Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Zukunftsfragen des Parlamentarismus
ZV. von lNassow von
(Schluß aus Heft S)

Wir werden also eines Tages vor das Problem gestellt werden, wie
wir in den der Volksvertretung verfassungsmäßig zukommenden Funktionen die
wahren Interessen der Gesamtheit und die im geistigen, sozialen und wirtschaft¬
lichen Leben wirklich ausschlaggebenden Kräfte besser zum Ausdruck bringen,
ohne das im modernen Bewußtsein liegende Recht des Individuums gegenüber
dem Staat ungebührlich einzuschränken. Ich glaube, wir werden die Lösung
nur finden, wenn wir uns erinnern, wie der Parlamentarismus in seinem
Mutterlande -- England -- historisch entstanden ist. Das englische Parlament
wurzelt ursprünglich in dem Aufbau der Gesellschaft, hat sich der Entwicklung
dieser Gesellschaft im wesentlichen angepaßt und ist noch heute -- abgesehen
von den Spuren des Eindringens neuer Doktrinen -- ihr verhältnismäßig
bester Ausdruck. Daher das merkwürdig feste und sichere Funktionieren dieses
Parlamentes, das neben der Gesetzgebung auch die Staatsverwaltung maßgebend
und entscheidend beeinflußt und in Staatssachen zugleich die höchste richterliche
Gewalt unmittelbar ausübt; eine Sicherheit, die auch dadurch nicht erschüttert
wird, daß die Vielseitigkeit der modernen Strömungen das alte feste Schema
des Parteidualismus längst aufgelöst und zersetzt hat. Die Körperschaft, die
in England die Staatsgewalt ausübt, ist eben einstweilen noch immer das
Abbild des Volkskörpers in seiner natürlichen Gliederung, wie sie sich in vielen
Jahrhunderten entwickelt hat. Die Staatsgewalt ist die Zusammenfassung der
vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte zu einer Willenseinheit. In den kontinentalen
Verfassungen hat man die äußere Form des englischen Parlamentarismus
kopiert und ihm eine neue Doktrin untergeschoben, aber die Kräfte, in denen er
wirklich historisch wurzelt, nicht erkannt. In Deutschland hat es nur einen
einzigen Staatsmann gegeben, der die Mitregierung des Volkes auf der
historischen Grundlage seiner natürlichen gesellschaftlichen Gliederung entwickeln
wollte; das war der Freiherr vom Stein. Aber ich erwähnte schon, daß eine
Wiederanknüpfung an diese Entwicklung nicht möglich ist, so sympathisch der
Gedanke auch sein mag. Für die Praxis ist das ein verschütteter Brunnen;
nur sür den denkenden Politiker bleibt es eine Erkenntnisquelle für spätere Zeiten.

Der Parlamentarismus hat in Deutschland einen Weg genommen, der nicht
über den Freiherrn vom Stein führt. Er entwickelte sich theoretisch auf Grund




Zukunftsfragen des Parlamentarismus
ZV. von lNassow von
(Schluß aus Heft S)

