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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Zukunftsfragen des Parlamentarismus

zwischen diesem Druck, der als natürliches Ergebnis der politischen Ordnung
erscheint, und der theoretischen Gleichberechtigung aller Staatsbürger, die durch
dieselbe Ordnung verkündet wird, muß sich vor allem da geltend machen, wo
das Übergewicht des Kapitalismus am schärfsten fühlbar wird, d. h. am Prole¬
tariat. So ist die scheinbar paradoxe Lage entstanden, daß gerade das Leugnen
aller Klassenunterschiede, worauf unsere Staatsordnung beruht, den Stand, der
von allen der jüngste und modernste ist, veranlaßt hat, sich im schärfsten Klassen¬
bewußtsein zusammenzuschließen und sich als Todfeind der Staatsordnung zu
gebärden. Durch diese Erfahrung ist unser politisches Leben lange Zeit wie
hypnotisiert gewesen, so daß niemand den Ausweg ernstlich zu suchen wagte.

Der Ausweg kann meiner Überzeugung nach nur in natürlicher organischer
Entwicklung gefunden werden, indem man den Keimen gesellschaftlicher Neu¬
bildungen erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Diese bilden sich schon jetzt sichtbar
infolge des zum unabweisbaren Bedürfnis gewordenen Zusammenschlusses der
verschiedenen Erwerbsgruppen, in denen sich die Elemente neuer Stände dar¬
stellen. Nur soll man sich, wie ich glaube, hüten, diese Interessenvertretungen
schon jetzt als fertige Stände zu betrachten, und das ist es, was ich den Aus¬
führungen des Grafen Stolberg entgegenhalten wollte. Soweit sind wir noch
lange nicht. Noch sind diese neuen Interessengruppen nicht klar und fest genug
abgegrenzt; das zeigte sich auch in der künstlichen Einteilung des Grafen Stol¬
berg, der doch offensichtlich sehr scharf und gründlich darüber nachgedacht hat.
Noch haben sie nicht die Kraft, durch ihre Stellung zur Allgemeinheit und durch
neue Ideale die alten Parteiideen aufzusaugen oder umzugestalten, sie wieder
zu überzeugenden Wahrheiten zu machen. Noch fehlt es uns an einer wirklichen
Arbeiterpartei, die ihre Pflichten gegen den Staat begreift. Die Sozialdemokratie
einfach dafür zu nehmen, weil sie noch immer die Köpfe der Arbeiter beherrscht,
oder weil man auf ihre Mauserung vertraut, geht nicht an. Das bloße
Fäulnisprodukt des Unzufriedenheitsbazillus in Gestalt einer allgemeinen Theorie,
die ihre Bekenner nicht nur zu Feinden der bestehenden Staatsordnung, sondern
zu Feinden jeder vernünftigen Staatsordnung überhaupt macht -- das ist die
Sozialdemokratie --, kann wohl lange Zeit wie eine verheerende Krankheit in
den Massen wuchern, aber niemals auch nur den Anfang einer positiven Arbeits¬
leistung bilden, höchstens die Disziplinierung der Massen vorbereiten. Erst muß
die Regeneration der Arbeiterbewegung aus sich selbst eintreten, wofür bereits
Anzeichen vorliegen, dann wird man erst wieder von dem positiven Aufbau des
Arbeiterstandes reden dürfen. Immerhin bleibt der Weg zu einer modernen
ständischen Organisation als Möglichkeit vorgezeichnet, und daraus könnte sich
in einer Form, die sich jetzt noch nicht bestimmen läßt, sehr wohl eine Reorga¬
nisation unseres Parlamentarismus ergeben. Darauf hinzuweisen und an der
Hand der Schrift des Grafen Stolberg zum Nachdenken anzuregen, scheint mir
nicht überflüssig zu sein.




Zukunftsfragen des Parlamentarismus

zwischen diesem Druck, der als natürliches Ergebnis der politischen Ordnung
erscheint, und der theoretischen Gleichberechtigung aller Staatsbürger, die durch
dieselbe Ordnung verkündet wird, muß sich vor allem da geltend machen, wo
das Übergewicht des Kapitalismus am schärfsten fühlbar wird, d. h. am Prole¬
tariat. So ist die scheinbar paradoxe Lage entstanden, daß gerade das Leugnen
aller Klassenunterschiede, worauf unsere Staatsordnung beruht, den Stand, der
von allen der jüngste und modernste ist, veranlaßt hat, sich im schärfsten Klassen¬
bewußtsein zusammenzuschließen und sich als Todfeind der Staatsordnung zu
gebärden. Durch diese Erfahrung ist unser politisches Leben lange Zeit wie
hypnotisiert gewesen, so daß niemand den Ausweg ernstlich zu suchen wagte.

