Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Zukunftsfragen des Parlamentarismus der von den romanischen Nationen übernommenen Doktrin, praktisch -- wenig¬ Aber die Gesellschaft läßt sich nicht so einfach umbringen, am allerwenigsten Die theoretische Gleichheit der Individuen vermag naturgemäß die tatsäch¬ Zukunftsfragen des Parlamentarismus der von den romanischen Nationen übernommenen Doktrin, praktisch — wenig¬ Aber die Gesellschaft läßt sich nicht so einfach umbringen, am allerwenigsten Die theoretische Gleichheit der Individuen vermag naturgemäß die tatsäch¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327773"/> <fw type="header" place="top"> Zukunftsfragen des Parlamentarismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_1471" prev="#ID_1470"> der von den romanischen Nationen übernommenen Doktrin, praktisch — wenig¬<lb/> stens in Preußen — mit Hilfe der Revolution. Deshalb suchte er nicht die<lb/> Anknüpfung an das Vergangene, sondern er floh sie. Näher als die Prüfung<lb/> des richtigen Weges zum Ziel lag ihm die Wegräumung alles dessen, was er<lb/> als Hindernis, sich überhaupt auf den Weg zu machen, empfand. Deshalb war<lb/> in diesen Bestrebungen kein Platz für Steins Ideen, die nur insoweit Aner¬<lb/> kennung fanden, als sie geholfen hatten, den Weg für neue Freiheiten zu bahnen.<lb/> Das war aber nur ein äußerlicher Zusammenhang; die Zeitideen, aus denen<lb/> das neue Verfassungsleben erwuchs, suchten vornehmlich die Aufhebung der<lb/> Schranken, die die historisch gewordene Gesellschaft aufwies, und das konnte nur<lb/> geschehen durch eine Auflösung der Gesellschaft — man möchte lieber sagen:<lb/> eine Atomisierung der Gesellschaft — überhaupt. Diesem Bestreben kam die<lb/> herrschende Staatsidee entgegen. Der auf reinen Rechtsideen aufgebaute absolute<lb/> Staat, der sich selbst erst im Kampf gegen das alte ständische Element entwickelt<lb/> hatte, fand seinen bezeichnendsten Ausdruck im Bureaukratismus. An dieser<lb/> Feststellung ändert sich nichts, auch wenn man weiß, daß im absoluten Staat<lb/> der büreaukratische Charakter der Staatsgewalt gemildert werden konnte und oft<lb/> sehr stark gemildert wurde durch die persönliche Einwirkung des Monarchen. Der<lb/> Bureaukratismus kennt nur Organe der Staatsgewalt und Staatsbürger — oder<lb/> Untertanen, wenn man die staatsrechtliche Anschauung der Zeit stilgerecht fest¬<lb/> halten will. Kein Wunder, daß auch der Staatsbürger jener Zeiten, als er<lb/> Befreiung von unhaltbaren Schranken erkämpfen wollte, keine Unterschiede zwischen<lb/> sich und seinesgleichen anerkannte, daß er in der theoretischen Gleichheit stecken<lb/> blieb und als Objekt der staatlichen Einrichtungen nur das Individuum gelten ließ.</p><lb/> <p xml:id="ID_1472"> Aber die Gesellschaft läßt sich nicht so einfach umbringen, am allerwenigsten<lb/> durch Beschlüsse und Theorien. Man kann auch einem Baum nicht anbefehlen,<lb/> daß er sich ohne Blätter behelfen soll. Der Volkskörper gliedert sich immer<lb/> wieder nach den praktischen Lebensbedürfnissen, die sich in erster Linie aus den<lb/> wirtschaftlichen Verhältnissen des Landes, daneben aber auch aus den im<lb/> Volkscharakter enthaltenen Neigungen ergeben. Das bringt immer wieder die<lb/> natürliche Ordnung hervor, die wir eben die Gesellschaft nennen. Will der<lb/> Staat sie auf theoretischem Wege mit Hilfe von Paragraphen wegdisputieren,<lb/> so rächt sie sich über kurz und lang durch die Disharmonie, die notwendig<lb/> einmal — früher oder später — zwischen dem offiziell politischen Leben und<lb/> dem wirklichen Volksleben entstehen muß.</p><lb/> <p xml:id="ID_1473" next="#ID_1474"> Die theoretische Gleichheit der Individuen vermag naturgemäß die tatsäch¬<lb/> liche Ungleichheit nicht aufzuheben; sie beseitigt nur die Hemmungen, die sonst<lb/> vielleicht zugunsten einer mehr vernunftgemäßen Regelung der unvermeidlichen<lb/> Ungleichheit in Tätigkeit treten können. Dem Fehlen dieser Hemmungen ver¬<lb/> danken wir das einseitige Übergewicht des Kapitalismus, das unser öffentliches<lb/> Leben unter einem ungesunden Druck hält, so sehr man andere Wirkungen der<lb/> freien Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte sonst schätzen mag. Der Widerspruch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0307]
Zukunftsfragen des Parlamentarismus
der von den romanischen Nationen übernommenen Doktrin, praktisch — wenig¬
stens in Preußen — mit Hilfe der Revolution. Deshalb suchte er nicht die
Anknüpfung an das Vergangene, sondern er floh sie. Näher als die Prüfung
des richtigen Weges zum Ziel lag ihm die Wegräumung alles dessen, was er
als Hindernis, sich überhaupt auf den Weg zu machen, empfand. Deshalb war
in diesen Bestrebungen kein Platz für Steins Ideen, die nur insoweit Aner¬
kennung fanden, als sie geholfen hatten, den Weg für neue Freiheiten zu bahnen.