Wir werden also eines Tages vor das Problem gestellt werden, wie
wir in den der Volksvertretung verfassungsmäßig zukommenden Funktionen die
wahren Interessen der Gesamtheit und die im geistigen, sozialen und wirtschaft¬
lichen Leben wirklich ausschlaggebenden Kräfte besser zum Ausdruck bringen,
ohne das im modernen Bewußtsein liegende Recht des Individuums gegenüber
dem Staat ungebührlich einzuschränken. Ich glaube, wir werden die Lösung
nur finden, wenn wir uns erinnern, wie der Parlamentarismus in seinem
Mutterlande — England — historisch entstanden ist. Das englische Parlament
wurzelt ursprünglich in dem Aufbau der Gesellschaft, hat sich der Entwicklung
dieser Gesellschaft im wesentlichen angepaßt und ist noch heute — abgesehen
von den Spuren des Eindringens neuer Doktrinen — ihr verhältnismäßig
bester Ausdruck. Daher das merkwürdig feste und sichere Funktionieren dieses
Parlamentes, das neben der Gesetzgebung auch die Staatsverwaltung maßgebend
und entscheidend beeinflußt und in Staatssachen zugleich die höchste richterliche
Gewalt unmittelbar ausübt; eine Sicherheit, die auch dadurch nicht erschüttert
wird, daß die Vielseitigkeit der modernen Strömungen das alte feste Schema
des Parteidualismus längst aufgelöst und zersetzt hat. Die Körperschaft, die
in England die Staatsgewalt ausübt, ist eben einstweilen noch immer das
Abbild des Volkskörpers in seiner natürlichen Gliederung, wie sie sich in vielen
Jahrhunderten entwickelt hat. Die Staatsgewalt ist die Zusammenfassung der
vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte zu einer Willenseinheit. In den kontinentalen
Verfassungen hat man die äußere Form des englischen Parlamentarismus
kopiert und ihm eine neue Doktrin untergeschoben, aber die Kräfte, in denen er
wirklich historisch wurzelt, nicht erkannt. In Deutschland hat es nur einen
einzigen Staatsmann gegeben, der die Mitregierung des Volkes auf der
historischen Grundlage seiner natürlichen gesellschaftlichen Gliederung entwickeln
wollte; das war der Freiherr vom Stein. Aber ich erwähnte schon, daß eine
Wiederanknüpfung an diese Entwicklung nicht möglich ist, so sympathisch der
Gedanke auch sein mag. Für die Praxis ist das ein verschütteter Brunnen;
nur sür den denkenden Politiker bleibt es eine Erkenntnisquelle für spätere Zeiten.

Der Parlamentarismus hat in Deutschland einen Weg genommen, der nicht
über den Freiherrn vom Stein führt. Er entwickelte sich theoretisch auf Grund