Der Ausweg kann meiner Überzeugung nach nur in natürlicher organischer
Entwicklung gefunden werden, indem man den Keimen gesellschaftlicher Neu¬
bildungen erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Diese bilden sich schon jetzt sichtbar
infolge des zum unabweisbaren Bedürfnis gewordenen Zusammenschlusses der
verschiedenen Erwerbsgruppen, in denen sich die Elemente neuer Stände dar¬
stellen. Nur soll man sich, wie ich glaube, hüten, diese Interessenvertretungen
schon jetzt als fertige Stände zu betrachten, und das ist es, was ich den Aus¬
führungen des Grafen Stolberg entgegenhalten wollte. Soweit sind wir noch
lange nicht. Noch sind diese neuen Interessengruppen nicht klar und fest genug
abgegrenzt; das zeigte sich auch in der künstlichen Einteilung des Grafen Stol¬
berg, der doch offensichtlich sehr scharf und gründlich darüber nachgedacht hat.
Noch haben sie nicht die Kraft, durch ihre Stellung zur Allgemeinheit und durch
neue Ideale die alten Parteiideen aufzusaugen oder umzugestalten, sie wieder
zu überzeugenden Wahrheiten zu machen. Noch fehlt es uns an einer wirklichen
Arbeiterpartei, die ihre Pflichten gegen den Staat begreift. Die Sozialdemokratie
einfach dafür zu nehmen, weil sie noch immer die Köpfe der Arbeiter beherrscht,
oder weil man auf ihre Mauserung vertraut, geht nicht an. Das bloße
Fäulnisprodukt des Unzufriedenheitsbazillus in Gestalt einer allgemeinen Theorie,
die ihre Bekenner nicht nur zu Feinden der bestehenden Staatsordnung, sondern
zu Feinden jeder vernünftigen Staatsordnung überhaupt macht — das ist die
Sozialdemokratie —, kann wohl lange Zeit wie eine verheerende Krankheit in
den Massen wuchern, aber niemals auch nur den Anfang einer positiven Arbeits¬
leistung bilden, höchstens die Disziplinierung der Massen vorbereiten. Erst muß
die Regeneration der Arbeiterbewegung aus sich selbst eintreten, wofür bereits
Anzeichen vorliegen, dann wird man erst wieder von dem positiven Aufbau des
Arbeiterstandes reden dürfen. Immerhin bleibt der Weg zu einer modernen
ständischen Organisation als Möglichkeit vorgezeichnet, und daraus könnte sich
in einer Form, die sich jetzt noch nicht bestimmen läßt, sehr wohl eine Reorga¬
nisation unseres Parlamentarismus ergeben. Darauf hinzuweisen und an der
Hand der Schrift des Grafen Stolberg zum Nachdenken anzuregen, scheint mir
nicht überflüssig zu sein.




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[0308] Zukunftsfragen des Parlamentarismus zwischen diesem Druck, der als natürliches Ergebnis der politischen Ordnung erscheint, und der theoretischen Gleichberechtigung aller Staatsbürger, die durch dieselbe Ordnung verkündet wird, muß sich vor allem da geltend machen, wo das Übergewicht des Kapitalismus am schärfsten fühlbar wird, d. h. am Prole¬ tariat. So ist die scheinbar paradoxe Lage entstanden, daß gerade das Leugnen aller Klassenunterschiede, worauf unsere Staatsordnung beruht, den Stand, der von allen der jüngste und modernste ist, veranlaßt hat, sich im schärfsten Klassen¬ bewußtsein zusammenzuschließen und sich als Todfeind der Staatsordnung zu gebärden. Durch diese Erfahrung ist unser politisches Leben lange Zeit wie hypnotisiert gewesen, so daß niemand den Ausweg ernstlich zu suchen wagte. Der Ausweg kann meiner Überzeugung nach nur in natürlicher organischer Entwicklung gefunden werden, indem man den Keimen gesellschaftlicher Neu¬ bildungen erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Diese bilden sich schon jetzt sichtbar infolge des zum unabweisbaren Bedürfnis gewordenen Zusammenschlusses der verschiedenen Erwerbsgruppen, in denen sich die Elemente neuer Stände dar¬ stellen. Nur soll man sich, wie ich glaube, hüten, diese Interessenvertretungen schon jetzt als fertige Stände zu betrachten, und das ist es, was ich den Aus¬ führungen des Grafen Stolberg entgegenhalten wollte. Soweit sind wir noch lange nicht. Noch sind diese neuen Interessengruppen nicht klar und fest genug abgegrenzt; das zeigte sich auch in der künstlichen Einteilung des Grafen Stol¬ berg, der doch offensichtlich sehr scharf und gründlich darüber nachgedacht hat. Noch haben sie nicht die Kraft, durch ihre Stellung zur Allgemeinheit und durch neue Ideale die alten Parteiideen aufzusaugen oder umzugestalten, sie wieder zu überzeugenden Wahrheiten zu machen. Noch fehlt es uns an einer wirklichen Arbeiterpartei, die ihre Pflichten gegen den Staat begreift. Die Sozialdemokratie einfach dafür zu nehmen, weil sie noch immer die Köpfe der Arbeiter beherrscht, oder weil man auf ihre Mauserung vertraut, geht nicht an. Das bloße Fäulnisprodukt des Unzufriedenheitsbazillus in Gestalt einer allgemeinen Theorie, die ihre Bekenner nicht nur zu Feinden der bestehenden Staatsordnung, sondern zu Feinden jeder vernünftigen Staatsordnung überhaupt macht — das ist die Sozialdemokratie —, kann wohl lange Zeit wie eine verheerende Krankheit in den Massen wuchern, aber niemals auch nur den Anfang einer positiven Arbeits¬ leistung bilden, höchstens die Disziplinierung der Massen vorbereiten. Erst muß die Regeneration der Arbeiterbewegung aus sich selbst eintreten, wofür bereits Anzeichen vorliegen, dann wird man erst wieder von dem positiven Aufbau des Arbeiterstandes reden dürfen. Immerhin bleibt der Weg zu einer modernen ständischen Organisation als Möglichkeit vorgezeichnet, und daraus könnte sich in einer Form, die sich jetzt noch nicht bestimmen läßt, sehr wohl eine Reorga¬ nisation unseres Parlamentarismus ergeben. Darauf hinzuweisen und an der Hand der Schrift des Grafen Stolberg zum Nachdenken anzuregen, scheint mir nicht überflüssig zu sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/308>, abgerufen am 29.12.2024.