, sofern wir Knaben, für
den Vater vor der Mutter, sofern wir Mädchen waren, notwendig die Neigung
unserer unbewußten Seele zum Jnzest, der Haß gegen den sexuellen Mit¬
bewerber sich äußert — Regungen, die natürlich auch das Verhältnis von Ge¬
schwistern untereinander beeinflussen. Um die notwendige Jnfantilszene in jedem
Traum zu finden, d. h. jeden Traum zu sexualisieren, dazu bedarf es eines
Schlüssels: des Verständnisses der Symbole. Aus naheliegenden Gründen muß
ich es mir hier versagen, auf die Einzelheiten dieser reichhaltigen Symboltechnik
einzugehen. Es sei nur betont, daß sowohl die besonderen, wie die typischen
Träume (Fliege-, Fall-, Zahnreizträume) ohne Ausnahme symbolische Anspielungen
auf die Geschlechtsteile, den Geschlechts- und Geburtsakt und was damit zu¬
sammenhängt, enthalten sollen. Bei der erwähnten Tücke des Traumes genügt
auch meistens die einfache Deutung nicht: der Traum muß „überdeutet" werden,
ja er kann auch durch die mannigfaltigsten Deutungen eigentlich nie ganz aus¬
geschöpft werden, da natürlich die Verbindung mit immer neuen Möglichkeiten
keine Grenze hat. Lumena, 8ummarum: der Traum, der nach der Meinung
der früheren Autoren „eine willkürliche, in der Verlegenheit zusammengebraute
Improvisation" sein sollte, wird für Freud zu einem „heiligen Text", den er
mit dem Zauberschlüssel seiner Deutungskunst, mit dem Wunderwerk seiner
Psychoanalyse als eine endlose Reihe raffiniertester und kompliziertester
Denkleistungen des infantilen Unbewußten unserem staunenden Auge ent¬
ziffert . . .

Jedem denkenden, noch deutlicher freilich jedem einigermaßen zu wissen¬
schaftlichem Denken erzogenen Kopf dürfte bei der vorhergehenden, möglichst
objektiven Schilderung der Freudschen Theorie eines von vornherein klar geworden
sein: daß hier Wahres und Falsches, objektiv Erweisbares und gänzlich
Unermiesenes, Einzelfall und Verallgemeinerung zu einem verwirrenden und
verwirrten Gemenge verarbeitet sind. Wenn je. so ist das Unzulängliche hier
System geworden, und wer nur immer die gebotene, andächtige Vorsicht vor
der unbegrenzten Mannigfaltigkeit und Subtilität des psychischen Lebens mit¬
bringt, sieht mit Schaudern, wie psychische Vorgänge und Erscheinungen von der
feinsten und geheimnisvollster Art mit ebensoviel scharfsinniger Spitzfindigkeit
als robuster Grobschlächtigkeit in das Prokrustesbett dieses Systems hinein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/312>, abgerufen am 04.01.2025.