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327772"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_327465/figures/grenzboten_341899_327465_327772_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zukunftsfragen des Parlamentarismus<lb/><note type="byline"> ZV. von lNassow</note> von<lb/>
(Schluß aus Heft S)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1469"> Wir werden also eines Tages vor das Problem gestellt werden, wie<lb/>
wir in den der Volksvertretung verfassungsmäßig zukommenden Funktionen die<lb/>
wahren Interessen der Gesamtheit und die im geistigen, sozialen und wirtschaft¬<lb/>
lichen Leben wirklich ausschlaggebenden Kräfte besser zum Ausdruck bringen,<lb/>
ohne das im modernen Bewußtsein liegende Recht des Individuums gegenüber<lb/>
dem Staat ungebührlich einzuschränken. Ich glaube, wir werden die Lösung<lb/>
nur finden, wenn wir uns erinnern, wie der Parlamentarismus in seinem<lb/>
Mutterlande &#x2014; England &#x2014; historisch entstanden ist. Das englische Parlament<lb/>
wurzelt ursprünglich in dem Aufbau der Gesellschaft, hat sich der Entwicklung<lb/>
dieser Gesellschaft im wesentlichen angepaßt und ist noch heute &#x2014; abgesehen<lb/>
von den Spuren des Eindringens neuer Doktrinen &#x2014; ihr verhältnismäßig<lb/>
bester Ausdruck. Daher das merkwürdig feste und sichere Funktionieren dieses<lb/>
Parlamentes, das neben der Gesetzgebung auch die Staatsverwaltung maßgebend<lb/>
und entscheidend beeinflußt und in Staatssachen zugleich die höchste richterliche<lb/>
Gewalt unmittelbar ausübt; eine Sicherheit, die auch dadurch nicht erschüttert<lb/>
wird, daß die Vielseitigkeit der modernen Strömungen das alte feste Schema<lb/>
des Parteidualismus längst aufgelöst und zersetzt hat. Die Körperschaft, die<lb/>
in England die Staatsgewalt ausübt, ist eben einstweilen noch immer das<lb/>
Abbild des Volkskörpers in seiner natürlichen Gliederung, wie sie sich in vielen<lb/>
Jahrhunderten entwickelt hat. Die Staatsgewalt ist die Zusammenfassung der<lb/>
vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte zu einer Willenseinheit. In den kontinentalen<lb/>
Verfassungen hat man die äußere Form des englischen Parlamentarismus<lb/>
kopiert und ihm eine neue Doktrin untergeschoben, aber die Kräfte, in denen er<lb/>
wirklich historisch wurzelt, nicht erkannt. In Deutschland hat es nur einen<lb/>
einzigen Staatsmann gegeben, der die Mitregierung des Volkes auf der<lb/>
historischen Grundlage seiner natürlichen gesellschaftlichen Gliederung entwickeln<lb/>
wollte; das war der Freiherr vom Stein. Aber ich erwähnte schon, daß eine<lb/>
Wiederanknüpfung an diese Entwicklung nicht möglich ist, so sympathisch der<lb/>
Gedanke auch sein mag. Für die Praxis ist das ein verschütteter Brunnen;<lb/>
nur sür den denkenden Politiker bleibt es eine Erkenntnisquelle für spätere Zeiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1470" next="#ID_1471"> Der Parlamentarismus hat in Deutschland einen Weg genommen, der nicht<lb/>
über den Freiherrn vom Stein führt.  Er entwickelte sich theoretisch auf Grund</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0306] [Abbildung] Zukunftsfragen des Parlamentarismus ZV. von lNassow von (Schluß aus Heft S) Wir werden also eines Tages vor das Problem gestellt werden, wie wir in den der Volksvertretung verfassungsmäßig zukommenden Funktionen die wahren Interessen der Gesamtheit und die im geistigen, sozialen und wirtschaft¬ lichen Leben wirklich ausschlaggebenden Kräfte besser zum Ausdruck bringen, ohne das im modernen Bewußtsein liegende Recht des Individuums gegenüber dem Staat ungebührlich einzuschränken. Ich glaube, wir werden die Lösung nur finden, wenn wir uns erinnern, wie der Parlamentarismus in seinem Mutterlande — England — historisch entstanden ist. Das englische Parlament wurzelt ursprünglich in dem Aufbau der Gesellschaft, hat sich der Entwicklung dieser Gesellschaft im wesentlichen angepaßt und ist noch heute — abgesehen von den Spuren des Eindringens neuer Doktrinen — ihr verhältnismäßig bester Ausdruck. Daher das merkwürdig feste und sichere Funktionieren dieses Parlamentes, das neben der Gesetzgebung auch die Staatsverwaltung maßgebend und entscheidend beeinflußt und in Staatssachen zugleich die höchste richterliche Gewalt unmittelbar ausübt; eine Sicherheit, die auch dadurch nicht erschüttert wird, daß die Vielseitigkeit der modernen Strömungen das alte feste Schema des Parteidualismus längst aufgelöst und zersetzt hat. Die Körperschaft, die in England die Staatsgewalt ausübt, ist eben einstweilen noch immer das Abbild des Volkskörpers in seiner natürlichen Gliederung, wie sie sich in vielen Jahrhunderten entwickelt hat. Die Staatsgewalt ist die Zusammenfassung der vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte zu einer Willenseinheit. In den kontinentalen Verfassungen hat man die äußere Form des englischen Parlamentarismus kopiert und ihm eine neue Doktrin untergeschoben, aber die Kräfte, in denen er wirklich historisch wurzelt, nicht erkannt. In Deutschland hat es nur einen einzigen Staatsmann gegeben, der die Mitregierung des Volkes auf der historischen Grundlage seiner natürlichen gesellschaftlichen Gliederung entwickeln wollte; das war der Freiherr vom Stein. Aber ich erwähnte schon, daß eine Wiederanknüpfung an diese Entwicklung nicht möglich ist, so sympathisch der Gedanke auch sein mag. Für die Praxis ist das ein verschütteter Brunnen; nur sür den denkenden Politiker bleibt es eine Erkenntnisquelle für spätere Zeiten. Der Parlamentarismus hat in Deutschland einen Weg genommen, der nicht über den Freiherrn vom Stein führt. Er entwickelte sich theoretisch auf Grund

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/306
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/306>, abgerufen am 04.01.2025.