Das war aber nur ein äußerlicher Zusammenhang; die Zeitideen, aus denen
das neue Verfassungsleben erwuchs, suchten vornehmlich die Aufhebung der
Schranken, die die historisch gewordene Gesellschaft aufwies, und das konnte nur
geschehen durch eine Auflösung der Gesellschaft — man möchte lieber sagen:
eine Atomisierung der Gesellschaft — überhaupt. Diesem Bestreben kam die
herrschende Staatsidee entgegen. Der auf reinen Rechtsideen aufgebaute absolute
Staat, der sich selbst erst im Kampf gegen das alte ständische Element entwickelt
hatte, fand seinen bezeichnendsten Ausdruck im Bureaukratismus. An dieser
Feststellung ändert sich nichts, auch wenn man weiß, daß im absoluten Staat
der büreaukratische Charakter der Staatsgewalt gemildert werden konnte und oft
sehr stark gemildert wurde durch die persönliche Einwirkung des Monarchen. Der
Bureaukratismus kennt nur Organe der Staatsgewalt und Staatsbürger — oder
Untertanen, wenn man die staatsrechtliche Anschauung der Zeit stilgerecht fest¬
halten will. Kein Wunder, daß auch der Staatsbürger jener Zeiten, als er
Befreiung von unhaltbaren Schranken erkämpfen wollte, keine Unterschiede zwischen
sich und seinesgleichen anerkannte, daß er in der theoretischen Gleichheit stecken
blieb und als Objekt der staatlichen Einrichtungen nur das Individuum gelten ließ.
Aber die Gesellschaft läßt sich nicht so einfach umbringen, am allerwenigsten
durch Beschlüsse und Theorien. Man kann auch einem Baum nicht anbefehlen,
daß er sich ohne Blätter behelfen soll. Der Volkskörper gliedert sich immer
wieder nach den praktischen Lebensbedürfnissen, die sich in erster Linie aus den
wirtschaftlichen Verhältnissen des Landes, daneben aber auch aus den im
Volkscharakter enthaltenen Neigungen ergeben. Das bringt immer wieder die
natürliche Ordnung hervor, die wir eben die Gesellschaft nennen. Will der
Staat sie auf theoretischem Wege mit Hilfe von Paragraphen wegdisputieren,
so rächt sie sich über kurz und lang durch die Disharmonie, die notwendig
einmal — früher oder später — zwischen dem offiziell politischen Leben und
dem wirklichen Volksleben entstehen muß.
Die theoretische Gleichheit der Individuen vermag naturgemäß die tatsäch¬
liche Ungleichheit nicht aufzuheben; sie beseitigt nur die Hemmungen, die sonst
vielleicht zugunsten einer mehr vernunftgemäßen Regelung der unvermeidlichen
Ungleichheit in Tätigkeit treten können. Dem Fehlen dieser Hemmungen ver¬
danken wir das einseitige Übergewicht des Kapitalismus, das unser öffentliches
Leben unter einem ungesunden Druck hält, so sehr man andere Wirkungen der
freien Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte sonst schätzen mag. Der Widerspruch
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